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Mit den illustrierten Beilagen „Feierstunden" „Unsere Heimat", „Die Mode vom Tage".
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> jedem Werktage. — Verbreitetste Zeitung im j O.-A.-Bezirk Nagold. — Schriftleitung, Druck und ! Verlag v. E. W. Zaiser (Karl Zaiser) Nagold
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Mit der landwirtschaftlichen Wochenbeilage: „Hans-, Garten- und Landwirtschaft"
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Gegründet 1827
Freilag, den 28. Juni 1929
Fernsprecher Nr. 29
103. Jahrgang
Wir
28 . 6 . 19 — 28 . 6 . 29 Zehn Jahre Versailles!
„Im Jahre 1871", sprach Clemenceau, „mutzte ich mit eigenen Augen und mit zerrissenem Herzen Zeuge des Unglücks sein, das so schwer hereinbrach, datz die Wunde nie vernarben konnte." Als junger Abgeordneter hatte er die Ratifizierung des Frankfurter Friedens abgelehnt. ,'>0 Jahre hindurch war der Geist des „Tigers" Wille und Kraft jeder französischen Regierung. Nach 50 Jahren vollendete er sein Werk — grausam und furchtbar!
Ernst und unerbittlich drängt sich am Ende des ersten Jahreszehnts deutscher Leidensgeschichte die Prüfungsfrage auf: Haben wir uns von den Keulenschlägen betäuben lassen? Oder haben wir Deutsche in diesen zehn Jahren mit der inneren Kraft, die Schmerz und brennende Scham über erlittenes Unrecht und tägliche Demütigungen einem Volk von ungebrochener Gesundheit Zuwachsen lassen, um unsere Freiheit und unser Recht gekämpft?
Wer diese Frage nach der Führung und dem Ergebnis der amtlichen Außenpolitik des Reiches beantworten wollte, mutzte verzweifeln. Was haben wir erlebt? In keinem Augenblick eine mannhafte Tat, nirgends ein bis zum äußersten entschlossener Wille. Was ist geschehen, um den Freiheitswillen eines Volkes, das in seiner 1000jährigen Geschichte durch die schwersten Schicksale hindurch eine unerschöpfliche Lebenskraft und einen unzerstörbaren Freiheitsdrang bewiesen hat, mit allen Mitteln zu entfachen und mit unerschütterlicher Härte zu wappnen? Jede Regung der Empörung und Auflehnung wurde im Keim erstickt, das schlagende Gewissen der Völker durch unsere Zustimmung zu unmöglichen und unerfüllbaren Forderungen beschwichtigt. Wo ist eine Sehnsucht, eine Aussicht, die sich uns erfüllt hätte? Immer weiter ließen wir uns in das Versailler Netz verstricken, statt uns mit allen Kräften, die uns zur Verfügung stehen, daraus zu befreien.
Eine außenpolitische Führung der Schwäche und Unterwürfigkeit, eine Politik wider alle Natur und geschichtliche Erfahrung, die man „Realpolitik" zu nennen sich vermißt, treibt uns von Illusion zu Mißerfolg, von Fehlschlag zu Niederbruch und beraubt unser Volk aller moralischen und materiellen Mittel der Wiederaufrichtung. So verdoppelt sie die Uebermacht der Gegner, indem sie nicht einmal Gebrauch zu machen wagt von dem natürlichen Recht eines Volkes, Charakter zu haben, und gibt die Nation für die alles zu wagen und zu wollen ihre Aufgabe wäre, der Verachtung der Welt, unser Land immer neuen Zugriffen seiner Todfeinde preis. So bestätigte sie bis auf den heutigen Tag den Eindruck in der Welt, daß mit Drohungen von einer deutschen Regierung alles zu erreichen sei, das bittere Wort, das der Marschall Foch nach der ersten Unterhaltung mit unserem Bevollmächtigten zum Waffenstillstand äußerte: „Mit dem Finger am Abzug kann man von diesen Leuten alles erreichen!"
Erschütternd und niederschmetternd ist die Bilanz. Trotzdem sträubt sich alles in uns, das Todesurteil der Geschichte hinzunehmen: gewogen und zu leicht befunden. Niemand, der nüchtern die Weltlage prüft und das Ausmaß unserer Ohnmacht, unsere völlige Vereinsamung in der Welt und unsere völkische Zerrissenheit erkennt, wird den Mut aufbringen, leichtfertig vom „Wiederaufbau" zu reden. Aber den Glauben an die ungebrochene Gesundheit und die schöpferischen Eigenschaften unseres Volkes werfen wir trotz allem nicht weg. „Was Jahrhunderte allmählich vorbereitet, zerstört nimmer der Augenblick. Kein gewis- leres Resultat bietet uns die Geschichte, als daß in ihrem Verlauf jede Art von Tüchtigkeit sicher ihren Lohn gesunden, alles Untüchtige, Unnütze sicher seinen Untergang. Es wird nicht bloß ethischen Zwecken in der Welt gefragt, zuerst soll Gerechtigkeit werden allem, was sich auf Erden regt. Keine echte, wahrhaftige Kraft ist untergegangen bis auf diese Stunde in der Geschichte, wenn sie nrcht an seiger Verzweiflung stirbt".
Im Kampf um unser Recht überwinden wir die Stimmen der Verzweiflung. „Die Leute," von denen Marschall Foch sprach, werden nicht die Regierung von morgen sein, sind nicht das Volk von gestern und heute. In den Reihen seiner Besten und seiner Jugend ist der Wille zur Freiheit lebendig. Er lebt heute wie in der Stunde, da wir mit dem Ruf „Auf Wiedersehen" Abschied nahmen von dem Münster in Straßburg und der Kaiserpfalz in Posen, von Schleswig-Holstein „meerumschlungen" und ältestem deutschen Boden Schlesiens, von unseren Brüdern und Schwestern in Danzig und Eupen, an der Saar und an der Memel. Wir verzichten niemals. „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren!" Aus jeder Rechtsverletzung soll unser Widerstandswille neue Kraft schöpfen, mit jeder neuen Vergewaltigung unseres Lebensrechtes unbeugsamer werden. Heute wie vor zehn Jahren gelo
wollen frei fein!
ben wir: „Die Wunde dieses Friedensschlusses kann nie vernarben — sie soll nie vernarben", ist der Kampfruf unserer Arbeit: „Wir wollen keine neuen Ketten, auch nicht die goldenen Ketten des internationamen Finanzkapitals. Das deutsche Volk will keine neue Beschönigung, es will Wahrheit und Klarheit; es will nicht den Schein der Freiheit, es will die Freiheit selbst!"
Was wir wollen!
Am 28. Juni jährt sich zum 10. Male der Tag, an dem deutsche Männer, Ingrimm und Verzweiflung im Herzen, sich genötigt sahen, ihren Namen unter das Diktat von Versailles zu setzen, das niemand mit der ehrenden Bezeichnung eines Friedensvertrages benennen dürfte. Diktat, Zwang war alles: Diktat schon die Art, wie man auf der gegnerischen Seite die Beantwortung der unserer Friedensdelegation übergebenen Bestimmungen zum 29. Mai 1919 durchsetzte, Zwang die Vergewaltigung Deutschlands zur Unterzeichnung des Vertrages ohne Vorbehalt. So mußte denn schließlich die deutsche Reichsregierung am 23. Juni, „der übermächtigen Gewalt weichend, und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben", sich bereit erklären, „die von den Alliierten und Assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen."
Mitleidloser ist noch niemals mit Vertretern eines großen und bis dahin in aller Welt hochgeachteten Volkes umgegangen worden, als es in den düsteren Schicksalsta
gen des Juni 1919 geschah. Mit der herrischen Geste des Sieges hatten unsere Weltkriegsgegner schon für den Beginn der Pariser Vorfriedenskonferenz den für Deutschland hoch in Ehren stehenden Jahrestag der Gründung des Kaiserreiches, den 18. Januar, gewählt. Aufstieg Deutschlands und tiefstes Elend, sie sollten sinnfällig schon in der Wahl der Daten zum Ausdruck kommen. So mußte denn die Unterzeichnung des Vertrages am 28. Juni 1919, dem Tage des Mordes von Serajewo, und zwar in dem» selben Spiegelsaale des Versailler Schlosses stattfinden, der am 18. Januar 1871 die Eeburtsstunde des Deutschen Reiches erblickt hatte.
Zehn Jahre sind vergangen, und noch heute kennen die meisten Deutschen weder die Entwicklung der Dinge zum Vertrage von Versailles noch seinen wesentlichen Inhalt. Sie wissen es nicht, daß der Vertrag nach der ganzen Art seines Zustandekommens alle Merkmale der Erpressung aufweist, daß er somit für die Anerkenntnis einer Schuld am Kriege keinerlei wissenschaftliche, juristische oder moralische Bindung enthält. Nur ganz obenhin ist man im allgemeinen darüber unterrichtet, daß Deutschland sich im Artikel 231 des Versailler Vertrages dazu hat bekennen müssen, als Urheber für alle Verluste und Schäden des Weltkrieges zu haften.
Hand aufs Herz, meine deutschen Mitbürger! Wer von Ihnen weiß es, daß in der berüchtigten Mantelnote Cle- menceaus vom 16. Juni 1919 die Schuld Deutschlands wie folgt umschrieben ist: „Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Die schreckliche Verantwortlichkeit, die auf ihm lastet, läßt si ü in der Tatsache zusammenfassend zum Ausdruck bringen»
Versailles und die Jugend
Der zehnte Jahrestag der Diktaturunterzeichnung von Versailles gibt Anlaß zu der Untersuchung, von welchem Einfluß dieses Ereignis auf unsere Jugend war und bleiben wird. Unendlich viele unter unserer Jugend werden sich überhaupt nicht bewußt, daß der 28. Juni 1919 ihrem Leben Bahn und Richtung gewiesen hat. Auf die Jugend, die noch vor dem Feinde stand, hat Versailles in zweifacher Hinsicht eingewirkt: vielen nahm der Vertrag den letzten Hauch der Jugendlichkeit, denn man tötete die letzten Ideale, man zerbrach ihnen mit dem Inhalt dieses Instruments des Hasses zage Hoffnungen, die man in den Schützengräben nicht begraben. Dieser Teil der Jugend von 1919 wurde verbittert, sah sich verraten, mit Seele und Leib verkauft; er wurde mit einem Schlage alt, mürbe, zornig, hohnvoll oder unstät, ganz so, wie der Charakter des einzelnen diesen jähen Sturz aus dem Sonnenlichte höchsten Opfermutes in das Dunkel höhnenden Fragens, nach dem Zweck all der erlittenen Not ertrug. Aus dieser Jugend erwuchsen alte, gleichgültige Menschen, die den Kampf mit der nackten Lebensnot aufnahmen und die auf Worte wie Vaterland, deutsche Schmach und Wiederaufbauwille höchstens sarkastisch den Mund verziehen. Aber auch das ist ihnen meistens noch zu viel. Es gingen aus ihr hervor die Keimzellen schärfster Opposition, Ra- dikalisten, die zerstören müssen, weil sie, innerlich haltlos geworden, nach neuen Dingen suchen, um sich dem Leben wieder einfügen zu können. Mit ihnen erwuchsen die Zügellosen, die, weil nun doch alles gleich war, den bitteren Trank, den man ihnen bei der Heimkehr reichte, durch ungehemmte Lebenswollust versüßen wollen.
Den andern aber gab Versailles stahlharte Kraft. Auch sie haben ihrer Jugend entsagt, auch sie wurden über ihre Jahre hinaus alt, aber ihr früher Ernst umschloß den Willen zur Tat. Wenn deutsche Piloten die Ehre deutschen Namens in wagmutiger Tat über Lande und Meer tragen, wenn in den Jndustriewerken und Laboratorien der Geist der Organisation und zäher, zielstrebiger Arbeit über den Vernichtungswillen der Siegerstaaten triumphiert, wenn die Nacken im deutschen Ost- und Westland stch nicht beugen lassen, dann haben hieran die Männer ihr Teil, die ihre letzte Jugend im Zorn über das Diktat von Versailles hergaben, von deren Lippen das Wort erklang: und im Unglück nun erst recht. Es sind jene, die nicht klagen; die bei Geschrei, Gezänk und tönender Versprechung abseits stehen, aber mit den Händen unverdros- fen in den Speichen liegen, Richtung bergan ....
Und die Jugend, die innerhalb der Zeitspanne zwischen dem Tag von Versailles und dem Heute aufwuchs, die in der Kindheit Hunger und Beschränkung jeder Art kennen lernte, was hat sie mit dem Diktat zu tun? Diese Jugend hat im Blut das untrügliche Gefühl für deutsche Kraft, sie ist wie die Woge des Meeres, die schäumend darauf wartet, in wilder Kraft brausend an das Land zu stürmen. Doch sie ist gehemmt, überall gehemmt. Sie ist Sklave äußerer Umstände. Muß sich beugen gegen den Willen, immer wieder fronend beugen. Sie darf nicht nach ihren Nei
gungen fragen, wenn es gilt, einen Beruf zu erwählen» sondern nur danach, wo die Aussichten am günstigsten sind, im hastenden Wettbewerb, noch vor dem Vordermann den letzten Platz zu erlangen. Volk ohne Raum heißtJugend inNot. Wer nach seiner Neigung und Ererbtheit fich akademische Bildung erringen will, muß aus Geldgründen zum Kaufmann werden, steht unbefriedigt am falschen Platz; wer durch Mehrleistung sich ein besseres Fortkommen sichern will, muß bald erkennen, daß die Ueberzahl alles zur Nummer stempelt, wer in der Fremde sein Leben einsetzen will, erkennt schnell, wie die Sieger ihm auch hier im Wege stehen. Versailles hat nicht nur das deutsche Gebiet verkleinert, es hat auch die werktätige und händlerische Ausdehnungsmöglichkeit Deutschlands an allen Ecken eingeschränkt. Wie viel arbeitslose Jugend, die ungewollt auf den Weg des Müßigganges gebracht wird, die enttäuscht in dem Ringen um das Gute ermattet, sich dem Leichtsinn, der Zuchtlosigkeit in die Arme wirft. Doch nicht nur das Volk ohne Raum, das in seiner natürlichen Leistung unterbundene Geschlecht, schuf der Friedensvertrag, er fordert von Deutschland die Tribute und er verlangt von uns die Lüge. Die Tributzahlungen machen es bei aller wirtschaftlichen Leistung und Organisation unmöglich zu neuer Rentenbildung zu kommen, die Jugend steht also im Zeichen fortgesetzter Geldnot. Geldnot aber führt zu Ileberbewertung des Geldes. Auf Schritt und Tritt verfolgt unsere Jugend das Wort Geld, Verdienst. Geldnot bringt aber nicht nur für ein Land den übersteigerten Materialismus, er bringt ihm auch Kulturnot. Kultur, jenes Unwägbare, gemischt aus Geist, Grazie, Schönheit und leichtbeschwingter, freudereicher Lebensart. Heute ist alles schwer, grobumrissen, reklamegrell. Es gibt keine Träume mehr, denn Zeit ist Geld; alles ist Haß, Eier, Gedankenlosigkeit, Gereiztheit, Unzufriedenheit. Die Jugend aber will Kultur, so schlägt sie mit Worten und Taten, was sie umgibt, wird würdelos, treulos und lebt doch nur dem ungestümen Drang» wieder im Licht, wieder frei zu sein. Sie sehnt sich und nimmt kranke Formen an. — Das alles danken wir und dankt sie Versailles.
Versailles aber hat der Jugend noch zu anderem gedient, dazu, dem Bolschewismus die Tore aufzutun. Wer verfällt dem Wahne, dem großen Wort, dem Ruf „Zertrümmere!" leichter denn die Jugend! Radikalismus und Jugend sind verwandte Dinge, aber Jugend in Not und Radikalismus sind Geschwisterkinder. Versailles liegt der Jugend wie ein Mühlstein auf dem Nacken, aber sie will frei sein dieser Not, will Herr sein, und so vermeint sie über Blut und Unheil Hinstürzen zu müssen zu den Ufern, an denen die Welle sich ungehemmt in königlicher Freiheit brausend ergießt. Man drängt zum Licht und treibt doch, von der Versailler Knute gehetzt, ins Dunkle.
Und deswegen und trotz alledem:
Vater, auf Leben und Sterben, hilf uns die Freiheit erwerben: sei unser Hort!