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Slaaksgerichkshos und Volksbegehren
Leipzig, 2. Dez. In dem Streitverfahren der Landtags- fraktion der Deutschnationalen Volkspartei gegen das Land Preußen, betreffend das Volksbegehren, hat der Vorsitzende des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich Verhandlungstermin zur Hauptsache auf Dienstag, den 17. Dezember auf 10lL Uhr anberaumt.
Die Ansiedfung der Rußlanddeulschen
Berlin. 2. Dez. Die Reichsregierung hatte sich wegen der Ansiedlung der dsutschstämmigen Auswanderer an den Völkerbund gewandt, der grundsätzlich sich zu Hilfsmaßnahmen bereit erklärte und für die Ansisdlung der Auswanderer u. a. das französische „Mandat" Syrien Vorschlag. Da die Auswanderungsbewegung durch die zwangsweise Rückbeförderung des größten Teils der Auswanderer nach Sibirien wenigstens vorläufig auf ein kleineres Ausmaß sich beschränken wird, hat die Reichsregierung von Syrien abgesehen; das Augenmerk bleibt darauf gerichtet, den Auswanderern neue Heünstätten inCanada und B r asilien s zu ermöglichen und einen Teil von ihnen vielleicht auch in j Deutschland anzusiedeln. Die Regierung bleibt aber in der , Frage mit den Genfer Stellen in Fühlung. j
Die ersten russischen Auswanderer auf deutschem Boden f
Lydtkuhnen, 2. Dez. Kurz nach Mitternacht traf der erste Transport deutschstämmiger Bauern aus Rußland in Eydt- Kuhnen ein. Er bestand aus 244 Erwachsenen und 147 Kindern. Nach der Desinfizierung wurden die Flüchtlinge in die Schiafsäle geführt. Die Auswanderer besitzen außer der Kleidung, die sie tragen, nur noch Betten und Decken. Der erste Weitertransport nach Hammerstein über Marienburg trifft Dienstag früh in Hammerstein (Mesipr.) ein.
Der Gehall des Generaldirekkors der Reichsbahn
Berlin, 2. Dez. Gegenüber Pressemeldungen, wonach der >
Nagolder Tagblatt „Der Gesellschafter"
Generaldirektor der ReichÄxchn Dr. Dorp Müller ein Gehalt von 250 000 -K beziehen soll, wird festgestellt, daß das Gehalt Dr. Dorpmüllers etwa 100 000 Zt beträgt.
Politische Zusammenstöße
Darmskadk, 2. Dez. Zum Darmstädter Stahlhelmtag war aus Frankfurt a. M. eine etwa 250 Mann starke Gruppe erschienen. Als sie abends zurückreiste, entstand auf dem Bahnhof eine Schlägerei, wobei ein Kriminalbeamter durch Stockschläge übel zugerichtet wurde. Der Leiter der Kriminalpolizei, Regierungsrat B a ch, wurde durch einen Schlag im Gesicht stark verletzt. Auf telephonische Verständigung wurden die Stahlhelmleute nach ihrer Ankunft in Frankfurt am Bahnhof nach Waffen durchsucht, es wurde jedoch nichts gefunden. Die ganze Gruppe wurde festgenommen.
Alkenburg (Thüringen), 2. Dez. Nach einer nationalsozialistischen Versammlung kam es gestern zu einer Schlägerei zwischen Nationalsozialisten einerseits und jüdischen Einwohnern und Reichsbannerleuten andererseits. Cs gab eine größere Zahl Verletzter. Die Täter waren bis jetzt nicht zu ermitteln.
Besprechung Tardieus über die Ostreparakionen
Paris, 2. Dez. Ministerpräsident Tardieu hat gestern den volnifchen Botschafter und den rumänischen Außenminister Mironescu empfangen. Nack dem „Petit Journal" sollen sich die beiden Unterredungen auf die Regelung der Ostreparationen bezogen haben.
Verhaftung der Prinzessin Lieven in Moskau?
London, 2. Dez. „Daily Mail" berichtet aus Riga, Prinzessin Sofie Lieven», die Schwägerin des letzten Lordmayors von London, Sir Kynaston Studd, sei in Moskau verhaftet und von der G.P.U. nach dem Lubianka-Gefängnis gebracht worden.
Die Vorschläge des Reichsverbands der deutschen Industrie zur Wirlschasts- und Jssnanzreform 1929
Berlin, 2. Dez. Der Reichsverband der Deutschen Industrie übergibt der Oeffentlichkeit eine Denkschrift, die eine Vorlage für die außerordentliche Mitgliederversammlung des Reichsoerbands am 12. Dezember 1929 in Berlin darstellt:
In den letzten Jahren ist eine Politik befolgt worden, die keine Rücksicht auf die wirkliche Lage der deutschen Wirtschaft nimmt. Die Rücksicht auf die Macht der Parteien hat nicht die Kraft aufkommen lassen, Arbeit, Zins und staatliche Lasten in ein richtiges Verhältnis zu bringen. Die Produktionskosten sind in stärkerer Progression als die Produktion selbst gestiegen, was im besonderen auf die ungewöhnliche, über die Steigerung der Reparationsverpflichtungen hinausgehende Vermehrung des öffentlichen Finanzbedarfs (ohne die Beiträge zur Sozialversicherung 19,9 Milliarden RM. 1928 gegen 14,9 in 1925 bezw. 7,2 in 1913), auf die dementsprechend erfolgte starke Erhöhung der Steuerbelastung (13,2 Milliarden 1928 gegen 10,5 in 1925 und 4,0 in 1913) und schließlich auf die Üeberkreibung in der sozialen Gesetzgebung (5,3 Milliarden Beiträge in 1928 gegen 2,9 in 1925 und 1,2 in 1913) zurückzuführen ist.
Bei steigendem Lohn, steigender Skaakslask. steigendem Zins und finkender Renke wird der Punkt überschritten, wo die Erweiterung der Produktion noch einen Sinn hat» und die Folge dieser Entwicklung find Arbeitslosigkeit, Zusammen- brüche, Mangel an Absatz und eine bis zur Verdrossenheit gesteigerte aAgemeine Unzufriedenheit. Die deutsche Wirtschaft steht am Scheideweg. Wenn es nicht endlich gelingt, das Steuer umzulegen und der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eine entscheidende Wendung zu geben» dann ist der Niedergang der deutschen Wirtschaft besiegelt
Der Anstieg der Industrie und die Beschaffung von auskömmlichen Arbeitsplätzen für die Bevölkerung und di« Beseitigung der Arbeitslosigkeit kann nur aus der Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und eines frei schäftenden Gewerbe» erzielt werden. Die Denkschrift wendet sich daher gegen die Eingriffe des Staats, insbesondere auf
oem Gebiet der Lohnpolitik und des Schlichtungswesens. Uebertriebene Lohnerhöhungen werden mit der Arbeitslosigkeit anderer Arbeiter bezahlt. Eine Verbesserung der Lebenshaltung der breiten Masse ist nicht durch eine künstliche Einkommensausblähung ohne Steigerung der Produktivität zu erreichen, sondern nur auf dem Weg einer vermehrten kapikalbildung und einer Wiederherstellung der Rentabilität. Vor allem muß die Kapitalbildung gefördert werden, die auf kürzestem und sicherstem Weg dys neugebildete Kapital der Produktion zuführt; die Unternehmungen müssen über die Sicherung der Rentabilität hinaus Eigenkapikal bilden können.
Bezüglich des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft wird verlangt, daß die Eingriffe des Staats in der Wirtschaft ihre Grenze in der grundsätzlichen Anerkennung der Gewerbefreiheit finden, und daß die Betätigung der öffentlichen Hand im Wirtschaftsleben sich auf die Aufgaben beschränkt, die von der Individualwirtschaft nicht erfüllt werden können und sollen, wobei jedoch die öffentlichen Unternehmungen unter den gleichen Bedingungen zu arbeiten haben wie di« Privatwirtschaft. Die Zwangsbewirtschafkung der Wohnungen ist beschleunigt abzubauen.
Die Forderungen auf dem Gebiset der Steuerpolitik gehen vor allem auf eine fühlbare Entlastung von denjenigen Steuern aus, die die Kapitalbildung hindern oder kapitalzerstörend wirken (u. a. Gewerbesteuer, Einkommensteuer, .Hauszinssteuer, Kapitalverkehrssteuer usw., deren Aufhebung bzw. Herabsetzung verlangt wird). Schließlich wird ein Um- und Ausbau des Steuersystems in der Richtung einer stärkeren Anspannung der indirekten Steuer« ^besonders Verbrauchssteuern), sowie u. a. die Erhebung eines jeden treffenden kommunalen Verwaikungskostenbeikrags vorgeschlagen. Dadurch muß aber notwendigerweise eine Acnderung des bisherigen Finanzausgleichs erfolgen.
.^_Dienstag, 3. Dezember 192g.
! Württemberg
! Stuttgart. 3. Dezember.
! Die allen 50-Pfennigstücke. sind. wie berichtet, seit dem 1. Dezember außer Kurs gesetzt; bei den Reichs- und Landeskassen werden die Münzen bis zum 30. November 1931 ausgetauscht. — Die Stuttgarter Straßenbahn verweigerte unberechtigterweise schon am 30. November die Annahme der alten 50-Psennigstücks, was zu zahlreichen erregten Auftritten mit den Schaffnern Aylaß gab.
Die alten Fünfziger bestanden zu 91 v. H. aus Kupfer und zu 8A v. H. aus Aluminium, sie waren daher weich und von sehr geringem Metallwert, daher sie auch, namentlich in letzter Zeit, in ungeheuren Mengen von Fälschern nach- gemacht wurden. Geprägt wurden sie seit 1923.
Der Daldbesiherverband für Württemberg und hohen- zollern hält am 14. Dezember in Stuttgart seine 12. Jahresversammlung ab.
Die Weihnachlsausslellung Würkk. Lunslhandwerk ist I gegenüber der vorjährigen wesentlich reicher beschickt. Die Ausstellung findet im Staat!. Ausstellungsgebäuds, Kanzlei- straße 28, gegenüber dem Landesgewerbemuseum, statt. Sie ist werktags geöffnet von 9—12.30 und von 14.30—19 Uhr.
Münsingen, 2. Dez. Ein Krüppel heim auf Schloß Grafeneck. Das von Herzog Christoph erbaute und dann von Herzog Karl Eugen so gern bewohnte Schloß Grafeneck, Station Marbach a. L. OA. Münsingen, wurde nach den Plänen des Stuttgarter Architekten Richard Stahl erneuert und in ein Krüppelheim für 109 krüvpel- hafts und körperlich und geistig gebrechliche Männliche umgewandelt. Das neue Heim ist bereits bezogen. Träger der Krüppelfürsorge ist seit mehr als 43 Jahren die Samp- riterst iftung Stuttgart, die von Stadtpfarrsr Fischer, Stuttgart, Kanzleistr. 5, geleitet wird.
Tübingen, 2. Dez. Körperverletzung. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wollte ein Student mit dem am Kaufmann Roosschen Haus aufgestellten, dem Gärtner Karl Weimer gehörenden Rad davonfahren. A!s letzterer, der mit seiner Braut mit der Ausschmückung seiner Schaufenster beschäftigt war, auf das Vorhaben aufmerksam wurde und dagegen einschritt, schlug der Student mit einer leeren Sektflasche ihm mehrmals auf den Kopf, jo daß er eine schwere Wunde davontrug und vom sofort herbei- gerufenen Arzt verbunden werden mußte. ' i
Hausen OA. Blaubeuren, 2. Dez. KlosterUrspring verkauft. Das Kloster Urspring ist verkauft worden. Landrichter Rall hat, wie die Geislinger Zeitung berichtet, den Bewohnern von Klostergetäuden vererts gekündigt. Das wichtigste Gebäude, das Haus des Landrichters selbst, steht' zur Verfügung. Der nördliche Teil des Klosters, die Wohnung des Försters Mack, ist Staatseigentum; der südliche Teil, die Kundenmühle, ist Eigentum einer Genossenschaft. Zu dem Verkauf gehört auch noch die Kirche; was mit ihr geschieht, ist unbekannt. Käufer ist ein Nord-
> deutscher, der beabsichtigt, eine größere Schule für evange-
> lische Kinder einrichten zu lassen. Die Kaussumms mit ^ 180 000 Mark ist protokolliert.
i Pforzheim, 2. Dez. Die Beamten-Vauspär- ^ kasse „E w o". Die im September letzten Jahrs von ba- i dischen und württembergischen Beamten gegründete Be- ! amtenbausparkasse „Ewo" in Pforzheim, die dem deutschen « Beamtenwirtschaftsbund angehört und gleichzeitig Mitglied l des deutschen Beamten-Genossenschaftsverbands (Revisionsverband im Sinn des Genossenschaftsgesehes) ist, hat ihr erstes Ausgebot abgehalten. Trotz ihres kurzen Bestehens konnte sie bereits Z( 230 000 Daugelder zu 1 v. H. zuteilen. Dieses Ergebnis ist insofern sehr günstig, als ein Drittel der Genossen, die ihre Mindestbedingungen am 31. Oktober d. I. erfüllt hätten, befriedigt wurde. Für das nächste Ausgebot sind die Aussichten noch größer.
! Unaufgeklärtes Unglück. Zwischen Eutingen ! und Niesern stießen nachts Motorradfahrer aus der Straße ! auf einen Gegenstand und stürzten. Wie sich herausstellte..
! lag ein älterer Mann, der 65 I. a. verh. Goldarbeiter ^ Christoph Bauer von Niefern, mit gespaltetem Schädel tot auf der Straße. Es scheint, daß der Mann von einem Kraftwagen überfahren und hilflos liegen gelassen wurde.
Albert Schweitzer
Von Studien-Assi ssor Haa ' is. Nagold.
(Nachdruck verboten).
Am 3. Dezember verläßt ein Mann Europa, von dem wir in Deutschland und besonders in Württemberg des öfteren gehört baben. Es ist Albert Schweitzer, der zum dritten Mal nach Afrika geht, um dort wieder den Schwarzen als Arzt zu dienen. Durch die Vorträge, und Konzerte, die Alb. Schweitzer dieses Jahr hin und her im Land gehalten hat. sind weitere Kreise unseres Volkes endlich auf ihn aufmerksam geworden. Und wahrlich, es lohnt sich, dieses Menschenleben zu betrachten, das so eigenartig verlaufen ist.
„Ich wurde am 14. Januar 1875 in dem Städtchen Kay- strsberg im Oberelsaß geboren in dem Häuschen mit dem Türmchen am oberen Ausgang des Dorfes." So beginnt er, der Psarrerssohn, die Beschreibung seiner Jugend die er seinen Freunden in einem Büchlein „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit" gegeben hat. (Das Büchlein hat unter den Lesern Schweitzers eine solche Verbreitung gesunden, daß es schon in 6 Sprachen übertragen wurde). Schon bei dem Knaben begegnen uns einige bemerkenswerte Züge, die bestimmend werden sollten für sein späteres Leben. Nicht etwa, daß er ein besonders fleißiger Schüler ist, denn so, wie er seine Schulzeit beginnt, ist sie Jahre lang für ihn kein Vergnügen, ist er nie ein Stolz der Eltern und Lehrer, wie man es von allen Musterschülern erzählt. „Auf die Schulzeit habe ich mich nicht gefreut. Als mein Vater mir an einem schönen Oktobertag zum ersten Mal die Schiefertafel unter den Arm gab und mich zur Lehrerin führte, weinte ich den ganzen Weg lang. Ich ahnte, daß es mit dem Träumen und der herrlichen Freiheit zu Ende sei". Nicht Schulsleiß oder auffallende Begabung, sondern ein paar andere für Schweitzer bezeichnende Züge treten schon an dem jungen „Pfarrers Albert" hervor. Von dem Augenblick an. da ihm ein im Ringkamps unterlegener Bauernbub des Ortes ins Gesicht schleudert: „Ja, wenn ich alle Woche zweimal Fleischsuppe zu essen bekäme wie du, da wäre ich auch so stark wie du!" von diesem Augenblick an vermeidet er alles, was ihn, das Herrenbüole, von den Bauernkindern unterscheiden könnte. Die Eltern, die den wahren Zusammenhang nicht verstehen, verlangen vergeblich, daß er einen neuen Mantel, eine schöne Matrosenmütze usw. tragen soll. Lieber nimmt er Schläge und Einsperren im Keller in den Kauf, als daß der Junge sich abbringen läßt. Wie hier ein scheinbar kleines Ereignis seinen Gedankengang auf lange hinaus festlegt so auch in vielen anderen Fällen. So wird z. B. der durch Günsbach ziehende Viehhändler. Mauiche genannt, von den Buben des Ortes verspottet", geht aber gelapen seines Weges, nur manch-
mal dreht er sich um und lächelt verlegen und gütig zu uns zurück. Dieses Lächeln überwältigte mich. Von Maüsche habe ich zum ersten Mal gelernt, was es heißt, in Verfolgung stille zu schweigen. Er ist ein großer Erzieher für mich geworden. Von da an grüßte ich ihn ehrerbietig". Weil er gern und leidenschaftlich spielt als Kind, schlägt er einmal seine Schwester, die ihn allzuleicht hat gewinnen lassen. „Von jener Zeit an bekam ich Angst vor meiner Spielleidenschast und gab nach und nach alles Spielen auf. Eine Karte habe ich nie anzurühren gewagt". Auch seine Liebe zu den Tieren hat sich durch solche einzelne Gewissensimpulse, die ihn in seinem Jugendleben treffen, entwickelt und bedeutet später recht eigentlich ein Stück seines Lebens, seiner Weltanschauung. Ein paar Beispiele dafür aus seinen Aufzeichnungen: „Der Anblick eines alten hinkenden Pferdes, das ein Mann hinter mir herzerrte, während ein anderer mit einem Stecken auf es einschlug — es wurde nach Kolmar ins Schlachthaus getrieben hat mich wochenlang verfolgt". Phylax, der Hofhund, sein bester Freund, sucht immer den Briefträger, den er wegen seiner Uniform nicht leiden kann, anzufallen. Albert bekommt daher den regelmätzigen Auftrag, den Hund in Schach zu halten. Anstatt das nun in aller Freundschaft zu tun, treibt er ihn in eine Ecke, wobei er sich stolz als Tierbändiger vorkommt. Ist dieser Machtrausch verflogen, so klagt er sich an, daß er den Phylax unnötig geschlagen habe. Zweimal geht er mit anderen Knaben zum Angeln, dann kann er die Mißhandlung der aufgespießten Würmer und das Zerreißen der Mäuler der Fische nicht mehr mit ansehen, er bleibt weg. Der Ertrag dieser und einiger ähnlicher Erlebnisse ist die „Ueberzeugung, daß wir Tod und Leid über ein anderes Wesen nur bringen dürfen, wenn eine unentrinnbare Notwendigkeit dafür vorliegt, und daß wir alle das Grausige empfinden müssen, das darin liegt, dag wir aus Gedankenlosigkeit leiden machen und töten". Und in den „Mitteilungen aus Lambarene" erzählt der Fünfzigjährige: „Daß auch in den Wildesten der Weiden das Mitgefühl gegen die arme Kreatur geweckt werden kann, darf ich beim Setzen der Pfähle für das Spital erfahren. Ehe der Pfahl ins Loch kommt, sehe ich nach ob nicht Ameisen, Unken oder andere Tiere hineingeraten sind und hole sie mit der Hand heraus, daß sie nicht vom Pfahl zermalmt werden oder nachher beim Einstampfen von Stein und Erde zugrunde gehen. Denen, die mit mir am Werke sind, erkläre ich dieses Tun. Einige lächeln verlegen; andere lassen den so oft gehörten Spruch gleichgültig über sich ergehen. Eines Tages wird ein ganz Wilder, der mit mir Pfähle setzte, zu Frau Rußel abkommandiert und baut mit anderen Gebüsch um. Als dabei eine Kröte sichtbar wird, will sein Nachbar sie mit dem Busch- meyer erschlagen. Er aber fällt ihm in den Arm und entwik- kelt vor ihm und der aufhorchenden Mannschaft die Theorie,
daß die Tiere auch vom lieben Gott geschaffen seien, und daß dieser den Menschen, die sie gedankenlos quälen und töten, ein großes Palaver (Prozeß) machen werde. Dieser Wilde war der Letzte, von dem ich angenommen hätte, daß mein Tun und Reden beim Setzen der Pfähle ihm Eindruck machen werde" .
Neben dieser sittlichen Eigenart tritt bald zutage eine auffallende musikalische Begabung. Mit neun Jahren vertritt der kleine Albert den Organisten von Günsbach, den Vater Iltis, im Gottesdienst. Mit sechzehn Jahren darf er seinen Lehrer in Mühlhausen auf der Orgel vertreten und bekommt die Or- »,elbegleitung zu Brahms Requiem anvertraut. Er studiert dann in Straßbura Theologie, wird bald Lehrer an der Universität, schreibt theologische Bücher, nebenher gibt er Orgelkonzerte, besonders in Paris, kommt aber als Bachspieler z. B. auch nach Spanien. Bald schreibt er ein großes Werk über Bach, zuerst in französischer dann auf Aufforderung hin nach einer gründlichen Umarbeitung, auch in deutscher Sprache. Außerdem ist er Vikar an einer Straßburger Kirche und leitet ein paar Jahre lang ein Internat für Theologiestudenten in Straßburg.
Aus diesem ganzen reichen und zukunftsvollen Leben reißt er sich eines Tages los, um Medizin zu studieren und nach Afrika als Arzt zu gehen. Er schreibt über die Gründe, die ihn zu diesem außerordentlichen Schritt getrieben haben, in seinem Buch „Zwischen Wasser und Urwald": „Die Lehrtätigkeit an der Universität Straßburg, die Orgelkunst und die Schriststel- lerei verließ ich, um als Arzt nach Aequatorialafrika zu gehen. Wie kam ich dazu? Ich hatte von dem körperlichen Elende der Eingeborenen des Urwalds gelesen und durch Missionare davon gehört. Je mehr ick darüber nachdachte, desto unbegreiflicher kam es mir vor, oaß wir Europäer uns um die große humanitäre Aufgabe, die sich uns in der Ferne stellt, so wenig bekümmern. Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus schien mir auf uns geredet zu sein. Wir sind der reiche Mann, weil wir durch die Fortschritte der Medizin im Besitz vieler Kenntnisse und Mittel gegen Krankheit und Schmerz sind. Die unermeßlichen Vorteile dieses Reichtums nehmen wir als etwas Selbstverständliches hin. Draußen in den Kolonien aber sitzt der arme Lazarus, das Volk der Farbigen, das der Krankheit und dem Schmerz ebenso wie wir, ja noch mehr als wir unterworfen ist und kerne Mittel besitzt um ihnen zu begegnen. Wie Ser Reiche sich aus Gedankenlosigkeit gegen den Armen vor seiner Türe versündigte, weil er sich nicht in seine Lage versetzte und sein Herz reden ließ, also auch wir. — Von die>en Gedanken bewegt,, beschloß ich, bereits dreißig Jahre alt, Medizin zu studieren und draußen die Idee in der Wirklichkeit zu erproben,
(Schluß folgt).