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Nr. 268 Gegründet 1827 Mittwoch, den 16. November 1927 s-rnsprecher Nr sr» 161. Jahrgang

Die Kriegsgefahren in Europa

Commander Kennworth y, Mitglied des englischen Unterhauses, der kürzlich von den Liberalen zu den Sozia­listeil üdergetreten ist, sagte in einer Unterredung mit einem Vertreter derUnited Preß", Europa befinde sich auf dem falschen Weg. Wenn es so weiter gehe, müssen neue Kriege kommen. Jetzt befinden sich in Europa ein halbes Dutzend gefährliche Stellen. Eine der gefährlichsten Stellen sei Bessarabien. Wird es Rußland nicht zurück- gegeben, so wird darum gekämpft werden müssen. Eine andere Stelle sei Ungarn; alle Millionen Ungarn, die setzt unter rumänischer, tschechischer und jugoslawischer Ge­walt stehen, bilden eine ernsthafte Kriegsgefahr. Weiter bestehe die Möglichkeit, daß Italien und Jugoslawien um Albanien in Krieg geraten. Auch Tanger sei ein wunder Punkt; die französischen und italienischen Inter­essen stoßen dort aufeinander. Die gefährlichste Stelle sei aber die deutsch-polnische Grenze. Der polnische Korridor und die polnische Herrschaft über Oberschlesien und Posen müssen, wenn der heutige Zustand beständig bleibt, unvermeidlich zum Krieg führen.Laßt uns annehmen, daß Rußland und Rumänien in Krieg ge­raten. Wenn man Ungarn mobil macht, werden auch Jugo­slawien und die Tschechoslowakei mobilisieren. Italien ist mit Ungarn befreundet, es wird nicht auf sich warten lassen. Frankreich ist ein Freund Jugoslawiens und wird auch ein- greifsn müssen. So steht halb Europa in Flammen, bevor wir es wissen."Dann die deutsch-polnische Grenze. Deutschland kann mit dem jetzigen Zustand nicht zufrieden sein. England würde es auch nicht sein, wenn Deutschland z. B. über einen Korridor von Hüll nach Liverpool ver­fügte. Laßt uns annehmen, daß Deutschland und Polen nun miteinander in Krieg geraten. Frankreich wird Polen

Der Reichskanzler in Wien

Men, 18. Roo. Reichskanzler Dr. Marx und Reichs­minister Dr. Stresemann sind am Montag in Wien eingetrosfen. Abends gab Bundeskanzler Dr. Seipel ein Essen. In einer Rede begrüßte er die deutschen Gäste. Das Wegstück, das das deutsche Volk in Deutschland und Oesterreich seit 1922 zurückegte, sei voll Widrigkeiten und Mühen gewesen, aber ein Weg nach auswärts. Mit den Bleigewichten des starren Egoismus oder gar eines politi­schen Zynismus im Rucksack könne man die steile Höhe nicht erklimmen. Sittliche Werte müssen wieder Ziel und Inhalt der Politik, nicht bloß gefälliges Mäntelchen sein. Solang« nicht die Rücksicht auf das Ganze und das Vertrauen in den Nachbarn die Grundlage der europäischen Politik sei, gebe es keinen gesicherten Frieden, keine Abrüstung und keine wahren Fortschritte der Kultur in Europa. Wir müssen vorbehaltlos ein Bekenntnis zur Politik des praktischen Idealismus oblegen. Er wünscke, daß bald das große

zu Hilfe eilen. Wenn Frankreich und Deutschland in Kampf geraten, muß England demjenigen, der angegriffen ist. laut Bestimmungen des Locarnopaktes, Hilfe leisten. Auf Grund Artikel 16 des Völkerbundsvertrags wird auch der Völkerbund gegen den Angreifer Maßnahmen treffen müssen. Das bedeutet wirtschaftliche Erpressung und Blockade, mit anderen Worten: die britische Flotte muß ihre Pflicht tun." .

Die Bereinigten Staaten und Rußland sind aber keine Mitglieder des Völkerbunds. Amerika hat bereits erklärt, unter keinen Umständen dulden zu wollen, daß in einem künftigen Krieg seinem Handel Schwierig­keiten in den Weg gelegt werden. Die Union fordert die freie See. Die britische Admiralität fordert dagegen, daß die Kriegführenden über das Meer verfügen können. Diese Frage wird in der Zukunft zu sehr großen Schwie­rigkeiten Anlaß geben,. Die Genfer Flottenkonferenz war ein Mißerfolg. Man hat uns nicht erzählt, inwiefern diese Frage auf der Konferenz erörtert worden ist. Daß man über sie gesprochen hat. steht jedoch fest."

England hat jetzt mehr Schiffe auf Stapel als in irgend einem Augenblick seit dem Waffenstillstand. Amerika eben­falls. Es ist genau dasselbe Verhältnis wie zwischen Eng­land und Deutschland in den Jahren 1902 und 1903. Es dauerte zehn Jahre, bevor die Explosion zum Ausbruch kam. Geht es so weiter, dann wird wieder genau dieselbe Atmosphäre wie vor dem Weltkrieg entstehen."

Freilich gibt Kennworthy keine brauchbare Lösung. Er scheut offenbar vor der einzig logischen Folgerung: Her- ,'tellung gerechter Zustände in Eurova, noch zuruck. Kenn­worthy war während des Kriegs Mitglied der britischen Admiralität.

Erntefest des wirklichen europäischen Frieüens gefeiert wer­den könne.

Reichskanzler Dr. Marx erwiderte, er stimme damit überein, daß die letzten Jahre uns aufwärts und vorwärts oesühr: haben. Man fiUste, daß Deutschland und Oester­reich sich Schritt für Schritt vom Abgrund entfernen, aber manches Ziel, das leichter zu erreichen schien, sei noch im­mer in weite Ferne gerückt- Keinen Trennungsstrich gebe es zwischen den beiderseitigen Ideen und der Freundschaft. Gemeinsam sei die Sprache, Kultur und der Leidensweg. Sie seien von Berlin gekommen als treue Freunde zum treuen Freund. Er hoffe, daß Bundeskanzler Dr. Seipel auch bald einen Staatsbesuch in Berlin machen werde. Er werde eine Aufnahme finden, die ihn nicht fühlen lasse, daß er sich außerhalb Oesterreichs befinde. An das Abendessen schloß sich ein Empfang, zu dem sich die Mit­glieder des diplomatischen Korps, viele National- und Bundesräte usw. eingefunden hatten.

Sie VikMl in llmnöme»

Der Streit in Rumänien um die Thronfolge ist noch nicht zur Ruhe gekommen, es scheint aber, daß die gegen­wärtige Regierung Bratianus entschlossen ist, den Wirren ein- fiir allemal ein Ende zu machen. Es ist schwer, sich von der Ferne ein Bist) von der Sachlage in Rumänien zu machen. Auf der einen Seite eine Regierung, Regie- rungsmänner und eine Partei, die sich zur Erreichung ihrer Zwecke noch nie durch sogenannte moralische oder andere Bedenken hat hemmen lasten und die von den Rumänen selbst als dieDespotte des Geldsackklüngels" be­zeichnet wird. Auf der andern Seite der Thronerbe, per­sönlich nicht unbegabt, liebenswürdig und beim rumäni­schen Volk außerordentlich beliebt, aber unglaublich lieder­lich und weiberschwach.

Die in den letzten Monaten wieder eifriger betriebenen Versuche, Karol auf den Thron zu bringen, haben die Regierung Brattanu zu einem scharfen Vorgehen gegen Karol bezw. seine Parteigänger veranlaßt. Manoi- lescu, der die Mittelsperson zwischen dem Verbannten und seiner Anhängerschaft darstellte, wurde bei der Rück­kehr von Paris aus rumänischem Boden verhaftet.

viermaliger Thronverzichk karols

Die Regierung veröffentlicht gleichzeitig die amtlichen Schriftstücke über den Thronverzicht. Zum ersten Mal erklärte Karol seinen Thronverzicht am 2. September 1918 in Jassy, als er (damals 25jährig) im Begriff war, mit einer Frau Lambrino nach Odessa abzureisen. Zur Rückkehr nach Rumänien gezwungen, beharrte er trotz des Zuredens Bratianus auf dem Verzicht, als er vor die Wahl gestellt wurde, auf die Frau Lambrino oder auf die Thron­folge zu verzichten. Am 19. August 1919 schrieb Karol an Frau Lambrino, trotz der Nichtigkeitserklärung seiner Hei­rat (mit der Lambrino) habe er nie aufgehört, sie als seine Gattin zu betrachten. Am gleichen Tag schrieb er cm seinen Vater, den König Ferdinand. Ende 1919 brach Karol mit der Lambrino; er sollte, um zu vergessen, eine große Auslandsreise machen, die ihn über Indien und Japan nach Amerika führte. Nach seiner Rückkehr vermählte er sich im März 1921 mit der Prinzessin Helena von Griechenland.

Gegen Ende 192S aber ging er, wie in den Akten­stücken wörtlich gesagt ist, ein Verhältnis mit der Jüdin Wolf, genannt Lupescu, der Frau eines Hauptmanns, ein. Der Skandal war derart, daß König Ferdinand scharf einschreiten mußte. Karol wurde nach England geschickt, mußte aber versprechen, vor Weihnachten zurückzukehren. Statt besten lebte er mit der Wolf-Lupescu in Italien zu­sammen und sandte von Venedig einen dritten, von Mai­land einen vierten Thronverzicht, in dem er zu­gleich verlangte, aus dem Verzeichnis der königlichen Familie gestrichen zu werden, und sich verpflichtete, Rumä­nien nicht vor zehn Jahren wieder zu betreten Alle Be­mühungen des Königs, den ganz unter dem Einfluß der Wolf-Lupescu stehenden Sohn zur Umkehr zu beweoen, waren vergeblich. Im Kronrat vom 31. Dezember 1928 und gegenüber der Nationalversammlung am 4. Januar 1926 erklärte sich der König mit det Verzichtleistung Karols einverstanden. Karol steht heute noch in Beziehungen zu Frau Wolf-Lupescu.

König Ferdinand hat die Rückkehr Karols gewünscht

Am 11. November begann nun vor einem Kriegsgericht in Bukarest die Verhandlung gegen Manoilescu. Seine dreistündige Verteidigungsrede war ein scharfer An­griff gegen die Regierung Brattanu, die er wohl mit Recht als eineDiktatur der Minderheit" be­zeichnet«. Größte Ueberraschung rief Manolslescu ! srvor, als er einen Brief des Königs Ferdinand ver­las, den er am 27. August, wenige Tage vor seinem Tod, an Bratianu geschrieben hatte und in dem er den dringenden Wunsch ausspricht, daß trotz allem Vorgefalle­nen Karol den Thron, besteige. Der als Zeuge anwesende frühere Finanzminister bestätigte, daß König Ferdinand bis M seinem Tod stets gewünscht habe, daß Karol zurückkshre. Manoilescu fragte, warum Bratianu den Brief des Königs vom 27. August verschwiegen habe? Und warum er am 17. IM 1927 in einem Brief an Karol von diesem eine fünfte Verzicht": klärung verlangt liabe? Bratianu müsse danach doch selbst empfunden haben, daß die früheren Ver­zichterklärungen nicht unumstößlich seien.

Manoilescu freiaespro-ben

Das Kriegsgericht fällte am 11. November um Mitter­nacht das Urteil. Es lautete aus Freispruch für Manoi- lescu mit drei gegen zwei Stimmen.

Das Urteil bestätigt den Ausspruch Manoilescus, daß die Regierung der beiden Brüder Bratianu und des Groß- rapitalistenFürsten" Stirbey eineDiktatur der Minder­heit" ist. Freilich wird mit dem Urteil an der Sachlage noch gar nichts geändert, und solange die Bratianus an der Macht sind, ist die Rückkehr Karols ausgeschlossen. An sich wäre die Sache für Europa ziemlich gleichgültig, sie konnte aber M einer europäischen Angelegenheit werden, wenn die Parteien in Rumänien zur Gewalt schreiten würden.

Das Ausnahmegesetz zum Schutz des Staats wurde von der rumänischen Kammer mit 107 gegen 1 Stimme angenommen. Die übrigen Abgeordneten halten an der Sitzung nicht teilgenommen oder, wie die nationale Bauern­partei, vor der Abstimmung den Saal verlassen. Der Bauern­führer Maniu erhob gegen das Gesetz, zu dem die Aeoie- rung nicht berechtigt sei, Widerspruch. Da es ober auch vom Senat angenommen ist, tritt es sofort in Wirksamkeit. (Das Gesetz wendet sich gegen die Anhänger Karols und gegen dessen Rückkehr.)

Neuestes vom Tage

vom Reichstag

Berlin. 18. Nov. Der Reichstag tritt nach einem Be­schluß des Aeltestenrats am Dienstag, den 22. Nov., nachm. 3 Uhr zusammen, um den deutsch-französischen Handels­vertrag zu erledigen. An den folgenden Tagen werden die Sitzungen erst nachm. 4 Uhr beginnen. Tagesordnung: Beamten- und Plenarordnung und Rentnerschutzgesetz.

Die Wahllofung «Einheitsstaat*

Darmstadl, 18. Nov. Im Wahlkampf für die hessischen Landkagswahlen wurde zum erstenmal die Losung .Ein­heitsstaat" ausgegeben Die Sozialdemokratie trat für den unbedingten .Zentralismus" der vom Reichstag ab­hängigen Berliner Reichsregierung ein. Der Demokrat Pfarrer Korell forderte das Aufgehen der Bundesstaaten in Preußen, wenn Preußen Reichsland werde. Die Losung hat aber in Hessen wenig Anklang gefunden. Die So­zialdemokraten haben nahezu 67 000 Stimmen (gegen 1921) verloren und auch die Demokratie verlor einen Sitz, wäh­rend das Zentrum, das entschieden gegen den Einheits­staat eintrat, zwei Eitze gewonnen hat. Die geringe Wahl­beteiligung, die sich bei den bürgerlichen Parteien stark gel­tend machte, wird von den Blättern n. a darauf zurück- gefühpft daß Hessen zu einem «roßen Teil starke französische

Besatzung hat; sie sei ferner ein Anzeichen, wie sehr «S <m idealem Auftrieb fehle.

Diefremde Sprache" im Elsaß Straßburg. 18. Nov. Der französische Ministervat hat di« drei elsässischen BlätterWahrheit",Zukunft" und Dolksstimme" auf Grund eines Elsasses gegen die fremd­sprachige Presse verboten. Als die Volksstimme dann un­ter dem NomenFriedensstimme" cmsgegeben wurde, wurde die Nummer beschlagnahmt. Der Grund ist, daß diese Wätter die elsässischen Volksinteressen ver­treten, allerdings in deutscher Sprache, da die meisten El­sässer keine andere Sprache verstehen.

Der Hauptvertreter der elsässischen Partei, Baron Zorn von Bulach, wurde vom französischen Gericht zu 13 Mo­naten Gefängnis verurteilt.

Verstärkung der Garnison von Malta Malta. 15. Nov. Nach Reuter hat die englische Regie­rung beschlossen, das erste Bataillon des Königinnen-Regi- ments nicht von China nach Malta zurückzurufen. Die Garnison von Malta, die in den letzten Jahren auf zwei und gegenwärtig sogar aus 1 Bataillon vermindert wurde, soll in nächster Zeit aus fünf Bataillone verstärkt werden.

Der Ausschluß der Opposition Moskau, 15. Nov. Der Hauptüberwachungsausschuß der Kommunistischen Partei des Rätebunds hat die Aus­schließung der Oppositionsführer Trotzki, Sinowjew, Radek, Smilga, Kamenew und Prcbraschenski aus der Partei voll­zogen. Die Gemaßcegelten gehören nun zu denPartei­losen". Eine politische Betätigung ist nach dem Sowjet- Gesetz nur den Mitgliedern der Kommunistischen Partei gestattet, die ganze übriae Bevölkerungsmasse ist davon ausgeschlossen. Die genannten Ausgeschlossenen können also offen nicht mehr politisch tätig sein. Vielleicht um so mehrunterirdisch".