(12. Fortsetzung)

Melchert holte Atem und erzählte weiter:

Sie können sich vorstellen, wie erschüttert ich war. Immerhin beherrschte ich mich und sagte dem Menschen, er möge ins Haus hinaufkommen und oben Sibylle, Fräulein Bernius, erwarten. Er weigerte sich aber. Daraufhin ersuchte ich ihn, das Grundstück zu verlassen, erklärte ihm gleichzeitig, daß ich kein Wort von dem, was er mir erzählt habe, glaube. Nun wurde der Mann unver­schämt, ausfällig und begann in einer nicht wiederzugebenden Art und Weise Fräulein Bernius herabzusetzen.

Das war mir zuviel. Ich wollte ihn am Kragen nehmen, statt dessen sprang er auf mich los. Ich stieß ihn gegen die Brust, dabei muß er über irgendeinen Gegenstand gestol­pert sein, jedenfalls fiel er rückwärts zu Boden und rührte sich nicht mehr. Als ich mich über ihn beugte, sah ich, daß er besin­nungslos war. Er mußte im Fallen den Hinter­kopf an der Mauer aufgeschlagen haben. Sie können sich denken, wie erschrocken ich war. Da ich vdfn Haus niemand holen wollte, lief ich zum Steg und feuchtete am Wasser mein Taschentuch an.

Als ich zurückkam, war der Mann ver­schwunden. Ich rief nach ihm, suchte den Garten ab, fand ihn aber nicht mehr. Schließ­lich gab ich das Suchen auf, da ich annahm, daß der Mann in meiner Abwesenheit zu sich gekommen-war und es unter den gegebenen Umständen vorgezogen hatte, auszurücken. Wenn er später als Leiche aus dem See ge­borgen wurde, habe ich jedenfalls bestimmt nichts damit zu tun . . . schloß Melchert bitter.

Eyrich sprach zunächst nichts. Daß Melchert den Mord bestritt, überraschte ihn nicht. Das hätte jeder in seiner Lage getan. Trotz aller Skepsis mußte Eyrich zugeben, daß dessen Schilderung des Herganges durchaus glaub­haft klang. Vor allem deckten sich seine An­gaben bis zu einem gewissen Punkt genau mit denen Nuschecks.

War Melchert der Mörder? Einen Anlaß, Nimitsch zu töten, besaß er in ausreichendem Maße. Und daß er diesen Mann, nach dessen zynischen Erklärungen tödlich gehaßt hatte, war nicht verwunderlich. Das bewies schon sein Angriff. Ueberhaupt war menschlich ge­sehen, seine Handlungsweise zu verstehen.

Die meisten Männer hätten gleich oder ähnlich gehandelt. Es mußte schon ein fürch­terlicher Schock für Melchert gewesen sein, als er erfuhr, daß Fräulein Bernius mit diesem Mann verheiratet war und sich mit ihm verabredet hatte . . .

Warum? Wollte sie ihm zur Flucht verhel­fen? Hatte dieses Fräulein Bernius nicht auch ein großes Interesse daran, daß Nimitsch ver­schwand, für immer verschwand? Sollte sie? Nein ... In Eyrich wehrte sich alles gegen diesen Verdacht. Sibylle Bernius oder Frau Sibylle Nimitsch, wie sie eigentlich hieß, konnte er sich beim besten Willen nicht als Mörderin vorstellen, zum mindesten nicht auf diese Art. Abgesehen davon, verfügte sie kaum über die erforderlichen Kräfte, den besinnungslosen Mann in das Boot zu tragen.

Melchert dagegen war groß, körperlich rüstig. Dazu sein blindwütiger Haß, der brennende Wunsch, daß niemand etwas von der Sache erfuhr. Außerdem war durch nichts bewiesen, ob Nimitsch nicht bereits durch den Aufprall an der Mauer getötet worden war.

Halt, Fehlschuß, korrigierte Eyrich sich selbst. Die Sektion hatte ja ergeben, daß Nimitsch ertrunken war. Sein Tod trat erst im Wasser ein.

Melchert, Sibylle Bernius oder dieser Neffe? Bei ihm kam es darauf an, wo er sich in der fraglichen Zeit aufgehalten hatte.

Auch Nuscheck konnte der Täter sein. Er war am Tatort und haßte Nimitsch. Eyrich traute ihm zwar den Mord nicht zu. Wenn er sich aber hatte hinreißen lassen? Es stand ja auch keineswegs fest, ob er, wie er be­hauptete, allein gewesen war. Die Sache mit den Komplicen war bisher ungeklärt.

Ich muß Nuscheck mit Melchert konfrontie­ren. Außerdem muß Fräulein Bernius einge­hend vernommen werden. Ob Frankfurt schon geantwortet hat? Er sprang schnell auf und sagte zu Melchert:

Einen Augenblick, ich bin sofort wieder zurück.

Ist noch keine Nachricht aus Frankfurt eingegangen?' erkundigte er sich bei dem im Nebenzimmer arbeitenden Beamten.

Doch, Herr Kommissar. Ich habe sie hier.. ich. wollte Sie nur nicht stören."

Geben Sie her, sagte Eyrich und fügte hinzu:Rufen Sie Meersburg an und ver­suchen Sie, Redmer zu erreichen. Ich möchte ihn sprechen . . .

Während der Beamte sich um die Verbin­dung bemühte, trat Eyrich zum Fenster und las die Frankfurter Antwort. Schon bei den ersten Zeilen pfiff er vielsagend vor sich hin.

.Inhaber der Tauschzentrale bisher Bankin, Fritz, geboren 18702, Berlin-Pankow. B. soll, dem Vernehmen nach, das Geschäft ab­gegeben haben. Wie ermittelt wurde, ist B. wegen schweren Raubes und Bandenver­brechen zur Sicherheitsverwahrung und Ein­weisung in ein Lager verurteilt worden, kam 1945 frei. Da Verdacht bestand, daß das Geschäft Tarnung für Schwarzhandels- und Schmuggelwaren-Verteilung war, sollte es geschlossen und gegen B. gerichtlich vorge­gangen werden. Seither ist B. flüchtig. Es wird vermutet, daß er sich in das Bodensee­gebiet begeben hat. Bei etwaigem Auf­tauchen, Festnahme und Benachrichtigung. Vorsicht! B. ist als gewalttätig bekannt, soll Schußwaffe führen . . .*

Donnerwetter", murmelte Eyrich über­rascht.Das ist also Nuschecks harmloser Freund. Er ließ die Hand sinken und dachte: Vermutlich war er es auch, mit dem Redmer in Nuschecks Zimmer das Intermezzo hatte, und der ihm leider entkommen ist. Jeden­falls muß ich den Jungen warnen . . .

Kollege Redmer ist nicht anwesend. Er wäre dagewesen, sei aber wieder weg, rief der Beamte Eyrich zu.

Warten Sie. ich spreche selbst . . . ent- gegnete Eyrich und ließ sich den Hörer geben Ja, hier Kommissar Eyrich. Redmer ist nicht mehr da? Bitte, verständigen Sie ihn, er möchte Fräulein Bernius aufsuchen und dafür

SUCHT IHREN WEG

ALFONS ZECH

ROMAN

Sorge tragen, daß sie unbedingt im Verlaufe des Tages hierherkommt. Es genügt, wenn er sie zur Fähre begleitet. Und dann benach­richtigen Sie alle bei der Fahndungsaktion eingesetzten Beamten, daß größte Vorsicht bei der Festnahme geboten sei, da der Mann Schußwaffe trägt und unter Umständen auch Gebrauch von ihr macht. Danke! Redmer soll mich später anrufen . . .

13.

Kurz nach 12 Uhr kam das Telegramm, mit dem Jakob Melchert seine Ankunft in Kon­stanz ankündigte, in Sibylle Bernius Hände. Es war nur als Brieftelegramm bestellt worden.

Trotzdem der Zeitpunkt ihres Treffens um drei Stunden überschritten war, gab es für Sibylle kein Ueberlegen. Melchert hatte in dem Telegramm erwähnt, daß er die Krimi­nalpolizei aufsuchen würde. Dann fand sie ihn eben dort, aber finden mußte sie ihn...

Zehn Minuten später saß sie in ihrem Wagen und jagte Meersburg entgegen. Als sie vom Haus her in die Chaussee einbog, überholte sie ein Motorradfahrer, der die ganze Zeit vor ihr herfuhr. Statt seine bis­herige Geschwindigkeit beizubehalten, wurde er allmählich langsamer. Sibylle gab Signal, um an ihm vorbeizukommen. Aber er rückte nicht einen Meter zur Seite, blieb ständig in der Straßenmitte. In einer Kurve stoppte er plötzlich, kippte mit dem Rad seitwärts, und Sibylle mußte scharf bremsen, sonst wäre sie auf ihn aufgefahren. Während sie noch schwankte, ob sie versuchen sollte, rechts an ihm vorbeizukommen, wurde die Seitentür aufgerissen, und ein Mann sprang in den Wagen. Bevor Sibylle auch nur ein Wort über die Lippen brachte, rief er ihr zu:

Los, fahren Sie weiter! Nach der Kurve.. in den Feldweg rein! Aber machen Sie keine Zicken, sonst knallt.s!

Empört wollte Sibylle widersprechen, da entdeckte sie in seiner Hand eine Pistole. Zu Tode erschrocken starrte sie in das aufge­schwemmte Gesicht des Unbekannten, der, als sie noch zögerte, barsch hervorstieß:

Auf was warten Sie, fahren Sie endlich! Los . . .

Sibylles Hand zitterte, als sie schaltete. Sie gab Gas. Mit einem Sprung schoß der Wagen nach vom. Der Mann fluchte wütend, als er bei dem plötzlichen Ruck fast gegen die Scheibe flog und fuhr sie an:

Zum Teufel, nicht so verrückt!

Sibylle mäßigte das Tempo.Aber für einen Augenblick war sie versucht, die Geschwin­digkeit bis zum äußersten zu steigern und bis Meersburg durchzufahren, gleichgültig was ihr geschah.

Doch da klang es schon neben ihr:

Biegen Sie hier ein . . ."

Sibylle gehorchte wortlos. Die erste Zeit ging es den gewundenen Feldweg entlang. Hinter ihnen wurde das Knattern eines Motorrades hörbar. Sibylle bemerkte im Rückspiegel, daß der Motorradfahrer ihnen in größerem Abstand folgte.

Also eine Falle, dachte sie. Aber woher hatten diese Männer gewußt, daß sie nach Konstanz wollte, sann sie beunruhigt.

Unweit vor ihnen tauchte ein Waldstück auf. Minuten später glitt der Wagen zwischen den hochstämmigen Tannen dahin. Bei einer Schneise wies ihr Begleiter nach links und sagte:

Fahren Sie rein und halten Sie!

Als der Wagen sitand, stieg der Mann aus. Von der Tür her rief er Sibylle zu:

Ich warne Sie! Keine Dummheiten! Wenn Sie vernünftig sind, geschieht Ihnen nichts ..

Sibylle gab ihm keine Antwort, tat, als wäre er für sie Luft. Schimpfend knallte er die Wagentür zu und schritt, wie Sibylle im Rückspiegel sah, zu dem Motorradfahrer, der oben auf der Straße wartete. Sie beob­achtete. wie sich die beiden unterhielten. Nach einer Weile überließ der Motorrad­fahrer dem anderen die Maschine und kam auf ihren Wagen zu.

Sibylle war überrascht, als sie den Mann betrachtete. Er war schlank, hatte ein röt­liches Gesicht, kurzgeschnittenes Blondhaar, trug eine Amihose, khakiförmiges Sport­hemd, und blaues Jackett und wirkte sauber, ja fast gepflegt. Nie würde man in ihm einen Verbrecher vermutet haben. Und dabei war er der Komplice des bösartigen Teufels, der ihr so brutal zugesetzt hatte . . .

Als Horst Wirrum die Wagentür öffnete, fragte Sibylle abweisend:

Was wollen Sie?

Seien Sie vernünftig, Fräulein, und spie­len Sie sichjetzt nicht auf . . . sagte Wir­rum ruhig.Wahrscheinlich sind Sie mächtig erschrocken, als Ihnen gleich mit dem Schieß­eisen gedroht wurde. Aber es wird ja nicht weiter schlimm . . .

Danke, versetzte Sibylle zornig.

Wirrum fuhr fort:

Sie haben von einem gewissen Nimitsch ein Paket erhalten . . .

Was kümmert Sie das? unterbrach Sibylle ihn schroff.

Für einen Augenblick erschien um Wirrums Mund der Anflug eines Lächelns, der aber sofort wieder verschwand, indes sich sein Gesicht verschattete.

Es gehört uns, erklärte er kurz.Ich nehme an. daß Sie keine Scherereien haben wollen und schlage Ihnen deshalb vor, daß Sie mit mir zu Ihnen nach Hause fahren und mir das Paket übergeben. Damit ist die ganze Geschichte erledigt. Ihnen wird kein

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Haar gekrümmt, und wenn Sie klug sind, vergessen Sie die Sache so schnell wie mög­lich . . .

Und wenn ich mich weigere? fragte Sibylle ihn spöttisch.

Wirrum schüttelte nur den Kopf. Aber in seinen Augen war etwas, das Sibylle zur Vorsicht mahnte. Sie fühlte, daß es gefährlich war, den Mann weiter zu reizen. Wirrums Stimme klang kühl, als er sagte: Wenn ich Ihnen raten darf, tun Sie das nicht. Fahren Sie lieber schnell mit mir zu Ihnen, geben Sie mir das Paket, dann haben Sie uns los.

Und ich mache mich strafbar. Bela Nimitsch wurde ermordet. Wenn die Polizei von dem Paket erfährt . . .

Die erfährt davon nichts, unterbrach Wirrum sie ungeduldig. Er trat einen halben Schritt zurück und erklärte in einem Ton. der jeden Widerspruch ausschloß:Sie müssen sich jetzt entscheiden, so . . . oder so!

Sibylle blickte ihn unschlüssig an. Alles in ihr empörte sich gegen diese ultimative Forderung. Ihr lag nichts an dem Paket, aber sie ärgerte sich, daß man sie zu etwas zwingen wollte, das sie nicht in Ordnung fand.

Nun? drängte Wirrum unfreundlich Sibylle zuckte die Schultern, dann sagte sie:

Bitte, steigen Sie ein . . . und ließ den Motor an. Als Wirrum sich neben sie setzte, murmelte sie, ohne ihn anzusehen:Daß ein Mann wie Sie' sich in einer solchen Gesell­schaft . . .

Schweigen Sie! herrschte er sie heftig an, um gleich darauf ruhiger fortzufahren: Entschuldigen Sie, aber davon verstehen Sie nichts.

Sybille gab keine Antwort. Sie fuhr den Wagen im Rückwärtsgang zur Straße, schal­tete und schlug die Richtung ein, aus der sie gekommen waren. Es dauerte nicht lange, da vernahm sie auch schon wieder das Knattern des ihnen folgenden Motorrades.

Einmal in der Ferne erschien bereits das helle Band der Chaussee und dahinter leuchtete das strahlende Blau des Sees sagte Wirrum, wie im Selbstgespräch, spöttisch:

Gesellschaft? Wer fragt heute noch danach? Es ist ja alles Jacke wie Hose. Plötzlich wandte er sich Sibylle zu und rief erbittert:Wahrscheinlich hat Sie der Krieg und die Nachkriegszeit verschont. Ihnen ist eben alles geblieben . . .

Sibylles Blick hing an seinen roten, verschafften Händen, die sich in der Erregung zu Fäusten ballten. Unvermittelt, über ihre eigene Kühnheit fast erschrocken, entfuhr es ihr:

Sie haben Bela Nimitsch getötet?

Bei ihren Worten zuckte Wirrum zusam­men. Sie sah, wie seine Wangen sich dunkel färbten, dann stieß er brüsk hervor:

Was geht Sie das an?

Ich war seine Frau.

Sie . . . seine Frau? murmelte Wirrum imgläubig.

Sibylle nickte wortlos.

Ich war damals sehr jung als ich ihn heiratete und ahnte nichts von seinem wahren Charakter. Erst später zeigte es sich, wie böse er war.

Und trotzdem bedauern Sie, daß man ihn umgelegt hat?

Es war Mord! Niemand hat das Recht, einen anderen zu töten . . .

Wunderbar, Sie hätten Predigerin werden müssen, erwiderte Wirrum spöttisch.Dann bin ich also ein Mörder . . . Schön! Aber vielleicht irren Sie sich auch. Gewiß, wir hatten Gründe genug, diese Kreatur zu vernichten, er versuchte mit dem, was uns allen gehörte, zu flüchten, wollte kurzerhand in die Schweiz, hätte uns einfach im Stich gelassen . . . Aber meinen Sie nicht, daß es auch noch andere Leute gab, denen er im Wege stand?

Sibylle blickte ihn bestürzt an.

Was wollen Sie damit sagen? rief sie erschrocken.

Nichts", versetzte Wirrum kurz.Passen Sie auf. wir sind gleich bei Ihrem Haus. Seien Sie jetzt vernünftig und keine Dumm­heiten . .

Während Sibylle abbog und aufs Haus Zu­fuhr, jagten in ihrem Kopf die schlimmsten Gedanken. Sollte Jakob Melchert wirklich Ni­mitsch getötet haben? Oder war Ulrich da­zwischengekommen?

Sie ließ den Wagen vor dem Haus stehen, doch Wirrum erklärte:

Bitte, drehen Sie den Wagen so, daß er zur Chaussee hinsieht. Bei einer unliebsamen Ueberraschung muß ich die Möglichkeit haben, schnell wegzukommen . .

So ängstlich auf einmal? fragte Sibylle ironisch.

Der Blick, der sie aus Wirrums Augen traf, war eisig.

Ich halte nicht viel von Frauen, versetzte er kurz.Geben Sie mir den Zündschlüssel Besser, wenn der Motor läuft . . .

Noch während er am Steuer saß und star­tete, erschien an der Keuzung oben der Motor­radfahrer, stoppte, blickte zu ihnen herunter, blieb auf der im Leerlauf stehenden Maschine sitzen und wartete.

Sybille ging mit Wirrum ins Haus. In dei Diele sagte sie zu ihm:

Einen Augenblick, ich hole nur schnell das Paket . , ,

Ich möchte dabei sein . . ., erklärte Wir­rum.Denn Vorsicht ..." Er sprach nicht weiter, da Frau Brinckmann in der Diele auf­tauchte, die bei Sibylles Anblick überrascht ausrief:

Fräulein Sibylle, Sie? Ich dachte, Sie wären bereits in Konstanz.

Das noch nicht, aber ich war schon an der Fähre, als mir einfiel, daß ich etwas vergessen habe, setzte Sibylle ihr hastig auseinander und lief zur Treppe.

Als Frau Brinckmann sah, daß Sibylle ihr den Begleiter nicht vorstellen wollte, streifte sie den ihr halb den Rücken zudrehenden Men­schen flüchtig und kehrte wieder in die Küche zurück. Dabei überlegte sie, wo sie den Mann gesehen hatte. Irgendwie war er ihr bekannt.

Unterdessen wartete Wirrum mit steigender Ungeduld auf Sibylles Rückkehr. Er horchte angespannt auf jedes Geräusch im Haus. Ob das Mädel die Polizei alarmierte? Wäre dumm von ihr. Schonung gab es dann keine mehr. Bis die Polizei hier sein konnte, waren sie längst über alle Berge.

Da erschien Sibylle oben an der Treppe. Wirrum atmete auf. Es hätte ihm leid getan, wenn er gegen das Mädel mit Gewalt hätte Vorgehen müssen.

So, hier haben Sie das Paket . . ., sagte Sibylle und übergab ihm den Packen.

Danke, brummte Wirrum kurz. Gemein­sam verließen sie das Haus, standen noch vor dem Wagen, und Wirrum sagte eben zu Si­bylle:Ich wünsche Ihnen viel Glück . . ., da erklang von oben ein warnender Ruf, und Sekunden später zerriß die Detonation eines Schusses die friedliche Stille der Landschaft.

Wirrums Sibylle zugewandter Kopf flog blitzschnell herum. Da fielen kurz hinterein­ander noch zwei Schüsse. Er hörte, daß Ban­kin ihm etwas zurief, das er aber nicht mehr verstand: dann erfüllte das Knattern der auf Hochtouren kommenden Maschine die Luft und Wirrum sah, wie Bankin auf seinem Rad in einem Höllentempo in Richtung Hag­nau verschwand.

Ehe die schreckerstarrte Sibylle an ein Sich-Wehren denken konnte, hatte Wirrum sie in den Wagen gestoßen, die Tür zuge­knallt, war mit zwei Sprüngen um den Wagen, saß am Steuer, schaltete, gab Gas und raste mit dem Wagen zur Chaussee hinauf, riß das Steuer herum, ging in die Kurve und jagte dem Komplicen nach.

Als Stefan Redmer in der Mittagsstunde zum Polizeiposten in Meersburg gekommen war und dort von Eyrichs Auftrag erfuhr, Sybille Bernius aufzusuchen, um sie zur Fahrt nach Konstanz zu veranlassen, hob sich seine gedrückte Stimmung.

Es ärgerte ihn, daß der Mahn bisher nicht gefaßt werden konnte, obwohl alle Straßen überwacht waren. Redmer hatte zwar sein Möglichstes getan, leider ohne Erfolg.

Inzwischen hatte er herausbekommen, wie jener die Flucht aus Konstanz bewerk­stelligt hatte. Bankin hatte weder die Radolfzeller noch die Staader Chaussee benutzt, sondern war am Ufer des Ueber- lingersees entlanggefahren und hatte sich unter dem Vorwand, ihm sei der Brennstoff für sein Motorrad ausgegangen, von einem Fischer nach Unteruhldingen übersetzen lassen und war also schon drüben, ehe die Absperrung vorgenommen wurde.

Wenn Sie erlauben, fahre ich mit der NSU zu Fräulein Bernius . . ., wandte sich Redmer an seinen Kollegen Fiedler.

Mir isch's recht. Ich bleib hier, hab so­wieso Hunger, versetzte der ältere Beamte gemütlich.Fahren Sie aber vorsichtig . . rief er Redmer nach. Doch dieser war bereits aus der Tür und saß auf der Maschine.

Redmer fuhr in mäßigem Tempo die Straße empor, an den Weinbergen entlang und stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn er eine eigene Maschine besäße, mit der er im Sommer und nach Dienstschluß und an den freien Sonntagen Ausflüge machen könnte. Allein würde er bestimmt nicht fahren. Während er mit einem Gefühl der Dankbarkeit Liselottes gedachte, tauchte rechts dem See zu das Melchertsche Haus auf. Hundert Meter weiter vorn erblickte er auch schon die Kreuzung, an der er abbiegen mußte.

Redmer bemerkte wohl den Motorrad­fahrer, der dort wartete, schenkte ihm aber keine Beachtung, bis ihn ein lauter Ruf auf­schreckte. Was er dann sah, nämlich den ihm nur allzugut bekannten Mann und die auf ihn angeschlagene Pistole in dessen Hand, bewirkte, daß er blitzschnell und mit aller Gewalt bremste, mit dem Erfolg, daß sein Rad fast ruckartig zum Stehen kam, er aber fast aus dem Sitz flog. Es war sein Glück. Im gleichen Augenblick krachte ein Schuß, und Redmer vernahm noch das bös­artige Pfeifen der haarscharf über ihn weg­ziehenden Kugel.

Geistesgegenwärtig ließ sich Redmer ein­fach zur Seite kippen, wobei er ziemlich unsanft auf der Erde landete. Aber bevor er den schützenden Straßengraben erreichte, knallte es kurz hintereinander zweimal. Redmer verspürte einen leichten Schlag an der linken Hüfte, dem gleich darauf ein brennender Schmerz folgte. Als er mit der Hand nachfühlte, zog er sie blutig zurück. Er versuchte das Bein zu bewegen, es ging.

Unterdessen mußte er Zusehen, wie Bankin die Maschine auf Touren jagte, irgend jemand noch etwas zurief und dann davon­fuhr.

Er erhob sich taumelnd. Der brennende, stechende Schmerz knapp unter dem Hüft­knochen blieb, aber er war zu ertragen. Schlimm konnte die Verletzung nicht sein, dachte er .ingrimmig. Seine Wut war größer. Er begann die Maschine aufzurichten, bereits entschlossen, Bankin zu folgen. Plötzlich hob er den Kopf. Aus der Richtung des Melchert- schen Hauses klang das Anfahren eines Wagens. Redmer humpelte auf die Kreuzung zu und konnte gerade noch beobachten, wie der Wagen aus der Seitenstraße schoß, in einem Höllentempo die Kurve nahm und dem Motorradfahrer nachjagte.