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140 Gegründet 1827

Montag, den 20. Juni 1927 Fernsprecher Nr. M 101. Jahrgang

Ar MeMdsra! MG Danzigs Klage

Genf, 19. Juni. Zu Beginn der heutigen letzten Rats­sitzung sprach der Vorsitzende Chamberlain heute dem aus­scheidenden japanischen Ratsmitgiied Gras Ishii den Dank des Rats für seine st^jährige wertvolle Mitarbeit in war­men Worten aus. Ishii, selbst das älteste Mitglied des Rats, würdigte bei seinem Dank die Tätigkeit und das Friedens­werk des Völkerbunds, in das er auch die Verträge von Locarno mit einbezog. Die Fragen des armenischen Sied­lungswerks, des bulgarischen Flüchtlingswerks und der grie­chischen Flüchtlingsanleihe verfielen der Vertagung, ebenso der finnische Antrag auf finanzielle Unterstützung von kleinen Staaten im Falle ihrer Bedrohung durch nicht provozierten Angriff. Dagegen wurde auf Antrag des Finanzkomitees in der Frage der Doppelbesteuerung und der Steuerflucht be­schlossen, de-n Bericht des Sonderausschusses den Regierungen zuzuleiten und sie zu der im nächsten Jahr einzuberufenden Konferenz von Regierungssachoerständigen zu dieser Frage einzuladen. Vandervelde überreichte eine Erklärung, worin er die Einberufung einer Pressekonferenz des Völkerbunds und die vorbereitende Arbeit hierfür begrüßt und die An­regung an die Bundesmitglieder vermittelt wissen will, die Leiter der staatlichen Pressebüros mit beratender Stimme an der Konferenz teilnehmen zu lassen.

Im Verlauf der fast zweistündigen Debatte zu dem Ver­tagungsantrag in der Frage der polnischen Munitionslager auf der Danziger Westerplatte kam es stellenweise zu einem recht lebhaften Redewechsel, so, als Chamberlain die vor­bereitenden Darlegungen des Präsidenten Sahm dadurch abzuwehren versuchte, daß er bei Beginn der Erörterungen die Unterbrechung jedes Redners ankündigte, der Ausfüh-

Chamberlain

London, 19. Juni. Reuters Genfer Korrespondent hatte mit Chamberlain eine Unterredung, in deren Verlauf Chamberlain auf die Frage, wie die Genfer Besprechungen auf den GeistvonLocarno gewirkt hätten, u. a. sagte: Immer seit Locarno ist es mir und Stresemann mög­lich gewesen, miteinander offen und freimütig als Freunde zu sprechen, die möglicherweise verschiedener Meinung in besonderen Fragen sind, die einander aber rückhaltlos sagen können, was sie denken. Was ich eben über Stresemann und mich gesagt habe, das gilt, wie ich fest glaube, auch von Briand und Stresemann und allen anderen, die in Locarno zusammentrafen. Kein zum Urteil Berechtig^! wird seine Ansicht bestreiten, daß seit Locarno die Frei­mütigkeit im Verkehr ungeheuer zugenommen hat. Keiner von uns zögert, sich den anderen voll mitzuteilen. Chamber­lain erklärte weiter, der Locarnogeist sei in Gens erheblich gestärkt worden. Seine nüchterne Erfahrung erlaube ihm, mit den erzielten Fortschritten zufrieden zu sein. Neu« Ver­pflichtungen seien von niemand eingegangen, aber, nach­dem man sich ausgesprochen und ein besseres Verständnis für den gegenseitigen Standpunkt erhalten habe, dürfe man überzeugt sein, auf dem Wege zur Lösung der Schwierig­keiten fortgeschritten zu sein. Chamberlain schloß: Es ist sehr schwierig, die öffentliche Meinung zufriedenzuftellen, denn wenn wir in Genf Vereinbarungen treffen, beschuldi­gen uns alle unsere Kritiker, die Interessen unserer Nation der allgemeinen Atmosphäre in Genf zum Opfer gebracht zu haben. Wenn wir mitteilen, daß keine Beschlüsse er­reicht wurden, sagen unsere Kritiker: Warum seid ihr dann überhaupt nach Genf gegangen?

rungen zu der Materie selbst machen werde, anstatt stch ouß die Stellungnahme zu dem Vertagungsantrag zu ken. Durch Eingreifen Dr. Stresemanns, der es ots nnstaMH bezeichnete, die Anhörung von Gründen aus dem eige»t^ lichen Beratungsgebiete abzulehnen, ohne die in jedem Rot keine Argumente für oder gegen die Vertagung vorgetwacht werden können, wurde diese Schmierigkeit beigeleA. G» gelang denn auch Dr. Sahm, seine wesentlichen Gestchtspmckte im Rahmen der zugelassenen Aussprache ovrzubringen, wäh­rend der polnische Minister Straßburger in seiner Er­widerung unterbrochen wurde, die übrigens gegen die Ver­tagung für alsbaldige endgültige Erledigung der Frage lau» tek. Die ziemlich umfangreichen technischen Erörterungen des Völkerbundskommissars v. Hamel beendeten die Aus­einandersetzung im Sinne der Vertagung, ohne Rücksicht auß die Danziger Wünsche, die aber durch den Verlauf -leiser Verhandlungen, ebenso wie die von Stresemann geäußerten» dem ProtokM einverleibt wurden, um damit einer Priisttz- dizierung der demnächstigen Entscheidung oder Schaffung eines Status quo in dieser Frage vorzubeugen.

Danzig fordert Räumung der Westerplatte Danzig» 19. Juni. Der Danziger Volkstag nahm bei der Verabschiedung des Staatshaushaltes die von den Re­gierungsparteien eingebrachte Entschließung an, nach der der Senat alles tun soll, damit die polnischen Munitions- entladungen im Danziger Hafengebiet aushören. Sozial­demokraten und Kommunisten lehnten die Entschließung ab. (!)

Ist zufrieden

Enttäuschung in Entstand *

London, 19. Juni. In den abschließenden Betrachtungen der englischen Presse über die Ergebnisse der Genfer Tagung, insbesondere die Ministerbesprechungen kommt durchweg Unzufriedenheit und Enttäuschung zum Ausdruck. Der Be­richterstatter der Times sagt, die allgemeine Auffassung gehe dahin, daß die jetzt geschlossene Tagung in Völkerbunds­kreisen hinsichtlich ihrer Ergebnisse am schlechtesten von allen bisherigen Tagungen beurteilt werde. Praktische Erfolge seien kaum erzielt worden, so insbesondere nicht in dem Streit über das polnische Munitionslager in Danzig und an­deren Fragen, von denen der Friede Europas in hohem Grade abhänge. Dagegen sei ein bemerkenswerter Forffchriü in der Frage der Abrüstung erreicht worden, insofern oh. der Völkerbundsrat nunmehr zu der Ueberzeugung gelangt sei, daß die deutsche Abrüstung nicht länger mehr eine An­gelegenheit der Botschafterkonferenz sein könne. Der diplo­matische Berichterstatter desDaily Telegraph" bezeichnet die letzte Völkerbundsratstagung gleichfalls als einen Feh ^ schlag. Auch in den privaten Besprechungen der Außen­minister seien greifbare Ergebnisse nicht erreicht worden. Dabei fei wenigstens eine teilweise Erledigung der Meinungs­verschiedenheiten zwischen Deutschland und Verbündeten i« gegenwärtigen Augenblick dringend erforderlich zur Herstel­lung einer solidarischen Front gegen den Bolschewismus. Wie verlaute, habe die deutsche Regierung es als ihre Pflicht bezeichnet, Moskau über die Fortschritte in Genf zu unterrichten. Das zeige, wie weit der deutsch-russische Ver­trag gehe und welche Gefahr er für Genf und Europa i« sich berge. Eine solche Lage sei nicht nurparadox", sondern unerträglich, und es sei Zeit, daß ein Einspruch hiergegen eingelegt werde.

TageSsPiegel

Am Montag wird der Reichsaußerrmiriister dem siabineki über die Genfer Tagung berichten.

Chamberlain und Dr. Stresemann habe« am Samstag »och eine Besprechung gehabt.

Litauen seht seine Gewaltpolitik in Memel trotz seiner Genfer Erklärung fort.

Ein deutscher Erfolg in Genf

Denn als solchen darf man die Regelung der Memeler Beschwerde ansprechen. Wenn Deutschland sich ihrer nicht angenommen, wenn unsere Regierung dem Äerschleppungs- versuch der Litauer nicht energisch widersetzt und wenn Dr. Stresemann mit Woldemaras nicht persönlich Fühlung genommen und wohl bei diesem Anlaß ordentlich ins Ge­wissen gesprochen hätte, so wäre wohl auch diese Beschwerde, wie so manche ihrer Vorgängerinnen, in den großen Welt­papierkorb in Genf gewandert oder wenigstesbis auf weiteres zurückgestellt" worden. Allerdings war diesmal die Rechtslage so sonnenklar, daß kein noch so geriebener Advokat ihre Verdrehung fertig gebracht hätte. Denn Artikel 1 des Memel st atuts vom 8. Mai 1924 besagt klipp und klar: Das Memelgebiet bildet unter der Souveränität Litauens eine Einheit, die in Gesetzgebung, Recht­sprechung, Verwaltung und Finanzen inner­halb der Schranken des Statuts Autonomie genießt."

Und nun gegen dieses Recht hat Kowno gröblichste Ver­stöße sich gestattet. Nicht weniger als 8 Punkte enthält die von führenden Persönlichkeiten des Deutschtums Unterzeichnete Beschwerde vom Mai d. I. an den Völkerbundsrat, der nach Artikel 17 der Memelkonvention für Streitigkeiten aus diesem Abkommen zuständig ist. Sie sollen nun nach der feierlichen Erklärung des litauischen Ministerpräsrdeten vom letzten Dienstag in der Hauptsache abbestellt werden. Wir sagen absichtlichin der Hauptsache". Denn Woldemaras versprach zuächst nur baldige Ansetzung der Neu­wahlen (gegen September"), Anpassung des Wahlrechts an die Bestimmungen des Statuts und demokratisch-parla­mentarische Umgestaltung des Direktoriums. Mit anderen Worten: der litauische Gouverneur wird das fünfgliedrige Direktorium, das die Landesregierung in Memel vertritt, nach den Vorschlägen des Landtags .zusammensetzen. Im übrigen versprach er die verfassungsmäßige Autonomie des Memellandes zu respektieren. Dagegen schwieg er sich über die anderen Beschwerdepunkte (finanzielle Autonomie, Zu­sammensetzung der Lehrerschaft, Verletzung der Justiz­autonomie, Absetzung eines deutschen Landgerichtsdirektors und Ausweisung von deutschen Beamten) wohlweislich aus.

Somit haben wir auch in diesem Fall ein Kompro­miß, nicht eine glatte Erfüllung und Abstellung aller Beschwerden. Dieses Krompromiß hat insofern einen Vor­zug, als es nicht in langwierigen und geheimen Kommissions­sitzungen mühsam .zusammengebraut worden war, sondern daß die Erklärung sofort in öffentlicher Sitzung abgegeben wurde. Ob das Versprechen nun auch alsbald und voll­gültig emgelöst wird, ist allerdings eine Frage für sich. Die Litauer sollen nämlick in dieser Tugend nicht so besonders stark sein. Auch kann Woldemaras morgen durch ein anderes Kabinett obgelöst werden. Was dann?

Also, einen Erfola hat die deutsche Politik in Genf nun doch davongetragen. Manche fürchten, daß es dabei bleiben werde. Wir haben ja noch ganz andere und viel dringendere Wünsche und Sorgen aus dem Herzen. Cs seien hier nur die beiden wichtigsten genannt: die Kontrollfragewegen der Ost fest ungen und die Herabsetzung der Besatzungs stärke. Die erstere kann vielleicht noch da- durch erledigt werden, daß statt einer Entente-Kommission ein neutraler Offizier die Nachprüfung über die Zerstörung der 34 Detonunterstände vornebmen soll. Die andere Frage, mit der der ganze Sinn von Locarno und der Artikel 431 zu­sammenhängt, sollauf diplomatischem Wege" weiterver- handelt werden. Brian- ist erkrankt und abqereist. Strese- monn kommt bald zurück, nicht mit ganz leeren Händen, ober viel bringt er von Gens nicht mit nach Hause. li.

Neuestes vom Tage

Reichskobinetk und Zolltarif

Berti«, 19. Juni. Das Reichskabinett befaßte sich in sei­ner gestrigen Sitzung zunächst mit den schwebenden Zoll­tariffragen. Das Kabinett steht in diesen Fragen auf dem Boden der Beschlüsse der Genfer Weltwirtschaftskonferenz. Es wird demgemäß unverzüglich der Reichswirtschaftsrat um Erstattung eines Gutachtens unter Zuziehung des handels­politischen Ausschusses des Reichstages über eine Revision des deutschen Zolltarifgesetzes zwecks Herabsetzung des Zoll­niveaus ersucht werden. Sodann sollen entsprechende Vor­schläge beschleunigt den gesetzgebenden Körperschaften zu­gehen. Die Beachtung der Grundsätze der Weltwirtschasts- konserenz schließt nicht aus, daß mit Rücksicht auf die Exi­stenz der bäuerlichen Betriebe und im Interesse der inneren Kolonisation einzelne landwirtschaftliche Zollsätze eine ge­wisse Erhöhung erfahren. Auf Grund dieser Erwägung hat dos Kabinett beschlossen, den gesetzgebenden Körperschaften

die Erhöhung des autonomen Kartoffelzolls auf eine Reichs­mark vom 1. Dezember 1927 ab, sowie die Streichung des Zwischenzolles für Schweinefleisch vorgeschlagen, so daß be­züglich des Schweinefleisches der Zollsatz des schwedischen Handelsvertrages von 32 Reichsmark praktisch Bedeutung erlangt. Bekanntlich hat außerdem das Kabinett schon früher die Erhöhung des autonomen Zucker,zolls auf 15 RM. unter erheblicher Herauffetzung der Zuckersteuer beschlossen. Alle übrigen Zollsätze, wie auch das zollfreie Kontingent für Ge­frierfleisch silll in der gegenwärtigen Höhe bestehen bleiben. Die ganze Regelung soll unbeschadet der den gesetzgebenden Körperschaften zu unterbreitenden Senkungsvorschlägen bis zum 31. Dezember 1928 gelten.

Reichskayong des Zentrums

Berlin, 19. Irmi. Am Montag, 4. Juli, ist der Reich S- parteiausschuß der Zentrumspariei zu einer Tagung nach Berlin in den Reichstag einberufen. Es handelt sich, der .Germania" zufolge, insbesondere um die Besprechung derjenigen gesetzgeberischen Fragen und Gegen­stände, die noch vor den Sommerferien des Reichstages zur Besprechung kommen sollen. Namentlich wird dabei die Beratung des Aeichsscholgesehes einer eingehenden Anssprache unterworfen werden.

Die PortogebührenerhShung vertagt

Berlin, 19. Juni. In dem Benvaltungsrat der Reichs­post wurde heute eine Entschließung des braunschweigischen Winiiterialdirektors Boden gegen 8 Stimmen angenommen,

in der der Reichspostminister ersucht wird, durch eine neue Vorlage die Frage der Gebühenerhöhung einer schleunigen Klärung zuzuführen. Damit ist vorläufig die Frage der Ge­bührenerhöhung auf unbestimmte Zeit vertagt.

Zwischen-Entfcheidnng über die Donauversickerung Leipzig, 19. Juni. In dem Rechtsstreit der beiden Länder Württemberg und Preußen gegen Baden in der Frag« der Donauversickerung fällte gestern der Staatsgerichts. Hof des Deutschen Reiches eine Zwischen-Entschei- d » ng. Wie der Vorsitzende, Reichsgerichtspräsident Dr. 6 i- mons ausführte, ist der Staaksgerichtshof nicht zu einer endgültigen Auffassung über den Tatbestand gekommen, hält vielmehr nach manchen Richtungen hin eine Beweisauf­nahme für unvermeidlich, soweit die beteiligten Länder sich nicht auf Grund von Grundlinien zu einer Verständigung bereit finden. Diese Richtlinien gibt der Skaatsgerichtshvf in Form einer Zwischen-Enffcheidung, die eine weitere Be­weisaufnahme offen läßt, ohne jedoch einen Beweisbeschluß selbst ergehen zu lassen. Die Zwischen-Enffcheidung besagt: das Land Baden ist verpflichtet, die Vermehrung der natürlichen Versinkung des Donauwassers rückgängig zu machen, die verursacht ist 1. durch das Stauwehr der Maschinenfabrik Immendingen, 2 durch die Sand- und Tiefbänke m dem Donaubett auf der Gemarkung Möh­ringen bis zum Wehr der früheren Stadtmühle in Möh­ringen. Zur Verbesserung des Donaubetkes durch Schaf­fung einer regelmäßigen Flußsohle kann Baden nicht ver- offichtet werden. Das Land Württemberg ist verpflichtet, die Verminderung der natürlichen