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Nr. 27
Gegründet 1827
Donnerstag, den 2 Februar 1928
Fernsprecher Nr 28
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Der Griff ins Wespennest
Reichs»linkster Dr. Stresemann hat im Reichstag am 3V. Januar den Mut zur Courage gezeigt: er hat einen Griff ins Wespennest getan. Ein deutscher Dichter sagte: „Greif niemals in ein Wespennest, doch wenn du greifst, so greife fest." Stresemann hat fest zugegriffeu, dos muH man ihm lassen. Es ist zwar nicht ohne ver- sched-sne Stiche französischer und anderer Wespen ab- gegangen. Auch Briand wird, wie aingekündigt wunde, den Stachel zeigen. Das schadet aber nichts: Unabänderliches schiebt man — trotz aller Rücksichten aus die verschiedenen Wahlen — nicht ungestraft auf die lange Bank, und in einer Zeit, wo in der angelsächsischen Welt hüben und drüben Gewitterspamrung herrscht, tst es zur Klärung der allgemeinen Lage nur nützlich, daran zu erinnern, daß Europas härteste außenpolitische Nuß, der Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich, noch lange nicht geknackt ft, trotz der „guten Beziehungen", die Herr Stresemann persönlich zu Briand und beide zu Chomberlain haben.
Jede Auseinandersetzung zwischen Stresemann und Briand stößt auf die grundlegende Tatsache, daß deutscher Friede und französischer Friede etwas himmelweit voneinander Verschiedenes bedeuten: daß beide Völker in puncto Frieden eine Sprache ftrechen, die genau soviel Aehnlichkeit hat wie - die Sprache der Eskimo mit der etwa der Zulukaffern. Was Stresemann über die Fortdauer der Besetzung des deutschen Rheinlands und über das „Stück Heuchelei" in dem Verlangen Frankreichs nach Sicherheit gegen Deutschland gesagt hat, trifft ins Schwarze des Friedensziels.
Sogar in der französischen Linken ist jüngst ein Kampf darum ausgefochten worden über die Frage der Räumung des Rheinlands. Die einen verstanden unter dem Wort Frieden „nur eine Waffenruhe, kaum einen Waffenstillstand, und zwar gespickt mit Kanonen und Gewehren, angreifend im Bedarfsfall, gebieterisch in jedem und immer beherrschend". Die andern nennen die Besetzung ebenso unnütz als ein unübersteigbares Hindernis für die deutschfranzösische Annäherung, wie jene andern an das Schicksalhafte des Rachekriegs glauben und deshalb das Gesetz zur Bewaffnung selbst der Säuglinge befürworten. Die dritten wollen Verhandlungen mit dem Zweck, ein möglichst gutes, d. h. für Frankreichs Sicherheit todsicheres Geschäft zu wachen. Der „Temps" (vom 3. Dezember 1927), den auch Stresemann anführte, hält es dagegen für „eine rechte knklugheit, zu blind auf den Friedeswillen eines Deutschlands ru vertrauen, das dabei bleibe, einstimmig feine Ver
antwortung an der Weltkatastrophe zu leugnen, einstimmig gegen das Schicksal zu protestieren, das ihm der Versailler Vertrag auferlegt hat, und das neun Jahre nach Schluß Her Feindseligkeiten noch nicht moralisch abgerüstet habe". Rheinland und Sicherheit sind für die Franzosen eng verbundene Begriffe: man lese den „Notschrei" — wie der Temps sich ausdrückt — des französischen Generals Hir- ichauer, der „für einen vollständigen Krieg eine ausgebildete Befestigung" will, um „das Schlachtfeld an der Grenze nnzurichten".
So ist die Stimmung drüben, und man kann sich denken, welchen Widerhall die Rede Stresemanns danach haben wird. Und dennoch sie war richtig und gut. Wir dürfen Frankreich keinen Augenblick darüber im Zweifel lassen, wie wik über die Rheinlandräumung und Sicherheitsfrage denken. Wir fühlen uns bedroht mit mehr Recht, denn unser Holzschwert der Reichswehr — so gerühmt sie im Ausland jetzt auch werden mag — ist ein Kinderspielzeug gegenüber der Bewaffnung in Frankreich. Wir haben nur das moralische Recht auf unserer Seite, das aus Grund des Völkerbundsstatuts die Abrüstung der andern fordert, weil wir vollständig abgerüstet sind, was bekanntlich die Voraussetzung für die Forderung war. Wir haben nach Locarno und seinen Folgen den Anspruch aus die Rheinlandräumung vor 1935 ohne Roßtäuschergeschäst. Achtzehn Monate der jetzigen Reichsregierung haben gezeigt, daß auch die Frankreich so verhaßten Deutschnationalen, die „deutschen Nationalisten", keine andere auswärtige Politik getrieben haben und treiben konnten, als Stresemann sie 1923 mit der Parole: „Annäherung an Frankreich, aber unter ehrenhaften Bedingungen und aus der Grundlage der Gleichberechtigung" anpackte und durchführte. W i r sind stetig geblieben bis heute, und Deutschlands Kredit in der Welt hat sich dadurch beträchtlich gehoben. Unser Weg ist — wenn Frankreich es so will — ein Schicksalsweg, denwir gehen müssen. Stresemanns Griff in das Wespennest war darum wobl- getan, mag man in Paris schreien und zetern. Es ist ganz, ganz allein an Frankreich, sich zu überzeugen, Laß die Probe auf das Exempel der deutschen Friedenspolitik durchs Rheinlandräumung und Abkehr von -er Sicherheitspsy- Hose glatt ausgeht. Ein Alp würde von Europa und von Ser Welt genommen werden, wenn man in Frankreich den Mut zu dieser Tat fände.
Stresemann verteidigt feine Politik
Deutscher Leichrtas
Berlin, 1. Februar.
Bei der Fortsetzung der zweiten Beratung des Haushalts des Auswärtigen Amts sagt der oberschlesische Abg, Pfarrer Ulitzka (Z.): Der Tadel des deutschnationale« Abgeordneten von Freytagh-Loringhoven sei mit der Zugehörigkeit zur Regierungskoalition nicht vereinbar, er sei eine glatte Abkehr von der Politik Stresemanns, die Hemmnisse gegen dessen Politik seien das Fortbestehen der Besetzung, die Verschleppung der Abrüstung und die unhaltbaren Zustände, die durch die neuen Grenzen im Osten entstanden sind.
Abg. v. Rheinbaben (D-Bp.): Seine Partei wolle aG warten, was ein anderer deutschnationaler Redner zur Rede Freytagh-Loringhcwens zu sagen habe. Abg. Rheinbaben Mt zu, daß das bisherige Ergebnis -er sogenannten La- rarnopolitik bis jetzt eine Enttäuschung sei. Wenn Dr. Stre» jemann d'v weiteren Sicherheitssorderungen Frankreichs «ne Heuchelei genannt habe, so sei damit die Tatsache des tiefen N-chtverfteheas gekennzeichnet, das immer zwischen beiden Völkern herrsche. Eine Abänderung der heutiges Grenzen im Osten sei nicht zu vermeiden. Dazu sei das berechtigte Verlangen Deutschlands Freiheit des Rheinlandes und Saargebiets, feste Verhältnisse zu Polen, Anschluß Oesterreichs und politische und militärische Gleichberechü- gung Deutschlands.
Abg. o. Lindeiner-Wilüau (Dn.) nimmt unter großer Spannung des Hauses das Wort. Abg. Ulitzka habe gefordert, daß die deutschnationale Fraktion eine Erklärung über die Rede des Abg. Freytagh-Loringhoven abgebe. Es sei selbstverständlich, daß die deutschnationale Frak- rion selbst zu bestimmen habe, ob, wann und von wem sie Erklärungen im Reichstag abgeben lasse. Die Worte Frey- taghs haben keinen Anlaß zu einer Kritik gegeben, wie sie Ulitzka und einige Blätter geübt haben, noch auch zu der Behauptung, daß sie eine» Verstoß gegen die Richtlinien der Koalition bilde. Er hat anerkannt, daß nach Lage der Dinge im Augenblick allein eine Politik friedlicher Verständigung möglich sei. Ueber die Methoden dieser Verständigung könne jeder seine eigene Auffassung haben. In Wirklichkeit habe Freytagh-Loringhoven nur die kritischen Bemerkungen zu den bisherigen Ergebnissen ausgenommen, die Dr. Stresemann selbst in noch viel schärferer Form gemacht habe und die auch Abg. von Rheinhahen übernom
men habe. Etwas anderes ' habe auch Abg. Freytagh- Loringhoven nicht gesagt, er habe also auch nicht gegen die Richtlinien verstoßen.
Abg. Frl. Dr. Bäumer (Dem.): Es könne nicht geleugnet werden, daß nicht nur in Deutschland, sondern bei allen aufrichtigen Freunden des Völkerbundsgedankens eine tiefe Enttäuschung über die Entwicklung der letzten Iah« herrsche, besonders hinsichtlich der Räumung mä> der Abrüstung. ,
Stresemanns Antwort
Die Abgy. Gras zu Reventlow (vökk.), v. Gräfe (völk.), Stöcker (Komm.) und Urbahns (Komm.) führen aus, die Politik Stresemanns sei aus Täuschung des deutschen Volks berechnet und werde zum Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft führen.
Außenministei, Dr. Stresemann
wendet sich gegen die Rede des Abg. v. Freytagh-Loring- hoven: Er könne diese Rede nicht ccks eine Ergänzung feiner (Stresemanns) Rede anerkennen. Die Deutschnationalev hätten die Locarno-Politik nicht etwa mit Einschränkung anerkannt. Ihr Vertreter Dr. Hoetzsch habe in Genf aufrichtig mitgearbeitet. Wenn Abg. v. Freytagh ein« Abkehr von der deutsch-französischen Verständigungspolitik fordere, so liege darin ein Gegensatz zu dieser Haltung seiner Fraktion. Es treffe nicht zu, daß diese Politik in eine Sackgasse geführt habe.
Den Rechtsgedanken im Völkerbund durchgusetzen, sei immer unser Bestreben gewesen. Der Locarno-Vertrag habe uns die Freiheit des Luftverkehrs und viele andere Erleichterungen gebracht. Deutschland ist schon um seiner Selbschrhaltung willen zu einer Politik zur Erhaltung des Friedens genötigt. Natürlich ist seit Locarno noch nichi jede Spannung beseitigt. Aber ich betrachte es als mein« Aufgabe, daran zu arbeiten. Darum kann ich auch an di« französische Adresse die Mahnung richten: Nun tut auch das Eure, daß die Idee von Locarno Gemeingut des deutschen Volks werden kann.
Ein französischer Senator hat gesagt, Deutschland Hab« durch den Versailler Vertrag das „modernste Heer bei Welt" bekommen. (Lachen.) Wir empfehlen allen Mächte« der Welt, sich ein modernes Heer dieser Art anzuschaffen (Sehr gut!) Die von französischer Seite gegen eine Rhein landraumung angeführten Gründe treffen nicht den Kern Ganz unverständlich» ist die Erkläruna. Deutschland müßt«
lagesspiezel
Das thüringische Gesamtminifierimn hat die von ver- schicdenen private« Seite« eingereichten Gnadengesache für de« Oberstaatsanwalt Frieders (Iriedlünder). der wegen Falscheids zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt worden P, abgelehnt.
Von den fünf verhafteten Reichswehrsuvkeru in Gieße« find drei freigelasseu worden.
Bei dem Untersuchungsrichter des Landgerichts Börnberg schwebt zurzeit eine Voruntersuchung gegen den gegenwärtig in Strafhaft befindlichen Kommerzienrat und früheren Konsul Guggenheimer wegen Anstiftung zum Mord. Guggenheimer soll einen Zellengenossen namens Molk, zuletzt Kaufmann i« Nürnberg, angestiftet haben, den antisemitischen Landkagsabgeordneken und Stadlral haupk- lehrer Julius Streicher gegen eine Entlohnung von 25 000 Mark aus dem weg zu schaffen. Diese Abmachung soll ein anderer Zellengenosse, ein Lehrer Amen von auswärts, mit angehörl haben.
Die englische Botschaft in konstanlinopel soll eine Nachricht erhalten haben, wonach in Södrußland die Bauern und die Anhänger Trotzkis sich gegen die bolschewistische Regierung erhoben haben sollen. Die krimhäfen seien von ben Behörden durch Minen geschlossen worden.
Line polnische Sonderabordnung, die mit der Sowjetregierung in Moskau über gewisse polnisch-russische und allgemeine Fragen verhandeln sollte, ist ergebnislos nach worscha« zurückgekehrt.
erst ' seine Enffchädigungsverpflichtuugen erfüllen. Di« Rheinlandbesetzung soll doch auch nach dem Berfailler Vertrag nicht solange dauern, bis die letzte Million bezahlt ist Wenn aber Frankreich die Fortdauer der Besetzung als einen Machffaktor betrachtet, so wäre nicht zu verstehen, daß es diesen Machffaktor für irgendeine Gegenleistur»« doch aus der Hand geben will. Wir hoffen, daß die testenden französischen Kreise zu der Einsicht kommen, daß ein« schnelle Räumung des Rheinlands die allerbeste Wirk««« für die Verständigungspolitik haben würde. Ls ist nicht z« verkennen, daß der Gedanke der Verständigungspolitik sÄ der Bildung der jetzigen Regierung im deutschen Volt wesentliche Fortschritte gemacht hat. Dieses wachsende Verständnis wird nicht erschüttert werden durch eine parlamentarische Entgleisung, wie wir sie gestern hier erlebt haben. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, bald die letzten Hemmnisse zu beseitigen, die einer wirkungsvollen Zusammenarbeit mit Frankreich an dom Werk des Weltfriedens noch entgegenstehen. (Beifall.)
Nach einer weiteren kurzen Aussprache, an der sich -st Abgg. Dr. Breitscheid (Soz.), Dr. Wirst» (Zkr.) und Dr Schnee beteiligten, wird ein kommunistischer Mißkrauens- ankrag gegen Dr. Stresemann mit den Stimmen -er Antragsteller und der Völkischen abgelehnt.
Kommt -ie Versuchsanstalt für Luftfahrt nach Stuttgart?
3m Haushattsausfchuß -es Reichstags unterstützte bei d« Beratung -es Verkehrsetats der Abg. Ersing (Z.) den Antrag auf Beihilfen für den Bau der Rheinbrücken. Da« Angebot Stuttgarts, die Versuchsanstalt für Luftfahrt dorthin zu verlegen, ersuche er zu erwägen.
Leveste Uachrichkev
Bauernvereine beim Reichskanzler Berk«, 1. Febr. Heute vormittag um 11 Uhr hat eine Abordnung von 27 Bauernvereinen beim Reichskanzler vorgesprochen, um ihm die Wünsche und Entschließungen vor- Zuträger» welche sie gefaßt haben. Die Besprechung dauorte längere Zoll.
Veröffentlichung der Städtehaushalte Berlin, 1. Febr. Der Borstand des Deutschen Städie» tags hat beschlossen, in regelmäßigen Zwischenräumen,, zunächst vierteljährlich, ausführliches statistisches Material zu veröffentlichen, das der OesfenÜichkeit ein Urteil über die Finanzgebarung der Städte ermöMchen soll. Es ist beabsichtigt, in diesen Veröffentlichungen eingehende Nachweise über Len jeweiligen Stand der kurzfristigen und langfristigen Verschuldung zu geben. Dabei sollen auch Angaben über die Verwendung der Anleihemittel gemacht werden, insbesondere darüber, welche Beträge endgültig verausgabt sind, in welchem Umfang noch Restmittel aus den Anleihen zur Verfügung stehen. Weiter sollen Ausstellungen über die Entwicklung der Steuereinnahmen -er Städte in einer statistischen Beilage des „Städtetag" (der Mitteilungen des Deutschen Städtetags) veröffenlicht werden.
Einberufung des Landwirffchaftsrates Berlin, 1. Februar. Der ständiae Ausschuß des Deutschen Landwirffchaftsrates, der gesetzlichen Berufsoertre- tuna -er deutschen Landwirtschaft, ist angesichts der scharfen Krise in der Landwirffchost zu einer Vollveffammlung am 12. Februar befcksieunigt einberusea worden.
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