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Nr. 27S

Gegründet 1827

Donnerstag, den 24. November 1927

Fernsprecher Nr. 2»

101. Jahrgang

Mulert gegen Schacht

Berlin, 23. November. In einem Artikel der Zeitschrift Slädtetag" bestreitet der Vorsitzende des Deutschen Städte­tages, Dr. Mulert, daß von den Ausländsanleihen der Städtekein Dollar, kein Gulden und kein Pfund" für unproduktive Zwecke ausgegeben worden sei (?), entgegen der Behauptung des Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht. Die mit Ausländsanleihen geschaffenen Werte hätten zu einerEntlastung" der Steuerzahler geführt. Die Stadt- anleihe'n machen überdies nur 10 v. H. der langfristigen Gesamtauslandanleihen aus; von 1924 bis heute seien von den großen Städtennur" 2300 Millionen langfristige Aus­landanleihen ausgenommen worden, um 100 bis 200 Milli­onen jährlich weniger als in der Vorkriegszeit. Die Be­lastung der Stadthaushalte durch Anleihen mache nur 0,5 o. H. aus. Für Neuanlagen seien von den 42 deutschen Großstädten in den Jahren 1925/27 104,05 Millionen auf- gewendet worden. Dieüberflüssigen Luxusausgaben", die Dr. Schacht getadelt habe, hätten in Wirklichkeit"der Be­friedigung der Bedürfnisse der Allgemeinheit" gedient. Ge­gen die von Dr. Schacht geforderte Ueberwachung des Fi­nanzwesens der großen Städte müssen sich die Städte auf­lehnen. *

Dr. Mulert scheint Wert daraus zu legen, daß die Luxus­bauten usw. der großen Städte nicht unmittelbar mit dem fremden Geld bezahlt worden seien. Es ist aber doch ziemlich gleichgültig, ob die Ausgaben mitDollar» Gulden und Pfund" oder mit der Reichsmark der Steuerzahler be­stritten wurden. VonBedürfnissen der Allgemeinheit" wird man wohl auch nicht sprechen können bei Sommer- Schneeschuhbakmen. Weltrekord-Stadions oder Unter-

Der Zuschußbedarf der

Nach den Mitteilungen des Statistischen Reichsamts betrug der gesamte Zuschußbedarf der öffentlichen Verwal­tung von Reich, Ländern und Gemeinden d. h. der Teil der öffentlichen Ausgaben, der durch Steuern, Zölle, Be­triebsüberschüsse und sonstige Vermögensbeträge gedeckt wird im Lshr '1913 für das jetzige Reichsgebiet 5400 Millionen Mark oder 93,56 Mark auf den Kopf der Be­völkerung, im Rechnungsjahr 1925/26 dagegen 11 900 Mark oder 190,2 Mark auf den Kopf. Der Zuschuhbedarf ist somit um nicht weniger als 6500 Millionen oder um 103,3 v. H. gestiegen. In den Mehrausgaben find allerdings 1800 Millionen Versorgungsgebühren von Krieo«te!s.n>'1'mern und 900 Millionim ö"9-re

neymungen wie vie verfehlte Stuttgarter Stadthalle, ütz« 600000 Mark ode«- die ebenso verfehlte Werkbundausstel­lung, die 1,5 Millionen gekostet hat. Daß in unserer armuv Zeit die öffentliche Bautätigkeit auf dem richtigen Wege A wenn sie der Wohnungsnot durch Einfamilienhäuser auf dem übermäßig teuren städtischen Grund abhelsen will, wird man füglich auch nicht behaupten können. Auf diese Weise kommt man aus der Wohnungsnot überhaupt nicht' mehr heraus,, aber immer mehr in Schulden hinein, na­mentlich, wenn diese Einfamilienhäuser unter Selbstkosten abaeaeben oder vermiet et werden.

Gefährliches Spiel Polens

Riga, 23. Nov. Das Blatt der lettischen Sozialdemv- kratenSoclalöemokrats" warnt die litauischen Sozial­demokraten und Flüchtlinge, mit Polen Techtelmechtel M machen und seine Hilfe zum Umsturz in Litauen anzustrebea. Wenn Polen diese Hilfe gewähren würde, so würde es biß Flüchtlinge nur als Aushängeschild benützen, um sich tauens zu bemächtigen. Auf. dieses Ziel arbeite Polen forö- zesetzt hin, denn es wolle in den ganzen Besitz der Ojffe»- küste von Danzig bis Riga kommen, und es untc'dalte in Wilna UeberfallkommandoS. Selbstverständlich wer?e näm­lich Polen nicht an der Südgrenze Lettlands haltmachen, wenn es Litauen verschluckt hätte, sondern es würde in sei­nem grenzenlosen Ehrgeiz und seiner Ueberhebung sich auch in den Besitz Lettlands zu setzen suchen. Es sei leicht ein- zusehen, daß dann Deutschland und Rußland sich in Be­wegung setzen würden. Das Ende wäre ein großer Krieg im Osten und vielleicht in Europa und Litauen würde der Schauplatz blutiger Kämpfe sein.

öffentlichen Verwaltung

die mit der Besetzung oder sonst mit dem Krieg Zusammen­hängen, enthalten. Andererseits ist aber der Zuschußbedarf für die Wehrmacht 1925/26 auf 625 Millionen zurück­gegangen gegen 1700 Milstonen in 1913 Die größte Stei­gerung weisen die Soziallasten auf: Zuschuß 1913 570 Millionen. 1925 2840 Millionen, also 2300 Millionen mehr. Der Zuschuß für Volks- und Fortbildungsschulen beträgt 1200 Millionen (490 Millionen mehr als 1913), oberste Äaatsorgane und allgemeine Verwaltung 670 Millionen, Polizei 650 Millionen (450' Millionen mehr), Verkehrswesen einschließlich Straßen, Wege und Wasser­straßen 750 Millionen.

Unter Vorsitz von Rerchsvorkehrsnrnister Dr. Loch fand zwischen einer Anzahl von Reichstagsabgeokdneten und dem Generaldirektor Dr. Dorpmüller, nebst den leitenden Per­sönlichkeiten der Deutschen Reichsbahngesellschaft eine Aus­sprache statt. Dabei wurde die augenblickliche und die für 1928 zu erwartende finanzielle Lage der Deutschen Reichs­bahn in Verbindung mit der Besoldungsreform eingehend erörtert.

Nach dem B.T. ist der neue Finanzierungsplan für das Liquidakionsfchädengesetz dem Reichstag zuge­gangen. Der neue Plan hält insofern an der früheren Ai- nanzierungsabsicht fest, als die Zinsen aus den Lisenbahn- oorzugsaktien zur Tilgung der vorgesehenen Schuldbuchver­schreibungen verwendet werden sollen. Da aber eine solche Tilgung zu langsam erfolgen würde, werden auch Mittel aus dem laufenden Haushalt herangezogen, so daß also der neue Finanzierungsplan auf einem gemischten System beruht.

Der 75jährige hessische Staatspräsident Ulrich (Soz.) ist altershalber zurückgetreken. Er ist 75 Jahre alt.

Die Dauerbauausstellung wird im Jahr 1930 in Berlin eröffnet werden.

Me englische Anregung zu einer neuen Flokkenabriistungs- konferenz wurde in Washington kühl ausgenommen. Man läßt dnrchblicken» daß England dnrch sein wirkliches oder scheinbares Einlenken nur den amerikanischen Kongreß we- »iA» geneigt machen könnte, die Forderungen der amerikani­schen Flokkeuverstärkung zu bewilligen. Das wird ja wohl auch der Zweck -es englischenEinlenkens" gewesen sein.

Die Bereinigten Stücken lassen sich auf der Genfer völ- krbündlichen Vorbereitungs-Abrüstungskonferenz durch den Sesandken in Bern Hugh Wilson vertreken. Er hat die Weisung, an den Sitzungen des Sonderausschußes für die politische" Abrüstung sich nicht zu beteiligen, da diese Fragen Amerika nicht berühren. Wilson wird auch keine militäri­schen Sachverständigen haben. 3n Paris befürchtet man. daß der teilnehmende russische Vertreter die Beratung einer Wirklichen Abrüstung verlangen könnte.

Amerikas Zucht

vor demamerikanisierten" kurapa

Amerika erkennt allmählich in den Zusammenschlüssen von Industrien in Europa zunächst innerhalb der einzelnen Länder und jetzt von Land zu Land eine steigende Gefahr für seine industrielle Sicherheit und für die während des Kriegs und seitdem so unverhofft ihm in den Schoß gefalle­nen Märkte, auf die es nachgerade ein Monopolrecht er­worben zu haben glaubt. Als es im vorigen Jahr mit dem Stahl ailfing, lachte man noch, denn man hielt den Vor­sprung vor Europa für so groß, daß an ein Einholen nicht gut gedacht werden mochte. Nun kommt aber mit dem Chemikalien- und Farbenkartell zwischen Deutschland, Frankreich und England eine ernstere Note in die Zukunftsbetrachtungen, und man erinnert sich plötzlich, daß auch schon ein Aluminiumabkommen zwischen Deutsch­land, Frankreich, England, Oesterreich, Norwegen und der Schweiz besteht, daß die deutschen und englischen Schiffs­gesellschaften eine teilweise Verständigung erreicht haben, und daß schon Schritte unternommen worden sind, um die Elektrizität und die Textilien über weite Gebiete hin unter einen Hut zu bringen. Diese Aeuherungen wirtschaftlicher Vereinigungskräfte werden nun in Amerika mit eimmmal argwöhnisch beobachtet, und man wittert hinter ihnen Un­rat, wenn man sich auch noch nicht ganz klar oder einig darüber ist, ob sie lediglich wirtschaftlich zu wer­ten sind oder ob ihnen Mr eine politische Bedeutung zukommt. Mit den wirtschaftlich vereinigten Staaten von Europa hofft man fertig zu werden oder sich auf alle Fälle mit ihnen absinden zu können; ein etwaiger politischer Beigeschmack dagegen würde alarmierend wirken. Die De­mokraten in Amerika reiben sich schadenfroh die Hände und finden diese Vergeltungspolitik ganz in der Ordnung: die Republikaner dagegen sind ob dieser Amerikanistenmg Euro­pas entweder beunruhigt, oder sie halten sie für anmaßlich und ungebührlich.

DieNew Port World" erkennt in den Zusammen­schlüssen der letzten zwei Jahre den Widerschein eines neuen europäischen Geistes und nennt das Chemiekartell einZeichen von Paneuropäismus". Die Absicht der betei­ligten europäischen Länder gehe dahin, die an Amerika verlorenen Märkte zurückzugewinnsn, und das sei eine Sache, di? Amerika erheblich angehe. Seine heimische Erzeugung übersteige den heimischen Verbrauch, und um die gegenwärtige Erzeugung aufrechtzuerhalten, müsse ein Aus­laß für den Ueberfchuß gefunden werden. Dabei aber werde Amerika in steigendem Maß den Wettbewerb eines wirt­schaftlich geeinigten Europas finden. Bei der Ueberfülle natürlicher Hilfsquellen und flüssigen Kapitals möge Amerika diesen Wettbewerb erfolgreich abwehren. Aber eines sei sicher: So bequem wie bisher werde es 'Amerika nicht mehr haben; seine Stärke habe ihm neue Bürden aukerleat.

DieNew Port Times" nennt die Bewegung eine Her­ausforderung, die an die amerikanischen Gehirne gerichtet sei, und sie ist sicher, daß Amerikas chemische Industrien, die wie junge Riesen aufgesprungen sind, mit Europa Schritt halten können, wenn sie fortfahren, in ihre Unternehmungen die rechte Mischung von Kapital und Gehirn zu stecken. Nach der Ansicht des NeuworkerJournal of Commerce" ist es die Absicht des neuen Kartells, Amerika von verschiedenen fremden Märkten zu verdrängen. Die europäischen Angriffe müßten durch solche Methoden der Verteidigung oder der Wiedervergeltung, die wesentlich oder unabweisbar scheinen, abgeschlagen werden; wenn nötig, müsse man Feuer an­wenden. um Feuer zu bekämpfen.

Diesen Angstrufen lassen sich andere an die Seite stellen, die mehr Zuversicht atmen. Die Hearstblätter glauben nicht, daß der europäische Chemietrust die jugendliche, aber mann­hafte und unternehmungslustige amerikanische Industrie er­sticken werde.

Die Liste wäre nicht vollständig, wenn nicht auch der Minister Garvan zu Wort käme, der als Verwalter des beschlagnahmten deutschen Eigentums die deutschen Pa­tente an seine Chemical Foundation und damit an sich selbst verschleudert und so den eigentlichen Grund zu der heutigen chemischen Größe Amerikas gelegt hat.Gibt es einen Amerikaner", sagt Garvan,dessen Seele so stumpf ist, daß er es nicht kalt über den Rücken rieseln fühlt, wenn er von dieser Drohung und Gefahr hört, die in dieser Ver­einbarung der europäischen chemischen Industrie für unsere Sicherheit und die Unabhängigkeit unserer nationalen Ver­teidigung, für unsere nationale Gesundheit und unseren nationalen industriellen Fortschritt liegt? Die Größe der Gefahr ist leicht zu begreifen. Es handelt sich um die Wiederherstellung der europäischen Oberherrschaft in der Chemie und dem chemischen Fortschritt, und zwar in Wirk­lichkeit um die deutsche Oberherrschaft, denn die Fran­zosen und Engländer sind begaunert worden, und deutsche Oberherrschaft in der Chemie bedeutet deutsche Militärober­herrschaft und deutsche Industrieoberherrschaft und deutsche Oberherrschaft in Chemikalien".

Wenn Mister Garvan neben seiner Deutschenhetze die Zeit finden könnte, sich einmal die Anklageschrift vorzuneh­men, die das Washingtoner Justizamt in dem Prozeß gegen die Chemical Foundation und damit gegen Garvan selber geschrieben hat, würde er sich etwas größerer Bescheiden­heit befleißigen. Wer er weiß nur zu gut, daß er immer noch eine Hörerschaft findet, wenn er die deutsche Gefahr

an die Wand malt. Denn Deutschland gilt für die meisten Amerikaner immer noch als der leibhaftige Gottseibeiuns, der den armen Pankees das durch den Kriegso sauer ver­diente Brot" vom Mund zu nehmen beflissen ist, der die übrige Welt zu einem eisernen Ring um Amerika herum zusammenschweißen möchte, der die braven Franzosen zu dem Zollkrieg gegen Amerika aufhetzt und die biedern Eng­länder zu ihrer Rohgummipolitik angestiftet hat, und der im übrigen genau das ist, was Monsieur Poincare von ihm sagt. Mister Garvan hat an seinen gestohlenen deutschen

Patenten zum Teil wenig Freude erlebt, weil sie ihm bei der Ausführung viel Kopfzerbrechen und noch mehr Geld gekostet haben, und zum Teil haben sie ihm hinterher chlimme Vorwürfe eingetragen, was hinreichend erklärt, weshalb er heute noch auf die Erfinder der Patente und die Verfasser der Patentschrifkrn schlecht zu sprechen ist.

Wer im übrigen des Glaubens lebt, daß die europäische Vertrustung und Berkartellierung in Amerika ohne Wider­spruch und ohne Gegenmaßnahmen hingenommen werde, dürfte sich einem verhängnisvollen Irrtum ergeben; das Vorgehen gegen das französisch-deutsche Kalikartell kann den nötigen Fingerzeig geben.

Deutscher Reichstag

Sozialistische Angriffe gegen Minister Schiele

Berlin, 23. November.

Das deutsch-französische Handelsabkommen wird in dritter Lesung gegen die beiden völkischen Gruppen und die Wirtschaftliche Vereinigung bei Stimmenrhaltung der Kommunisten angenommen.

Bei der Beratung des Handels- und Schiffahrtsvertrags mit Südslawien wirft Frau Sender (Soz.) dem Reichs- ernährungsminister Schiele vor, daß er in der Frage der Verzollung von Jndustriemais persönliche Interessen habe mitspielen lassen, »veil er an Kartoffelstärkesabriken nit Kapital beteiligt fei.

Reichsminister Schiele erwidert:

Ich bin seit 1920 an dieser Stärkefabrik nicht mehr un­mittelbar beteiligt. Die Fabrik ist im Icchr 1920 in den Besitz der Schollen AG. übergegangen. Der Uebergang ge­schah in der Inflationszeit. Für ihre ehemalige Betei­ligung an der Genossenschaft Schollene haben die damaligen Gesellschafter Aktien erhalten, natürlich auch ich. Die Schöl­ten AG. bat früber ausschließlich Kartoffelstärke fabriziert.