Seite 2 — Nr. 131
Nagolder Tagblatt „Der Gesellschafter"
Freitag, 7. Juni 1928
Die Anfechtung der Landtagswahl vor dem Staatsgerichtshof
Oberftudiendirektor Baufer.Nagold, Rechtsanwalt Hagel»Stuttgart und Stud.-Nat Mergenthaler
die neuen Mitglieder des Landtags
^ Stuttgart, 6. Juni. Der Württ. Staatsgerichtshof trat heute vormittag im Sitzungssaal der früheren Ersten Kammer unter dem Vorsitz des Präsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Schm oll er zusammen, um zu den Anfechtungen der letzten Landtagswahlen durch die Volksrechtpartei, vertreten durch Oberstudiendirektor Bauser- Nagold, und die Nationalsozialisten, vertreten durch Rechtsanwalt Siegel-Geislingen, Stellung zu nehmen.
Der Württ. Staatsgerichtshof umfaßt 15 Mitglieder. Es sind außer dem Vorsitzenden folgende Herren erschienen: die Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Feyerabend, Heß und Sarwey. Oberlandesgerichtsrat Rau, Verwaltungsgerichtsdirektor Dr. v. Haller, Oberoerwaltungsgerichtsrat Geier, die Abg. Bock (Z.), Heymann (S.), Körner (BB.) Schneck (Komm.), Dr. Schumacher (S.), Rechtsanwalt Dr. Reis, Rechtsanwalt Dr. Schott und Landgerichtsdirektor a. D. Walter-Ellwangen. Als Protokollführer ist Oberrechnungsrat Mack anwesend.
Der vom Reichs-Staatsgerichtshof als gegen die Reichsverfassung verstoßend bezeichnete Art. 20 Abs. 2 des Württ. Landeswahlgesetzes hat folgenden Wortlaut: „Bei Zuweisung von Sitzen bleibt eine Wählerverelnigung unberücksichtigt, deren Bezirksoorschlagsliste nicht wenigstens in einem
Wahlbezirk ein Achtzigstel der im ganzen Land abgegebenen gültigen Stimmen (Wahlzahl) oder in vier Wahlbezirken je ein Achtel der Wahlzahl erreicht haben."
Geladen sind zur Sitzung die Antragsteller, Vertreter der in Frage kommenden Wählervereinigungen, sowie die Land- iagsabgeordneten, deren Wahl angefochten werden kann, nämlich die Abg. Hermann (Z.), Lückert (BB.) und Schepperte (S.).
Nach einer längeren Verhandlung zog sich der Staatsgerichtshof zu einer dreistündigen Beratung zurück, worauf der Vorsitzende folgendes Urteil verkündete:
Die Verkeilung der Abgeordnetensitze auf die Bezirks- vorjchlagslisten ist insoweit ungültig, als sie unter Berücksichtigung des Art. 20 Abs. 2 erfolgt ist.
»
Für die Ungültigkeitserklärung der Wahl überhaupt liegt somit nach dem Urteil des Staatsgerichtshofs kein Grund vor, dagegen haben die obengenannten gewachten Abgeordneten auszuschsiden. An ihrer Stelle werden der Volksrechtpartei zwei Sitze und der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei ein Sitz zuerkannt, und zwar Oberstudiendirektor Bauser und Rechtsanwalt Hagel-Stuttgart, sowie Studienrat Mergenthaler (Nat.-Soz.)
allenthalben versuche, aus Schleichwegen oder durch wirtschaftliche oder andere Machtmittel die Presse wirtschaftlichen und rein persönlichen, egoistischen Interessen dienstbar zu machen. Hierher gehören alle Versuche, reine Reklameartikel in die Zeitungen hineinzuschmuggeln, indem man ihnen den Anschein gibt, als handele es sich um ein offtnt iches Interesse. Es kommen hinzu alle gefährlichen Versuche, durch Androhung von Inseratenboykott ufw., die Zeitungen dem Willen einzelner geschlossener Mehrheiten gehorsam zu machen. Einzelne große Verbände scheuen sich nicht, angeblich rein wissensch östliche Korrespondenzen mit erheblichen Beträgen ins- geheim zu unterstützen, um aus diese Weise unter der Maske öffentlichen Interesses Reklame für ihre Er- Zeugnisse in die Presse einzuschmuggeln.
Zurückhaltung Briands in der Ranmungsfrage
Paris, 8. 3uni. Pertinax meldet dem Londoner „Daily Telegraph'. Briand habe im letzten Ministerrat erklärt, er werde bei den Besprechungen in Madrid, wo ja wohl die Rheinlandräumung zur Sprache kommen werde, äußerste Zurückhaltung wuhren. Briand werde daran festhalten, daß der „lleberwachongs- und Berföhnungsausfchuß" auch über das Jahr 1935 hinaus im Rheinland beibehalken werden müsse. Eine Denkschrift in diesem Sinn sei außer von Frankreich auch von Chamberlain vorbereitet worden. Es sei wahrscheinlich, daß über diese Frage eine besondere Konferenz einberufen werde-
Beginn der Ratstagung
Madrid, 6. Zuni. Die Teilnehmer an der Tagung des Bölkerbundsrats haben gestern der spanischen Regierung den üblichen Höflichkeitsbesuch abgesiattek. Heute vormittag 11.30 Uhr trat der Rat im Gebäude des spanischen Senats zusammen, um in geheimer Sitzung den Bericht des Dreier- ousschusses über die Minderheitenfrage und die deutschen und kanadischen Anträge hierzu in Beratung zu nehmen. Die deutsche Vertretung wird an den in ihrer Denkschrift vllfgestellten grundsätzlichen Forderungen festhalten.
Württemberg
Stuttgart, 6. Juni. Steuerliche Behandlung der Reichsanleihe von 1929. Von zuständiger Seite wird mikgeteilt: Auf wiederholte Anfragen über die steuerliche Behandlung der Reichsanleihe von 1929 wird aus dem Reichsfinanzministerium mikgeteilt: 3n der Einkommen- fieuererklärung wird lediglich nach dem steuerpflichtigen Einkommen, nicht dagegen nach den steuerfreien Beträgen ge- fragt. Infolgedessen brauchen die Zinsen der steuerfreien Reichsanlelhe von 1929 in der Einkommensteuererklärung als Kapitalerträge auch nicht abgegeben zu werden. Ebenso braucht ln der Vermögenserklärung die steuerfreie Reichs- onleihe wegen ihrer Vermögenssteuerfreiheik als Kapital- vermögen nicht angegeben zu werden. Unberechtigt sind auch die Befürchtungen, daß die Zeichnungslisten von den Finanzämtern eingeforderk werden können. ^
Vom Oberlandesgericht. Der Staatspräsident hat den Landgerichtspräsidenken Dr- F a b e r in Rolkweil seinem An- suchen gemäß auf eine Senatspräsidcntenstelle bei dem Oberlandesgericht versetzt, den Oberlandesgerichtsrat Gaupp zum Senatspräsidenten bei dem Oberlandesgericht und den Oberlandesgerichtsrat Koch zum Landgerichtspräsidenten in Rotiweil ernannt. Die Senatspräsidenten Dr. Feyerabend und Sarwey bei dem .Oberlandesgericht treten mit Ablauf des 31. Juli dieses Jahres kraft Gesetzes in den Ruhestand.
Kein Aufschwung am kaufmännischen Stellenmarkt- Auch der Mai brachte keine Aenderung auf dem kaufmännischen Stellenmarkk. Die seit Oktober v. 3- ständig gestiegene Stellenlosigkeit hat jetzt ungefähr den Stand von 1927 vor Einsehen der günstigen Wirtschaftskonjunktur erreicht. Der Rückgang der allgemeinen Arbeitslosigkeit scheint sich somit in der Hauptsache auf die Saisonberufe zu beschränken, die den kaufmännischen Stellenmarkt wenig berühren. Die Zahl der zum Monats- und Ouartalsende bzw. zu noch späteren Terminen ausgesprochenen Kündigungen übersteigt noch immer die entsprechende Zahl des Vorjahrs. 3n der Textilindustrie ist die Lage überwiegend recht ungünstig. Die Schuhindustrie neigt erneut zur Verschlechterung die Beschäftigung in der Metallindustrie ist uneinheitlich. Betriebsstillegungen, auftrekende Zahlungsschwierigkeiten und Konkurse waren wieder recht zahlreich
Gmünd, 6. Juni. P a ssi o n s sp i e l e. Im Gmünder Freilichttheater im Taubentai finden Freitag abend und Sonntag abend aus Anlaß der 1500. Christusdarstellung Hans Wilhelmys je eine Abendvorstellung statt.
Rottweil, 6. Juni. Ungetreuer Postbote. Das erweiterte Schöffengericht hat den am 23. April 1894 gev. Postboten David Seifritz von Schörzingen OA. Spa-" chingen wegen Amtsunterschlagung und Urkundenbeschädigung bezw. -Verfälschung im Amt zu der Gesamtstrafe von 7 Monaten Gefängnis verurteilt.
Aus Stadt und Land
Nagold, den 7. Juni 1929.
Man kommt zuletzt am weitesten, wenn man in allen Dingen sein eigenes Gehör befragt. Mörike.
*
Vom Rathaus
tSemeinderatsfitzung vom S. Juni 1V2S.
Anwesend: Der Vorsitzende und 14 Gemeinderäte.
Ortsabwesend: Die Gemeinderäte Bernhardt und Schmid.
Mitteilungen: Beim Brennholzverkanf aus der GSvhut am 4. ds. Mts. wurden erzielt: Für 16t Rm. Nadelholzprügel, 2643 gebundene Nadelholzwellen, 1935 Nadelholzwellen ungebunden in Flächen und 8 Rm. Schlagraum zus. 4261 Lss 60 — Ueber die Zeit des Urlaubs des Vet.-Rat Dr. Metz
ger ist Vet.-Direktor a. D. Dr. Kösler in Stuttgart auch Stellvertreter für die städt. Fleischbeschau. — Die Abrechnung vom Monat Mai über die Autoliuie Wildberg-Sulz-Herren-
berg zeigt das gleich günstige Ergebnis wie in den Vormonaten. — Die Gesamtausgaben für die Gesundheitsausstelluug des Deutschen Hygienemuseums in Dresden betragen 702 Mk. und 90 Pfg. An Eintrittsgeldern sind eingegangen 324 Mk. 85 Pfg., fodaß sich ein Abmangel von 378 Mk. 05 Pfg. ergeben hat, der zu 40°/» von der Allg. Ortskrankenkasse hier und 60«/o von der Stadtpflege zu decken ist. Die Ausstellung wurde nicht so stark besucht, wie erwartet werden konnte, besonders haben auch viele Schulen aus dem Bezirke gefehlt. Besonders anregend für den Ausstellungsbesuch waren die Borträge der Herren Aerzte. Ihnen sei wärmster Dank gesagt. — Dem Postboten Wilhelm Bernhardt in Baisingen ist der Kraftfahrbetrieb auf der Strecke Ergenzingen-Baisingen-Mötzin- gen-Nagold-Vollmaringen weiterhin bis 3l. Mai 1933 genehmigt worden.
Bau- und Straßensachen: In vergebe» sind 3 Lehrmiltelkästen, 1 Experimentierlisch und 1 Steinsammlungskasten. Eingegangen sind 10 Angebote, wovon allerdings 4 ungültig sind, t Angebot wurde offen abgegeben und 3 sind verspätet eingegangen. Die Angebote differieren beim Lehrmittelkasten zwischen 100 und 225 beim Experimentiertisch zwischen 105 und 286 beim Steinsammlungskasten zwischen 1 l2 u. 368 ^k. Nach der bisherigen Praxis wurven bei Submissionen die Ar beiten an den Mindestfordemden vergeben. Das Stadtbauamt macht darauf aufmerksam, daß um so niedcre Preise es unmöglich sei, eine meisterhafte Arbeit zu liefern und es sei offenbar nicht richtig kalkuliert worden Es erhebt sich die grundsätzliche Frage, ob inskünftig zum angemessenen Preis oder wie bisher zum Niederstangebot vergeben werden soll. Der Gemeinoerat hält in seiner überwiegenden Mehrheit an der bisherigen Praxis fest und erteilt den Zuschlag den niedersten, gültig abgegebenen Angeboten. Es wird aber unbedingt meistermäßige Ausführung verlangt, wofür jede Gewähr zu übernehmen ist. Das Stadlbauamt wird nicht einwandfreie Arbeit unbedingt zurückweisen und die Abnahme verweigern. — Zur Ausschmückung des Rathauses sollen einige Blumenbietichen beschafft werden. — Die .Derop" will auf dem Grundstück des Kronenwirts Mayer an der Freudenstädterstraße eine Benzinzapfstelle errichten. In stets widerruflicher Weil« wird von Seiten der Stadl derzeit nichts eingewendet unier Ansatz einer entsprechenden Anerkennungsgebühr. — Die Bewohner der Neuestratze bitten in einer Eingabe um Teerung der Neuestraße. Die Mittet reichen aber knapp aus, zur entsprechende Unterhaltung der Hauplverkehrs und Durchgangsstraßen. Es ist zwar in Aussicht genommen, auch die übrigen Onsstraßen in den nächsten Jahren zu teeien, aber voreist müssen sie zurückgesteüt werden. — Einem Gesuch um Verbesserung der Feldwegansfahrt beim Bahnwarthaus an der Emmingerstraße soll entsprochen weiden, wenn die Jnteiessen- ien neben den Fuh-leistungen einen 50°/oigen Beitrag leisten. — Die Brunnenleitung von der Oßwaldshalde weist infolge ihres Alters immer wieder Schäden auf, sodaß die Hauptanschlüsse mangelhaft versorgt sind. Die letzten Anschlüsse an diese Leitung sollen an die Hochdruckleitung angeschlossen weisen, sodaß die Stadt der ferneren Unterhaltung der Oßwalds- yaldeleitung enthoben ist.
Straßenverkehr: Der Vorsitzende berichtet, daß die nach dem Gemeinderatsbeschluß vom 14. November 1928 versuchsweise durchgeführte Sperrung der Waldschstraße von der Freudenstädterstraße her für Kraftfahrzeuge sich bewährt habe und esf soll nun ein definitiver Zustand geschaffen werden. Einer diesbezüglichen ortspolizeilichen Vorschrift erteilt der Gemeinderat seine Zustimmung. Weiter wird neuerdings, baupisächlich von fremden Fahrzeugen, der Metsterweg von der Freuden- städierstraße bis zur Linvachbrücke und umgekehrt befahren, obwohl beim Jnselsteg 2 Wohnhäuser die Straße vollkommen versperren und die Durchfahrt auf dem angrenzenden fremden Eigentum nicht ohne Gefahr ist. Einer ortspoiizeilichen Vorschrift, daß der Meisterweg in beiden Richtungen für den Durchgangsverkehr gesperrt ist, wird ebenfalls zugestimmt.
Steuereinzng : Von einer großen Anzahl Steuerzahler ist an der alten auf 1. April ds. Js .ganz verfallenen Steuer nichts oder nur ein Teilbetrag bezahlt. Nachdem auch die Oberamts- pflege Verzugszuschläge für rückständige Staatssteuern u. Amtsschaden wie bekannt erhebt, ist die Stadlpflege genötigt, den rückständigen Steuerpflichtigen mit Rückwirkung vom 1. April >929 ab Verzugszuschläge in Höhe von 10°/« pro Jahr anzusetzen. Weiter müssen auch für die lausenden Steuern Verzugszinse bezw. -Zuschläge in Höhe von ll)"/» nach Ablauf jeden Kalendervierteljahrs erhoben werden. Beim Vorliegen einer besonderen Härte kann der Steuerausschuß auf begründetes schriftliches Gesuch Ermäßigung oder Nachlaß der Verzugszinse im Einzelfalle eintreten lassen.
Zuruhesetzung des Stadtpflegers: Stadtpfleger Lenz ist seit 15. März wegen Herz- und Kopfleidens in Krankheitsurlaub, der leider die erhoffte Besserung nicht gebracht hat. Unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses bittet er um Zuruhesetzung auf 1. Juli d. Js. Nach Lage der Verhältnisse muß der Gemeinderat dem Pensionierungsgesuch entsprechen, so sehr er auch das Ausscheiden des verdienten Beamten be-
i
nokz-xbi „o« 3. sciEiveü-ssokRsii.
(Nachdruck verboten.)
(Fortsetzung 12)
Die klein Lore-Lies kam über den Weg gelaufen und blieb vor ihm stehen, iw beiden Händchen einen dicken Strauß Wiesenblumen festhaltend. „Hilf mir tragen, Onkel Max! — Ich verliere sonst viele", bat sie.
„Wem willst du sie bringen?" Er machte einen Schritt zur Seite, damit die Gräser nicht an seinen Aermel streiften.
„Großmutter! — Weißt du Onkel, Großmutter ist ganz allein in dem dunklen Zimmer, wohin die schwarzen Männer sie gelegt haben, und Vater hat gesagt, ich soll sie öfter besuchen gehen, das würde sie freuen".
Er nahm ihr, ohne es eigentlich zu wollen, einen Teil der Blumen ab, und ging neben ihr her durch das Tor, die Wiese entlang. Sie trippelte tapfer mit, obwohl er große Schritte machte. Ueber den kleinen schwankenden Steg, der den Fluß llberbrückte, hielt er sie fest, aber nicht an oem Händchen, das sie ihm zugestreckt hatte, sondern hinten an dem Halsausschnitt ihres Kleidchens. Die Wärme ihres Körpers drang durch seine Finger bis hinauf in seine Gelenke, weiter zu den Achseln und verursachte ihm ein wohliges Gefühl.
Er wußte nicht, wie das auf einmal kam. Aber in diesem Augenblick wünschte er sich ein Kind.
Vielleicht, wenn die Lore-Lies ihm einen Sohn oder eine Tochter geboren hätte! — Vielleicht! —
Der Steg war zu Ende. Die Kleine machte sich mit einem Ruck von ihm frei und begann zu laufen.
„Warte", rief er ärgerlich.
^Fang mich, Onkel Max! — Fang mich doch."
Wie flink die kleinen Füße waren! Trotzdem holte er sie mit einigen Sprüngen ein. „Siehst du, nun gehörst du mir wieder", lachte er.
„Wenn du so springen kannst, warum hast du dann Tante Lore-Lies nicht eingeholt?"
„Eingeholt?" —
„Die Kathrin hat heute früh zu Mama gesagt, sie wäre dir davongslaufen. — Ist sie fest gelaufen, Onkel?"
Er gab keine Antwort und das Kind erschrak, als es seinen finsteren Blick gewahrte. Schweigend ging sie die letzte große Strecke neben ihm her. Das kleine eiserne Tor des Friedhofes knarrte. Max von Ebrach war kein Freund von Gottesäckern. Alles machte ihn hier beklommen. Die Stille — das Säuseln der Zypressen — die vielen Kreuze — die Grabsteine mit ihren Inschriften. Jedes einzelne flößte ihm Grauen ein. Selbst der Gedanke, daß die Mutter nun hier lag, stimmte ihn nicht anders.
„Leg deine Blumen auf Großmamas Grab und komm dann wieder", sagte er kurz, „ich warte hier auf dich".
Lore-Lies sah ihn erstaunt an, nahm die Blumen aus seiner Hand und ging gehorsam den bekiesten Weg entlang.
Aber sie kam nicht mehr.
Er zog die Eisentüre auf und wieder zu und ließ sie ein paarmal knallend ins Schloß fallen. Das mußte sie doch hören. Alles blieb ruhig. Aergerlich scharrte er mit dem Fuß einen kleinen Hügel von Kies auf und machte ihn wieder glatt. Dann zählte er die Kreuze, die über die Mauer ragten, es waren ihrer weit über ein Dutzend. Zuletzt begann er zu pfeifen und brach jäh ab. Er fühlte das Ungehörige seines Tuns. Es war auch zu dumm. Er mußte sie holen.
Die kleine Kirche warf einen riesigen Schatten über die östliche Eräberseite. Er bog um die Ecke und ging den Mittelgang hinab, an welchem die Familiengruft der
Klingenberger lag, in welche man die Mutter gebettet hatte.
Auf der weißen Steinbank, die unter Rosen und Zypressen stand, saß eine Gestalt in sich zusammengebrochem die Schultern nach abwärts gebogen und den Kopf tief yerabgeneigt. Die kleine Lore-Lies kniete davor und suchte die Hände des weinenden Mannes herabzuziehen.
„Lieber Großpapa! — Lieber Großpapa!" hörte Max von Ebrach sie sagen.
Mit ein paar Schritten war er dort. „Vater!"
Der General ließ den Kops noch tiefer sinken und machte eine abwehrende Bewegung. Aber das Kind schlüpfte unter seinem Arm hindurch und drängte sich an ihn. „Komm heim zur Mutti, Großpapa! — Mutti hat dich so lieb. Sie sagt, man soll sich nie lange auf einen Stein setzen, sonst wird man krank. Und wenn du krank wirst, dann weint die Mama".
Max von Ebrach wandte den Blick ab, als der General den Blick hob. Er erwartete eine Flut von Vorwürfen, aber es kam nichts. Kein Wort! Lore-Lies legte das eine Händchen in das des Großvaters, mit der anderen ergriff sie die Linke von Max und führte beide durch das kleine verrostete Tor über die Wiesen und den Steg, hinüber nach dem Hause, wo der Vater bereits Umschau nach ihr hielt.
Er drohte mit der Hand, als sie zwischen den Männern aus ihn zuschritt. „Wenn du noch einmal so spät nach Hause kommst, gibt es Schläge".
Sie sah ihn furchtlos an. „Ich habe Blumen auf Großmamas Grab getragen," sagte sie entschuldigend. Und da habe ich den Großpapa gefunden und ihn mit nach Haus genommen. Er wird sonst krank auf dem kalten Stein .
Karl von Ebrach hob sie in seine Arme und drückte sie an sich. Sie schlang die Händchen um seinen Hals uns küßte ihn. ^ ^
In diesem Augenblicke neidete Max von Ebrach dem Bruder sein Vaterglück. (Fortsetzung folgt)