J3.0MAN VON CHRISTIAN CHRISTIANSEN
Der Polizeimeisfer
Der Kittilbauer und ein anderer packten ihre Büchsen und liefen an die Tür, um den Ausgang zu besetzen. Die übrigen duckten sich wie Raubtiere, bereit, sich auf Jens zu stürzen. Durch die Menge draußen ging es wie Aufstöhnen. Nun gab es keine Hoffnung mehr.
Der Polizeimeister klopfte wieder auf den Tisch. Kleine, scharfe Schläge, die den Lärm unterbrachen. Aber den Triumph der Bauern konnten sie nicht eindämmen. Jetzt waren sie nicht mehr klein; jetzt dachten sie nicht mehr an diese bittere Nacht und ihre Hilflosigkeit. Nun waren sie obenauf. Und der Polizeimeister mußte Lehrgeld bezahlen!
Plötzlich sprang er auf. Und es war ihm, als hätte er selbst bisher in Ketten gelegen, die in diesem Augenblick klirrend von ihm abfielen.
Die Bauern starrten ihn an. Es wurde so still in dem halbdunklen Zimmer daß man nur noch das kurze Atmen der Männer hörte. Und in diese Stille hinein dröhnte die tiefe ruhige Stimme de« Polizeimeisters.
„Du hast Gück gehabt! Das Urteil, das dich für geächtet erklärte, ist im Herbst durch eine Amnestie aufgehoben worden!“
Die dichtgedrängte Menge auf dem Flur stöhnte auf, es klang wie ein einziger Seufzer der Erleichterung. Die Großbauern blickten sich an. Sie glaubten, nicht recht gehört zu haben.
„Das ist gelogen!“ brüllte der Kittilbauer.
Aber der Polizeimeister hatte alles auf eine Karte gesetzt. Es gab keinen Rückzug mehr.
Eulenspiegeleien
berichtet von Hans Pflug-Franken
Eulenspiegel sagte:
„Verdrieße nicht das Schicksal, es ist sehr schnell vergrämt! Es trägt dir jeden Versuch, es korrigieren zu wollen, lange nach. Und es hat probate Mittel, die mürbe machen, mürber als duftige Sandtorte oder zarteste Ochsenlende. Nur der dümmste Büffel lökt wider den Stachel. Der Weise aber vermag die Mauer zu durchtanzen, die kein noch so harter Kopf durchrennen könnte.“
13. Fortsetzung und Schluß. Was zuletzt geschah:
Auch mit schnell herbeigeholten Seilen war es nicht gelungen, Gjermunn aus seiner verzweifelten Lage zu befreien. Er schien verloren. Und doch kam hoch Hilfe. Jens, aus der Tiefe der Schlucht emporsteigend, hatte den Halberfrorenen geborgen und tauchte plötzlich vor den erstaunten Bauern auf. Er, der Geächtete, der Verbrecher, stellte sich ruhig seinem Gericht. In einer Bauernstube wurde Versammlung gehalten. Die Sympathie der Häusler war auf der Seite des Fremden. Als er seinen Namen nannte, verstummte alles erschreckt. Jens Pedersen Nybraatt: das war doch der gesuchte Verbrecher, der vor sieben Jahren vermeintlich in die Schlucht gestürzt war.
Oddebauer zuckte zusammen und fuhr sich hilflos mit der Hand durch den Haarschopf. Nie im Leben hätte er geglaubt, daß der Polizeimeister so scharf sein könnte. Er erhob sich und ging mit zitternden Knien an den Tisch heran.
„Hier der Stempel des Vogtes!“ Der Polizeimeister zeigte mit dem Finger. „Und hier kannst du lesen, was ich gesagt habe!“ Es flimmerte vor den Augen des Oddebauern. Eiskalt lief es ihm von den Haarwurzeln über den ganzen Rücken. Und wenn es ihn das Leben kostete — er konnte nichts anderes sehen als eine Anweisung auf sechs Sack erstklassiges Moosmehl... Da fühlte er, wie das Knie des Polizeimeisters an seine Wade stieß. Er schluckte ein paarmal. „Ja, natürlich, es stimmt schon ...“ Und der Oddebauer ging schwerfällig auf seinen Platz zurück. Es zuckte in seinem Gesicht, als wolle er zugleich weinen und lachen.
Der Polizeimeister steckte das Schreiben wieder in die Tasche nd fuhr mit der Hand über die Schläfen. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. „Dann sind wir also mit der Sache fertig. Mag sie vergessen sein!... Und nun kommen wir zu dir, Jens Pedersen Nybraat. Du stehst hier vor den Großbauern und bist angeklagt, verschiedene Eßwaren aus den Vorratshäusern gestohlen zu haben. Hast du zu der Anklage etwas zu sagen?“
Jens zuckte die Achseln, ohne zu antworten. Er blickte auf die Reihe dieser erschrockenen und klein gewordenen Männer. Keiner von ihnen sprach. Sie schämten sich. Nur der Oddebauer sah ihn an. Aber er saß so weit hinten, daß er beinahe unter den Häuslern an der Tür verschwand. Und er hatte dasselbe
schlaue Zwinkern in den Augen wie sie. Es sah wahrhaftig aus, als ob er nickte.
Da entstand eine Bewegung unter den Männern draußen, sie machten einem Eintretenden Platz. Es war Alt-Töllöv. Gebeugt und mit krummem Rücken kam er in die Stube. Er räusperte sich lange, und dann begann er zu reden.
Ja,-er wisse nicht recht, wie man sich
zu benehmen habe, wenn man mit einem Beamten des Königs spreche, fing er an. Dabei
Wer spricht für
„Die Ankläger haben das Wort!“ Die Stimme des Polizeimeisters klang laut und scharf. Durch die Bauern auf der langen Bank ging es wie ein Ruck. Der Kittilbauer hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Blick auf den Fußboden gesenkt. Lieber Gott, wäre er nur aus dieser verteufelten Lage wieder heraus, dann wollte er über die paar Würste, die er verloren hatte, wahrhaftig kein Wort mehr verlieren. Und so wie ihm ging es allen anderen. Sie schwiegen hartnäckig. Von draußen kam ein Lachen, und diese Heiterkeit schien sich wie eine Welle zu verbreiten.
Da erhob sich der Oddebauer. Mager und vertrocknet stand er mitten unter der Häuslerschar. Er gehörte nicht zu den Großen, der Oddebauer, und das war ihm auch gleich.
„Nun?“ fragte der Polizeimeister.
Ja — man solle nicht denken, daß er irgendeine Klage zu führen habe, ganz und gar nicht. Und die Speckseite, die im Winter aus seinem Vorratshaus verschwunden sei, könnte, wenn er es sich recht überlege, ebensogut der
war es, als erhelle ein kleines Lächeln sein Gesicht, und der Polizeimeister lächelte zj- rück. Alt sei er zwar und übermäßig klug im Kopf sei er auch nicht mehr. Und er habe gewiß in dieser Welt bald abgewirtschaftet. Da käme es wohl kaum darauf an, ob er sich jetzt mit jemand anfeinde oder nicht. Aber das eine möchte er gesagt haben, daß dieser Fremde ganz allein mehr Gutes in der Gemeinde getan habe — als der Polizeimeister und alle Großbauern zusammen.
„Ja, das stimmt, Alt-Töllöv“, rief einer draußen vor den Fenstern. Und der Polizeimeister mußte sich die Hand vor das Gesicht halten, damit man nicht sah, wie er lachte.
Wenn dieser Fremde ihnen nicht geholfen und alle Schuld auf sich genommen hätte, sie wären wohl alle aus dem Tal zu Dieben geworden. Aber er habe noch mehr getan. Und dann erzählte der Alte von der Rentierjagd, von dieser wunderbaren Rettung in der Hungersnot dieses schrecklichen Winters.
„Hast du noch mehr zu sagen?“
„Nein, jetzt mag es genug sein“, murmelte Alt-Töllöv und kehrte zu seinen Leuten an der Tür zurück.
die Ankläger?
Fuchs oder sonst wer gemaust haben. Nein, er wolle ganz etwas anderes sagen. „Was braucht ein Mann, dem wir so viel verdanken und der bisher wie ein Bär in der Wildnis gelebt hat? Endlick einmal festen Boden unter den Füßen.“ Der Oddebauer hob die Stimme. „Ich weiß nicht, was andere tun wollen. Ich selbst bin jedenfalls bereit, diesem prachtvollen Kerl unten im Tal ein Stüde Acker und Wald zu geben. Und wenn er für den Anfang einen Pflug braucht, eine Egge und was sonst noch dazu gehört, dafür werde ich auch sorgen.“
Der' Oddebauer reichte dem Fremden die Hand. Das gleiche tlt Alt-Töllöv. Und nun waren die anderen nicht mehr zu halten. Alle wollten diesen merkwürdigen Gebirgsmann in der Nähe sehen und ihn anfühlen. Sie lachten und weinten vor Freude. „Ich danke dir, Arnt“, flüsterte der Polizeimeister, als er an dem Oddebauer vorüberging. Und sie lächelten sich an wie zwei Verschwörer, denen etwas Gutes gelungen war...
Friede liegt über Schlucht und Moor
„Das Leben ist freilich kein Honiglecken! Und doch nascht jeder gerne an jeder erreichbaren Wabe. Was schert ihn, daß sie von Bienen wimmelt, die seiner Zunge gefährlich werden können. Denn wäre das Leben ertragbar ohne diese gefahrvolle Schleckerei?“
*
„Die Muschel birgt die Perle. Sie ist ihre Mutter, die Perlmutter. Aber sie wird zerbrochen um der Perle willen. Das ist ihr Sinn. Wer wollte nicht gerne zerbrochen werden, wenn er die 'Gewißheit hätte, Hülle einer Perle zu sein?“
*
„Armsein hat nichts mit Haben und Nichthaben zu tun. Es ist Merkmal wie blonde Haare oder kurze Beine. Die Haare kann man färben, aber sie wachsen doch immer wieder blond nach. Die Beine lassen sich durch hohe Hacken verlängern, aber sie werden dadurch nicht länger. So bleiben beide unaustilgbare Signaturen, wie das einige Armsein vieler Reicher oder das Reichsein des Bettlers, vor dessen Augen wir uns des Almosens schämen, das wir ihm in den Hut legen.“
*
„Es geht um die Freiheit!“ rief der Gefangene unter dem Galgen Eulenspiegel 2 u, den er im Volke erkannt hatte. „Was ist das?“ fragte der Henker. „Der letzte Sprung!“ lachte der Deliquent, bevor man ihm das Brett unter den Füßen wegzog. Dann aber verging im das Lachen, weil die Freiheit eine ernste Sache ist.
Er war entschlossen, sein Spiel durchzuführen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch: „So, du nennst den Beamten des Königs also einen Lügner. Und ihr anderen stimmt ihm bei?“
Waren es erwachsene Männer, mit denen er zu tun hatte? Wußten sie, was sie taten? Wußten sie nicht, daß sie mit einer derartigen Beleidigung eines königlichen Beamten Kopf und Kragen riskierten? Was glaubten sie wohl, was geschähe, wenn er dem Vogt darüber berichtete?
Sie duckten alle die schweren Köpfe, als fielen Hammerschläge auf sie herab. Selbst der Kittilbauer war blaß geworden und wagte kein Wort mehr zu erwidern. Endlich rief einer schüchtern:
„Aber niemand von uns hat von der Amnestie des Geächteten jemals gehört.“
Der Polizeimeister riß ein Papier aus der Brusttasche und schüttelte es vor dem Gesicht des Kittilbauern. „Hier siehst du den Stempel de« Vogtes! Zweifelst du etwa jetzt auch noch?“
„Nein — ganz und gar nicht!" stammelte der Kittilbauer. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er sah überhaupt nichts anderes mehr als das große, rote Staatssiegel des Vogtes.
„Arndt Odden!“ sagte der • Polizeimeister ernst. „Tritt vor und bestätige, daß in diesem Schreiben steht, daß der geächtete Jens Pe- der«en Nybraat ein freier Mann ist!“ Der
Was für eine Nacht! Ganz still, ohne Laut oder Windhauch. Es war beinahe, als hielte der Wald den Atem an. Der Schnee lag sanft und weiß ohne Spuren da. Der Nachthimmel hatte sich aufgeklärt und prophezeite schönes Wetter. Ueber dem Blauerlenberg hing ein blasser Neumond...
Zwei Menschen zogen von der Krokhütte aus nach Süden. Quer über die Wiese gingen sie, durch das Zauntor und auf die Birkenhalde zu. Sie schmiegten sich eng aneinander. Jens blickte zur Schwarzen Schlucht empor, als erwarte er, Rauch au« der Höhle aufsteigen zu sehen. Ingeborg wandte immer wieder den Kopf zu der Hauasennhütte, die auf der Halde in tiefen Schneewehen ihren Winterschlaf hielt. Sieben Jahre waren vergangen, seitdem sie zum letztenmal hier gegangen war. Sieben Jahre voller Qual, voller Reue und Sehnsucht. Viele Nächte hindurch hatte sie an diese Hütte, an den Abgrund, vor dem sie damals verzweifelt stand, nur mit Grauen denken können. Aber heute nacht...
„Du mußt mir noch mehr von ihm erzählen“, flüsterte sie.
Er blickt auf sie herab und lächelte. „Du wirst ihn bald selbst sehen.“ Er tastete mit seiner großen Faust nach ihrer Hand, sie gingen weiter über das Moor. Der körnige Schnee klirrte leise um ihre Füße.
Nein, es war nicht zu begreifen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihr ganzes bisheriges Leben verwandelt. Hier ging Jens als freier Mann. Er besaß Grund und Boden. Er hatte Ingeborg. Und den Jungen hatten sie zusammen, und nie würden sie sich wieder trennen. In jeder Häuslerkate, das ganze Tal entlang, hatten sie Freunde.
In der Schwarzen Schlucht rührte sich nichts. In einer schmalen Spalte der Bergwand saß ein Falkenpaar und dämmerte frierend vor sich hin. Unter dem Eis murrte der Fluß wie ein träumendes Tier. Der Pfad, der sich von dem Brückensteg nach der Höhle hinaufschlängelte, glänzti im Mondlicht wie eine Silberader. Unberührt lag der frisch gefallene Schnee. Und es stieg auch kein Rauch von der Höhle auf, das Feuer war erloschen.
Ivar hatte nicht gewagt, es wieder anzuzünden. Bleich vor Angst starrte er in die Schlucht hinab. So hatte er auch neben Jens gesessen, als Gjermunn am Felsen hing und mit jeder Stunde dem Tode näher kam. Und am Rande der Schlucht liefen der Polizeimeister und die Bauern hin und her. Der Junge war schließlich ganz außer sich. Und Jens hatte ihn schließlich scharf anfahren müssen, damit er aufhörte zu jammern.
Aber dann hatte er selbst Gjermunns schreckliche Lage nicht mehr mit ansehen können. Er war in die Schlucht hinabgestiegen. Und seitdem hatte Ivar sich in sein Fell eingewickelt und in eine Ecke geduckt. Wie würde das alles enden? Was hatten sie Jens angetan? Und wie lange würde es dauern,
bis sie hierher kamen, um ihn selbst zu holen und ins Gefängnis zu schleppen? Der Junge war so verzweifelt wie noch nie in seinem Leben. Er wurde von entsetzlicher Angst geschüttelt. Schließlich glaubte er nicht mehr daran, daß sein großer Freund jemals wiederkommen würde.
Wie spät in der Nacht mochte es wohl sein? Und hatte er überhaupt erst eine Nacht hier gesessen? Nein, viele Nächte waren gewiß schon dahingegangen, oder viele Jahre. Vielleicht war er gar nicht mehr Ivar, sondern der Schwarze Mann, der nur in der Bergwand leben kann.
Zuletzt war ihm nicht mehr kalt. Aber nun nahm die Nacht eine rote Farbe an, die zu flimmern schien, und in der sich viele spukhafte Gestalten bewegten. Und er glaubte Mali zu erkennen, dann Gjertrud. Auch Jens und Gjermunn zogen vorüber und blickten ihn traurig an.
Plötzlich wachte er entsetzt auf. Die Birkenstämme, die als Brückensteg über den Fluß dienten, knarrten und ächzten, der harte Schnee knirschte. Ivar zitterte vor Angst, drückte sich in die Felsecke und jammerte laut.
„Hoiho!“
Was war das? Rief nicht jemand? Klang es nicht wie . . .
„Hoiho!“ *
Er sprang auf, fiel hin, weil die Füße ihn nicht tragen wollten, starrte auf die Oeffnung der Höhle. Und da sah er sie. Jens! Und hinter ihm eine Frau, die Gjertrud sehr ähnlich sah. Abei; es war nicht Gjertrud.
„Ivar!“
Es durchrieselte den Jungen heiß. Diese Stimme kannte er, obwohl er sie nie gehört hatte! Nun war sie endlich da, von der Jens immer wieder gesprochen hatte. Seine Gestalt ragte hinter ihr auf, riesengroß wie ein Schutzgeist, der die ganze Oeffnung der Höhre auszufüllen schien.
Aber Ivar sah, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Und nun schluchzte er selbst auf. Weiche Arme umfingen ihn. Und zum erstenmal hörte Ingeborg dies eine wort, nach dem sie sich so lange vergeblich gesehnt hatte:
„Mutter ... 1“
ENDE
KLOSTER LORCH
Das liebliche Städtchen Lorch im Remstal hat ein ehrwürdiges Kloster. Von einer Anhöhe über der Stadt schaut dieses Baudenkmal aus der Hohenstaufenzeit heran- Strenge Harmonie zeichnet die großartig gegliederten Innenräume aus.Foto:LW Wurti.