Sette 2 - Nr. 210

Nasolder La»d1attDer Seseüschasler"

Lloyd George über die Möglichkeit einer Abänderung der Friedensverträge

London. 8. Sept.Daily Mail" veröffentlicht ein Schrei­ben, das Lloyd George vor kurzem an den ungarischen Zeitungsberichterstatetr Foel-diak gerichtet hat. Es heißt dar­in: Die britische Oeffentlichkeit erkennt voll an, daß weder das ungarische Volk noch sein Erstminister für die Katastrophe des Jahrs 1914 verantwortlich waren. Die Urheber aller Friedcnsvelträge von 19191920 haben niemals iür diese Verträge eine« solchen Grad der Vollkommenheit bean­sprucht. daß sie sie für unabänderlich anfähen. Wir alle faß­ten durchaus die Möglichkeit ins Auge, daß gewisse Klauseln und Bestimmungen der Verträge einer Erörterung, einem Rechtsspruch und einer möglichen Revision von feiten des großen Tribunals, dos in der ersten Klausel dieser Verträge errichte: wurde, nämlich des Völkerbunds, unterworfen wer­den können.

Die englischen Eisenbahner Kegen den Gewerkschaftsrat Ldinburg, 8. Sept. Auf dem Gewerkschaftskongreß haben die Vertreter der Eisenbahnergewerkschaft den Beschluß ge­faßt gegen den Borschlag des Gewerkschaflsrats .zu stimmen, wonach man die Unterhandlungen mit den russischen Ge­werkschaften abbrechen soll.

Ein polnischer General zu 5 Jahren Kerker verurteilt Warschau. 8. Sept. Der polnische Brigadegeneral Zy- mierski, der früher die Militärkieferungen unter sich hatte, wurde wegen Bestechlichkeit zu 5 Jahren schweren Kerkers, Ausstoßung aus dem Heer und zum Ersatz des Schadens verurteilt, den der Staat durch betrügerische Heereslieferun­gen erlitten habe. Ein Mitangeklagter Oberstleutnant wurde srsigeffrrvchen.

Württemberg

Stuttgart, 8. Sept. AnkunftdesReichsminister« Schiele. Von zuständiber Seite wird mitgeteilt: Dei Reichsminister Schiele traf gestern abend gegen 6 Uhr, vor Kempten kommend, im württ. Allgäu ein. Er wurde i» Schlachters namens des württ. Wirtschaftsministeriums vor Regierungsrat Dr. Münzenmaier, namens des Bezirk- von Oberamtmann Doll und Vertretern der Allgäuei Milchwirtschaft empfangen. In Begleitung des Ministers be> fanden sich Geheimrat Dr. Bose, Ministerialrat Kürsch. ner und Oberregierungsrat Hillebrandt. Die Herr er nahmen in Wangen i. A. im HotelAlte Post" Wohnung Zur Begrüßung des Reichsministers Schiele waren im Ver laus des Abends in Wangen Staatspräsident Bazille uni Staatsrat Rau eingetrosfen-, in deren Begleitung befander sich Ministerialrat Dr. Springer, Ministerialrat Köst lin, Oberregierungsrat B r a i g, Regierungsrat Most' haf und Regierungsrat Vögele. Im Verlauf des Abend- fand ein zwangloses Zusammensein mit dem Minister statt Dabei waren außer den genannten Herren noch anweseni di« Vertreter der Landwirtschastskammer, des l-andwirtschast. lichen Hauptoerbands, des Verbands landwirtschaftlicher Ge­nossenschaften, des milchwirtschaftlichen Landesverbands, dei milchwirtschaftlichen Vereinigungen des Allgäus, sowie dei Stadt und des Bezirks Wangen.

Stuttgart, 8. Sept. Gemeindeanteile an der Einkommen-, Körperschafts- und Umsatz­steuer. Die Staatshauptkasse hat heute den Gemeinden als weitere Abschlagszahlung auf ihre Anteile am Einkom­men-, Körperschaft- und Umsatzsteueraufkommen des Rech­nungsjahrs 1927 überwiesen: 3 v. H. ihrer Gefamtrechnungs- anterle an der Körperschaftssteuer und 0,24 SM. auf den Kopf der Wohnbevölkerung.

Neuer Stadlpfarrer. Von dem Bischof von Rottenbura wurde die kath. Stadtpforrstelle Cannstatt dem Stadtpfarrer Kurz in Untertürkheim übertragen.

Aus dem Parkeileben. Der frühere langjährige Land­tagsabgeordnete der demokratischen Partei Rechtsanwalt Dr. Effele II, Vaihingen-Enz, der seinerzeit wegen der unent­schlossenen Haltung der demokratischen Partei in der Frage der Fürstenenteignung aus dieser austrat, ist zur Deutschen Bolkspartei übergetreten.

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Bez. Würt­temberg, erklärt, daß die in verschiedenen Zeitungen an­fangs September gebrachte Notiz aus Nördlingen:Auf de schwäbische Eisebahna" den Tatsachen nicht entspricht. Rich­tig ist, daß auf der Station Deinbach die Zugstange hinter der Lokomotive riß, so daß die Lokomotive den Zug nicht mehr weiterbefördern konnte und allein weiterfuhr, um Hrkse zu holen. Eine Ersatzlokomotive beförderte dann mit einer Stunde Verspätung den Zug weiter bis Gmünd. Aus der Strecke GmündNördlingen ist dem Zua nichts passiert, sondern der Zug holte noch eine halbe Stunde Verspä­tung ein.

Aus dem Lande

Eßlingen, 8. Sept. Schweres Gewitter. Mittwoch abend ging über Eßlingen ein schweres Gewitter nieder, das eine Stunde lang anhielt. Um die Obertorstraße herum drang der Schlamm in die Keellr, Küchen und Wohnräume. Die Feuerwehr wurde zweimal zu Hilfe gerufen. In einen Pfosten des Wirtschaftsgebäudes bei der Katharinenlinde schlug der Witz ein, so daß der Pfosten verbrannte.

Genkingen OA. Reutlingen, 8. Sept. Sturz von der Tenne. Der 19jährige Sohn des Bauern Michael Vahn- müller fiel von der Scheuer herunter in die Tenne, wobei er schwere innerliche Verletzungen erlitt.

Tübingen, 7. Sept. Unfall der Herzogin Phi­lipp. Herzogin Philipp, die greise Mutter des General­feldmarschalls Herzog Albrecht, die gegenwärtig in Fried­richshafen weilt, erlitt gestern einen Beinbruch und wurde sofort, begleitet von Herzog Albrecht, hieher in die Chirur­gische Kstnik überführt.

Rottweil, 8. Sept. Zum Verbandstag der Ge­werbevereine und Handwerkervereinigun- gsn. Der Gewerbeverein Rottweil hat anläßlich des Ver­ba wdsiags der Gwerbevereine und Handwerkerverejnigungen vom 17.19. September 1927 einen Festzug der Zünfte vor­gesehen mit den herrlichen Zunftfcchnen, wie solche keine an­dere Stadt in Württemberg aufzuweisen hat. Die Ehren­pforte und die Hochbrücke werden abends in elektrischen Licht erstrahlen. Der württ. Staatspräsident hat seine Teil­nahme am Verbandstag zugesagt.

Vom Dodensee. 8. September. Erleichterung im deutsch-österreichischen Grenzverkehr. Im Grenzoeikehr Bregenz-Lindau ist eine weitere Erleichterung eingetreten. Das Land Vorarlberg hat verfügt, daß die Paßkontrolle am Hafen bei der Ausreise aus Vorarlberg aufgehoben wurde. Nur bei der Einreise nach Vorarlberg wird noch eine Kontrolle ausgeübt.

Die Gendarmeriebeamten der Bodenseeuferstaaten ver­anstalteten am Sonntag und Montag in Bregenz eine ka­meradschaftliche Zusammenkunft, die aus allen Staaten gut besucht war.

Die österreichische Regierung beabsichtigt, auf dem Bo­densee zwei Gleitboote in Betrieb zu setzen, die einen Fas- srmgsramn von SO Personen und eine Stundengefchwindig- lHt. bisM M Km., haben.

Aus Stadt undLaad

Nagold, 9. September 1927.

Eh' wir still Entschlafenen viel' Blumengrüße senden zu rechter Zeit, laßt uns erst daran denken, daß ein klein winzig Blümelein, liebfroh gebracht im Leben, wiegt tausendfach die Kränze auf, die wir den Toten geben.

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Zum Hochwasser

der Waldach erfahren wir ergänzend, daß zwischen Salzstetten- Grünmettstetten am Mittwoch ein schwerer Wolkenbruch nieder­ging. Stundenlang standen die Felder dieses Tales unter Wasser. Die Wassermassen teilten sich auf der Scheide bei Salzstetten in zwei Teile; der eine ergoß sich gegen Altheim zu, wo die Fluten gegen 4 Uhr nachmittags derart anschwollen, daß die Feuerwehr ausrücken mußte. Das Vieh mußte aus den Stäl-

_ Freitag, S. September iss?

len geholt werden, um es vor dem sicheren Untergang zu schük--»- An der Brücke über den Brühlbach erreichten die Fluten eine solche Höhe, daß die Brücke völlig unter Wasser stand. Teil­weise standen die arbeitenden Männer bis zur Hüfte im Wasser Holzstämme und dergl. wurden von den Fluten mit fortgerissen wogegen sonstiger Schaden im Ort weniger zu verzeichnen ist. In das Anwesen des Johann Nafz schlug der Blitz in die elekirische Leitung, ohne weiteren Schaden anzurichten. Von Altheim weiter ergossen sich die Wassermassen gegen Grünmettstetten zu wo gleichfalls die Straßen unter Wasser standen. Hier brachte die Steinlach große Wassermafsen und überschwemmte die an ihrem Lauf gelegenen Felder und Straßen. Ebenso wurden die Ortschaften Ober- und Untertalheim betroffen, wo die Stra­ßen überschwemmt und Ställe und Keller, aus denen das Vieh und Sonstiges noch gerettet werden konnte, unter Wasser lagen Vielfach versichern die Einwohner, noch nie ein Hochwasser von diesem Ausmaß erlebt zu haben. Auch das Tal gegen Jsels- hausen wurde unter Wasser gesetzt. Von der Salzstetter Scheide ergoß sich dann der zweite Teil der Wassermassen gegen Heiligenbronn hinunter, dessen Straßen und Felder völlig über­schwemmt wurden. Ja die Fluten schwollen derart an, daß die Salzstetter Feuerwehr zu Hilfe gerufen werden mußte. Von Heiligenbronn stoffen die Waffermassen ins Waldachtal ab.

ArbeitergesaugvereirrFrohsinn'' j beim Krilikfingen in Zuffenhausen.

Seinerzeit berichteten wir schon in kurzen Worten, daß der hiesige Arbeitergesangverein auf dem III. Bezirkssängerfest des Deutschen Arbeitersängerbundes in Zuffenhausen gut abgeschnitten hatte, heute können wir nun den Wortlaut der von prominenten Preisrichtern geübten Kritik wiedergeben. Ursprünglich sollte dieses Jahr das geplante Landessängerfest in Ulm stattfinden, mußte jedoch besonderer Verhältnisse wegen verschoben werden. Aus diesem Grunde beschloß der II. Bezirk, wie auch verschie­dene andere Bezirke, ein Bezirksfest verbunden mit Kritiksingen abzuhalten. Bei dem Kritiksingen ist jede Preisoerteilung, jedes Verleihen von Diplomen und jegliche Auszeichnung mit Pokalen usw. ausgeschaltet, hier wird lediglich dem Verein die Wertung seines Gesanges überreicht. Eine sehr schöne Einrichtung, die der Nachahmung in weitesten Kreisen wert wäre. Als Preis­richter fungierten die Musikdirektoren Schneider-Geislingen und Gammel-Kornwestheim im einfachen und höheren Volks­gesang, während für erschwerten Volksgesang, sowie einfachen und erschwerten Kunstgesang Professor Sch äffer-Heilbronn und Chormeister Otto Löffler-Stuttgart amteten. Die Wer­tung für denFrohsinn" sagt folgendes:

Arbeitergesangverein Nagold, 45 Sänger, Dirigent: Ober­lehrer Közle. Lied: Mir ist ein schön's braun's Maide lein" (Volkslied), Satz von K. Th. Schnnd- Nagold.

Der Verein hatte bei der Auswahl seines Liedes eine glück­liche Hand. Die ganze Art, wie dieses innige Volkslied ge­sungen wurde, war geradezu vorbildlich. Schlicht und einfach, aber deswegen nicht weniger stimmungsvoll und herzlich, drangen die Töne an unser Ohr. So konnte nur ein Verein singen, dessen Tonbildung schon aus hoher Stufe steht. Auch die Phra­sierung war sinngemäß. Wir hätten nur gewünscht, daß die Durchgangsnoten klarer gesungen worden wären. Der 1. Baß sang die Terzen bei den Schlüssen zu schwach. Das i in Him­mel war zu dunkel. Die schönste Stelle war:Ade, ich fahr' dahin".

Arbeitergesangverein Nagold, 80 Sänger, (45Sängeru. 35 Sängerinnen), Dirigent: Közle. Lied:Abschied vom Walde", für Gem. Chor, von Mendelssohn-Bartholdy.

Hatte sich schon der Männerchor mit seinemSchönen, braunen Maidelein" sehr vorteilhaft eingeführt, so war dies beim Gemischten Chor in noch höherem Maße der Fall. Das Tempo war ein richtig fließendes Andante. Der Vortrag inner­lich belebt und tief empfunden. Die Aussprache war sehr gut, ebenso die Tonbildung. Die Schlüsse klangen wie eine Orgel. Die Mittelstimmen, besonders der Alt, waren weich und doch schön hervortretend. Die Tonreinheit war bei dem bekannten verminderten Septimenakkord etwas getrübt, aber nur im ersten und zweiten Vers.

Wir gratulieren demFrohsinn" und besonders seinem uner­müdlichen Dirigenten, Herrn Közle, zu seinem schönen Erfolg und hoffen, daß er den Nagolder Sängern noch recht lange erhal­ten bleibt, um sie aus dem beschrittenen Wege weiter zu führen.

Bücher sind Lichter, an denen wir nns sel-

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^ der immer mehr erhellen, Fahnen unter denen

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nur uns sammeln.

mit Wahlverwandten und Freunden

Friedrich der Große.

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Der Dom brennt

Skizze von Hans Pflug.

Der Dreikönigstag des Jahres 1865 bedachte die alte Noris vom frühen Morgen an mit recht unfreundlichem Schneegestöber. Große nasse Schneeflocken wirbelten herab auf Altnürnbergs Gaffen und Plätze und machten sich bald als unangenehmer schmutziger Brei auf dem Pflaster breit. Die guten Bürger der stolzen Stadt lobten damals sicherlich nicht das für ein Epiphaniasfest recht ungebührlicheSapj>> wetter". Zudem hatte der Himmel die Schmutzfarbe der Straßen mit dem Giftgelb des Schwefels gemischt, die Luft stand träge und war im eigenartigen Gegensatz zu Zeit und Geschehen fast föhnig und schwül. Sv lebte es sich an jenem Tage recht ungemütlich, und es schien, als wittere man Unheil.

Der Luginsland, der Vestnerturm auf der Burg und die Spitzen von St. Sebald ragten schier verhüllt im Dunst. Nur das Turmpaar des Lorenzer Doms verschwendete sich in fast unnatürlich Heller Höhe. Die vergoldeten Ziegel des nörd­lichen Turms glänzten wie von unsichtbarer Sonne bestrahlt. Niemand hätte sich gewundert, wenn Plötzlich Elmsflämmchen aus ihren Spitzen aufgezüngelt wären. Dies alles aber wirkte so seltsam und selbst für die älteren Nürnberger so ungewohnt und beklemmend, daß sie, führte sie ihr Weg in diesen Stunden an St. Lorenz vorbei, ihre Schritte beschleu­nigten und nur scheue Blicke auf die Hellen Türme warfen.

Herrschte am Morgen überall in der Stadt bängliche Er­wartung, so brachte der Mittag doch gewisse Erlösung. Ein rasender Schneesturm, wie er in großen Städten selten ist, peitschte durch die Straßen. Die Helle über St. Lorenz' Türmen brach jäh in sich zusammen. Die Burg war wohl weggeweht, und das Firmament legte sich in seiner ganzen Wucht auf Firste und Giebel.

Eben hatte der Sturm den Kirchen die vier Glocken- schläae und den einen der ersten Nackmittaasitunde in ickwin-

deliaer Höhe geraubt (daß sie menschlichem Ohr ohne Klang blieben!), als auch schon ein Blitz den Blick blendete und gleichzeitig schneller als Gedanken ein fürchterlicher Don­ner das eigenartige Geschehen dieses Januartages eröffnete.

Zu diesem Zeitpunkt wußte Wohl noch niemand, was sich ereignet hatte. Der Blitz war wie eine riesige Feuergarbe, grell in fast violetter Farbe und schrecklich anzusehen aus auf­gerissenem Himmel rn die Stadt gefahren. Manche wollten ihn so erzählte man später fast senkrecht, ohne das ge­wohnte Zickzack, erkannt haben.

Unerhörtes war geschehen: St. Lorenz brannte! Der Blitz war in den nördlichen Turm gefahren, Hane die Spitze in Brand gesteckt, dabei aber, ein Wunder fast, die Wächler- stube verschont. In wenigen Minuten schon zerfraßen die Flammen das Dach und flackerten an allen Ecken und Enden zum Firmament empor, aus dessen zorniger Fahlheit sie ge­schleudert waren. Wieder standen die zwei Türme von Sr.

Lorenz in überirdischer Helle, nur der eine hatte seine Spitze mit einem phantastischen Mantel schwarzen Qualmes um­geben, von dem der Sturm immer wieder Stück um Stück losriß und verslattern ließ.

Unten aber in Nürnbergs Mauern war es längst leben­dig geworden. Von allen Tortürmen und von der Burg gell­ten die gefürchteten Feuerglockenfchläge in wahnsinniger Folge, und fast gleichzeitig stotterten die alten Feuertrompeten der Türmer ihr unheimlichesHabt acht! Feurio!" in die ver­störte Bürgerschaft hinein.

Ein fürchterlicher Aufruhr durchtobte die Stadt.Der Lorcnzerturm brennt!" Zu alledem wütete der Wind weiter und schürte das Höllenfeuer auf dem Turm. Bald schmolzen die vergoldeten Kupferziegel zusammen und tropften ab. Die Stange mit Knopf und Wetterhahn stürzte glühend und durchschlug das Dach des Doms. Die Stundenglocke und die kleine oberste Glocke durchtosten ebenfalls glühend den ganzen Turm bis zur ebenen Erde.

Die Feuerwehr, um die es damals noch recht schlimm bestellt war, mühte sich vergebens, das Toben der Flammen zu dämmen. Schon gab sie Turm und Dom aus, als der Nachmittag verkroch sich ängstlich in Dämmer und Dunst ein junger Schlotfegergeselle, der stundenlang schon an der Spritzenpumpe gestanden, sich erbot, die vor Rauch schier un­gangbare Turmtreppe zu ersteigen und die Falltür der schon bis auf die Steinfließeu zusammengeflammten Türmerstube unter Wasser zu halten. Denn so sagte er dem Führer der Wehr- von dieser Tür hinge schließlich das Heil des Turmes und vielleicht der aarnen Kircke ab.

Mau wollte Michel Bergner so hieß der Mutige - von seinem tollkühnen Vorhaben abbringen, zumal die glühen­den Glocken Teile der Stiege herabgerissen hatten und es zwecklos erschien, den rauchschwangeren Turm zu erklettern und sich gar in nächster Nähe der Flammen aufzustellen. Da sich aber, begeistert vom Vorbild des Gesellen, noch ein halbes Dutzend Burschen fand, die ihm die Handeimer reichen woll­ten, und weil man schließlich doch auch nicht tatlos wie Wei­ber zusehen konnte, wie St. Lorenz, der Tom, zu Asche fiel, gab man den beherzten Burschen den Weg frei.

Michel Bergner sah noch einmal rasch und klar in die Runde und grüßte stumm die Stadt, die er liebte. Dann riß er seinen Blick aus der untätig gaffenden Menschenmenge weg und schaute empor zu den beiden Türmen, auf die wie­der gläserne Helle des Himmels zu fallen schien.

Der junge Mensch hatte sich eilig ein Tuch um Mund und Nase binden lassen, rang sich dann hinauf in die Nacht des Turms, hörte nur wie von ferne leises Orgelspiel aus der Kirche, wo man für ihn betete, weiter oben aber nur noch Geisterpfiff des Sturmes, der ihn verhöhnte, und das Prasseln und Zischen der Flammen.

So fand er die Eichenbohlen der Tür, die sich in der Glut schon bogen. Hier oben stieß glücklicherweise der Wind dann und wann durch ein kleines Turmfensterchen, dessen Glas Michel Bergner zerschlagen hatte, und gewährte ein paar Atemzüge Luft. Aber die Hitze war unerträglich. Sie dörrte die Haut und blendete die Augen in der Dunkelheit wie glühender Stahl...

So stand nun der vermessene Mensch einsam im Kamps mit dem Feuer. Nur zu selten reckte sich ein Arm aus der qualmig-düsteren Tiefe und reichte einen Eimer. Nur zu sel­ten konnte Michel Bergner den schwachen Wassersturz gegen die Tür verzischen. Er sah sie längst nicht mehr, die Bretter, durch die das Unheil dringen wollte, aber sein Schwung traf sie gar Wohl.

Stunden verflossen. Die Winde sogen ein winziges Wölkchen auf und trugen es behutsam ins Sternenland. Nacht war wach geworden, und ihre Fittiche rauschten die Weise Unendlichkeit.

Und doch mußte eine sengende Sonne dem Einsamen nahe sein. O, müde, müde Augen!-

Als man um die Mitternachtsstunde des Feuers Herr geworden und kam, um den Mutigen im Triumph herab zu holen vom Turm, waren seine Augen erloschen. Erblindet!...

So rettete Michel Bergner den St. Lorenz-Dom zu Nürn­berg am Dreikönigstage anno 1865 aus großer Feuersnot.