SILVESTER 1953
Ohne Mißtrauen ins Neue Jahr
Von unserem Stuttgarter Korrespondenten Edwin Ko nnerth
Wie es zum Gewerbe der Staatsmänner gehört, am Jahreswechsel die politische Vernunft zu beschwören, so wird es zur unausweichlichen Pflicht einer Zeitung, an diesem Tage eine Rückschau auf die vergangenen zwölf Monate zu halten.
Wir tun es, auf dem Gebiete der Landespolitik — diesmal ohne die sonst beklemmende Frage: Was können wir dem Leser sagen? Denn das verflossene Jahr hat eine Fülle von Ereignissen aufzuweisen, die für den neuen Staat Baden-Württemberg entscheidend waren. Wir wollen uns aber nicht lange mit Einzelheiten aufhalten; erst ihre Summe macht die Entwicklung sichtbar. Und auf sie allein kommt es an.
Die Ansätze reichen noch in das Jahr 1952 zurück, als mit der Gründung des Südweststaates eine Regierungskoalition geschaffen wurde, die sich, weil die größte Partei ausgeschlossen blieb, von Anfang an nicht bewährt hat. Sie hat ihre Politik auf der einmal betretenen Bahn auch im Jahre 1953 fortgesetzt, ohne allerdings weit zu kommen. Die parlamentarische Tätigkeit war stark belastet durch die Arbeit an der Verfassung, die sich schleppend hinzog. Es blieb so gut wie keine Zeit übrig, andere für das Land wichtige Gesetze in Angriff zu nehmen. Einer schnellen Verwirklichung der staatsrechtlichen Notwendigkeit stand ein schier unüberwindbares Hindernis entgegen, nämlich eine zahlenmäßig starke Opposition, die sich nicht nur im Parlament, sondern auch außerhalb gegen die Regierungspolitik auflehnte. So ging beim Versuch, das Zusammenleben im neuen Land in dürre Paragraphen zu fassen, ein Regen von Meinungsverschiedenheiten nieder, „fundamentale Gegensätze“ taten sich auf, und nirgendmehr war vor lauter Konflikten ein gemeinsames Interesse am Staatsaufbau zu sehen. Der eigentliche Grund der Krise war das unüberwindliche Mißtrauen eines großen Bevölkerungsteils in die Stuttgarter Politik, die trotz taktischer Gewandtheit, oder gerade deswegen, immer neuen Explosivstoff anhäufte, wobei die unerbittliche Opposition, die nun einmal zur Macht kommen wollte, keine Gelegenheit ausließ, Feuer an die Lunte zu legen. Von Monat zu Monat war deutlicher geworden, daß sich so ein neuer Staat nicht aufbauen läßt. Der Außenstehende, der oft nicht die Kompliziertheit der Vorgänge verstand, mag sich gelegentlich kopfschüttelnd gesagt haben: Das geht ja schön zu!
Der Höhepunkt der Krise wurde mit den Bundestagswahlen im September überwunden, die dann die Wende brachten. Es gab keinen anderen Ausweg mehr, als das Votum des Wählers zu respektieren und sämtliche großen Parteien vor den
Schaifner mit Pistolen
LA PAZ. Auf der neuen Eisenbahnstrecke zwischen der brasilianischen Stadt Corumba und der bolivianischen Stadt Santa Cruz wird das Zugpersonal in Zukunft mit Schußwaffen ausgerüstet, damit es sich gegen die Überfälle fortschrittfeindlicher Indianer zur Wehr setzen kann.
In dem Dschungelgebiet, das die Strecke durchquert, lebt der wilde Stamm der Yanaigua-Indianer, die bisher von der - Zivilisation höchstens einmal ein Flugzeug in der Luft gesehen haben. Das Fauchen und Rauchen der Lokomotiven jagt ihnen offensichtlich einen solchen Schrecken ein, daß sie jeden Zug, vom Mut der Verzweiflung getrieben, mit einem Pfeilhagel empfangen.
Regierungswagen zu spannen. Die Bildung der Großen Koalition bedeutete für alle Partner in vieler Hinsicht eine Umkehr auf dem bisherigen Wege. Wie nützlich die Umstellung war, zeigte sich schon in den ersten Wodien. Die Verfassung wurde alsbald mit großer Mehrheit vom Parlament verabschiedet. Der Staatsakt am 19. November, auf dem sie verkündet wurde, stand im Zeichen einer allgemeinen Verbrüderung. Das war
HC?'
Stuttgart, Zentrum der Landespolitik Zeichn.: Landesverkehrsverband
ein wirklicher Einschnitt in unserem landespolitischen Leben.
Man kann sagen: Fast mit einem Schlage haben sich die Beziehungen im Lande selbst, aber auch die „außenpolitischen“ Beziehungen Baden- Württembergs gebessert. Wer spricht heute noch von der „altbadischen Bewegung?“ Sie ist tot, was nicht heißen soll, daß nicht noch vereinzelt gegen Stuttgart geschossen wird. Konflikte mit der Bundesregierung
sind, soweit wir sehen können; beigelegt. Des Bundeskanzlers Besuch beim neuen Ministerpräsidenten hat das Verhältnis Stuttgarts zu Bonn wieder normalisiert, ebenso sind zu unserem stärksten Nachbarland, Bayern, seit den gegenseitigen Besuchen der Regierungschefs in Stuttgart und München, wieder gute Beziehungen geschaffen worden. Dem Bundesfinanzminister und dem Bundesverkehrsminister konnten in Stuttgart die dringlichsten Anliegen der Landesregierung persönlich vorgetragen werden. Man kann nur hoffen, daß die von der neuen Regierung in den letzten Monaten des alten Jahres eingeleitete „Friedensoffensive“ im innern und nach außen auch im kommenden Jahre fortgesetzt wird, um das Vertrauen und den Kredit der Landesregierung wieder zu gewinnen.
Manch ein Fortschritt ist erzielt worden — wenn man aufs Ganze sieht. Nicht alles läßt uns aber zu einer positiven Betrachtung kommen. So wichtig es ist, daß für den Aufbau eines neuen Staates alle politischen Kräfte eingespannt werden, so sicher ist es, daß nach einer Normalisierung der staatsrechtlichen Zustände in das Parlament eine Opposition gehört. Noch können wir von einer solchen Normalisierung nicht sprechen, denn es gibt noch eine ganze Reihe von wichtigen Gesetzen, die zur Organisation des neuen Staates notwendig sind; sobald wir sie aber verabschiedet haben, sollte es möglich sein, zu der alten bewährten parlamentarischen Form, die eine Opposition einschließt, zurückzukommen. Deshalb sehen wir es als einen entscheidenden Fehler an, daß die Parteien übereingekommen sind, die nächsten Landtagswahlen erst im Jahre 1956 stattfinden zu lassen. Das ist eine Hypothek, die uns die Entwicklung im kommenden Jahr nicht rosig erscheinen läßt.
Schwere Aufgaben stehen der Re
gierung und dem Parlament im kommenden Jahr bevor. Allen voran, die Rationalisierung des Staatsapparates, verbunden mit einem Abbau der Aufgaben und einer Verringerung des Staatspersonals, dann die Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen zur Vollendung des staatlichen Zusammenschlusses und schließlich weitere Maßnahmen für eine noch bessere politische und wirtschaftliche Festigung des Landes. Wenn das im Jahre 1954 gelingt, gehen wir besseren Zeiten entgegen.
Auf Holz und in Sägniehl gebissen haben zwei hungrige Obdachlose, die aus einem Londoner Krämerladen die größte und schönste Pastete gestohlen und dabei eine Attrappe erwischt hatten.
„Der gefällt mir“, sagte ein gutgekleideter Herr in einem eleganten Autosalon in Oakland, setzte sich ans Steuer eines Luxusmodells, schaltete, fuhr in eleganter Kurve aus der Tür und ward nie mehr gesehen.
Wende in der Sowjetzone?
Rückblick und Ausblick
Von unserem BerlinerKorrespondenten
KB. BERLIN. Das Hauptproblem der Viererkonferenz besteht im ersten Stadium zweifellos darin, erst einmal festzustellen, was die Sowjets wirklich wollen. Eine Antwort auf diese Frage erwarten alle Bewohner der sowjetischen Besatzungszone, die von dieser Jahreswende eine Wende ihres Schicksals erhoffen.
Wie sieht es denn in der Sowjetzone aus? Es hat keinen Zweck, sich, irgendwelche Illusionen zu machen, sondern die Verhältnisse müssen mit nüchternem Realismus beurteilt werden. Es gab um die Jahreswende 1952/53 mehr ernste Beurteiler, die im Hinblick auf die achtjährige Besetzung fürchteten, daß die Bevölkerung doch eines Tages weich werden würde. Als Begründung wurde auf die damals wirklich katastrophalen Flüchtlingszahlen hingewiesen. Diese Zahlen sind tatsächlich von schwerwiegendster Bedeutung, wenn man bedenkt, daß in diesem Jahr 300 000 Menschen die Sowjetzone verlassen haben. Man wies weiter darauf hin, daß die Jugend den kommunistischen Einflüsterungen erliegen würde, zumal mit diesen Einflüsterungen äußerlich eine materielle Förderung verbunden war. Es war weiter zu
Aus dem Führerhauptquartier, 27. Dezember 1943. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:
„. . . in lanaganhaltenden Gefechten mit weit überlegenen englischen Seestreitkräften ist das unter dem Kommando des Kapitäns z. See Hintze stehende Schlachtschiff „Scharnhorst“ nach heldenhaftem Kampf, bis zur letzten Granate feuernd, gesunken.“
Die „Scharnhorst“ wurde ein Opfer des Radar
Vor zehn Jahren im Kampf gegen englische Kriegsschiffe mit über 1900 Mann Besatzung gesunken
Geleitschiffe. Am Heiligabend 1943 wird von der Aufklärung der Luftwaffe ein Geleitzug von England nach Rußland ausgemacht. Die „Scharnhorst“ erhält den Befehl zum Angriff. Ihr Kommandant ist Kapitän zur See, Hintze.
,.BJ.ind in der Polarnacht
Mit fünf Zerstörern nimmt die „Scharnhorst“ Kurs auf den Geleitzug. U-Boote bilden die Aufklärung und geben den Standort zurück. Am zweiten Weihnachtstag, um 8.24 Uhr, bei heftigem Schneegestöber und schlechtester Sicht, hauen plötzlich Granateinschläge um das Schiff in die See. Die Zerstörer sind auf Befehl des Konteradmirals Erich B e y s nach Südwesten gefahren, während er selbst mit der „Scharnhorst“ nach Norden abgeschwenkt ist. So hoffe er auf der Fährte des Wildes zu bleiben. Nun ist er mti einemmal selbt der Gejagte eines unsichtbaren Gegners. Admiral Fraser hat die „Scharnhorst' mit drei Kreuzern und dem Schlachtschiff „Duke of York“ eingekreist. Vier Zerstörer kommen dazu.
Der vorletzte Akt hatte mit dem Durchbruch der in Brest blockierten deutschen Schlachtschiffe „Scharnhorst“ und „Gneisenau“ und des schweren Kreuzers „Prinz Eugen“ durch die „Prachtstraße“, den mit Minen gepflasterten Kanal begonnen
Ausbruch aus Brest
Am 11. Feberuar sind die Schiffe gegen 22 Uhr im Schutze einer dichten Nebelwand davongedampft. Durch deutsche Störsender ist das gesamte Küstenradarnetz der Briten außer Gefecht gesetzt. Dort erwartet man einen Großangriff deutscher Luftstreitkräfte. An die Kriegsschiffe, die in äußerster Fahrt durch den Kanal preschen, denkt man nicht.
Als die britische Admiralität Lunte riecht, ist es zu spät. Die angreifenden Torpedoflugzeuge werden ein Opfer der deutschen Bordkanonen, die Schnellboote, Bomber, Zerstörer und abermals Bomber, die London ins Gefecht jagt, können den deutschen Flottenverband nicht aufhalten. Beinahe 60 Flugzeuge verliert die englische Luftwaffe in drei 'Stunden.
Plötzlich hebt ein furchtbarer Schlag die „Scharnhorst“ aus dem Wasser. Die elektrische Anlage fällt aus. Das Ruder versagt. Die Feuer unter den Kesseln sind aus. 200 Tonnen Wasser
brechen durch das Leck. Die „Gneisenau“, die „Prinz Eugen“, der ganze Verband jagt ander „Scharnhorst“ vorbei. Befehlsgemäß. Admiral C i 1 i a x muß auf einen Zerstörer umsteigen.
Doch dann geschieht das an ein Wunder Grenzende. Das technische Personal macht sich an die Arbeit, und nach genau einer halben Stunde dampft die „Scharnhorst“ mit dreimal äußerster Kraft voraus den anderen nach, Wilhelmshaven zu.
Geleitschutz am Polarmeer
Ein Jahr später will Dönitz die großen „Pötte“ nach Nordnorwegen verlegen. Dort sollen sie den Geleitdienst der Alliierten nach Rußland angreifen. Die 31000 t große „Scharnhorst“ verläßt mit dem 41 000-Tonnen- Schlachtschiff „Tirpitz“ Wilhelmshaven. Sie treten an die Seite der „Lützow“ und „Nürnberg“ im Alta- und Kaa- Fjord. Von jetzt ab sind sie eine Bedrohung des Nachschubweges nach Murmansk. Die Engländer überlegen entscheidende Gegenmaßnahmen.
Durch einen kühnen Handstreich von zwei Kleinst-U-Booten setzten sie die „Tirpitz“ für ein halbes Jahr außer Gefecht. Die „Scharnhorst“ tastet sich allein durch die Polarnacht, selbst blind, aber immer sichtbar auf den Radarschirmen der britischen
Radar hat gesiegt
Unter einem zusammengefaßten Feuer schwerkalibriger Granaten und Torpedos kentert das 1938 vom Stapel gelaufene deutsche Schiff gegen 19 Uhr des zweiten Weihnachttages nach einem aussichtslosen Gefecht. Über 1900 Seeleute, darunter Konteradmiral Erich Bey und sämtliche Offiziere, verschlingt die eisige See.
Nur 36 Mann werden von den britischen Zerstörern aufgefischt.
beachten, daß diese jungen Menschen noch nicht einen einzigen Tag in der Freiheit verlebt hatten, daß ihnen also die Freiheit als solche gar kein äußeres und inneres Erlebnis sein konnte.
Dagegen standen jene Beurteiler, die auf den verstärkten Kirchenbesuch hinweisen und die die Meinung vertraten, daß die Familie heute nach wie vor Hort des inneren Widerstandes sei. Man schien sich allgemein darüber klar zu sein, daß eine äußere Widerstandsreform angesichts der Roten Armee und des SSD nicht möglich schien, aber es wurde auch die Auflassung vertreten, daß neuere, tiefere und bessere Formen des inneren Widerstandes gefunden seien, um dem Terror zu begegnen. Der 17. Juni war sowohl für diejenigen, die pessimistisch, als auch für die, die optimistisch urteilten, eine Überraschung. Es ist kein Zweifel, daß das Regime in einem einzigen Tage erledigt gewesen wäre — wenn nicht die Russenpanzer ihr Wort gesprochen hätten. Dieser offene Widerstand beschränkte sich nicht auf die großen Städte, sondern wir wissen jetzt, daß er sich überall, auch auf dem flachen Lande auswirkte, und wir wissen weiter, daß sich gerade die Jugend aktiv an diesem politischen Widerstandskampf beteiligt hat.
Unter dem Druck dieser Volksbewegung hat man s ich dann in der Sowjetzone zur Durchführung des neuen Kurses entschlossen, aber diese Durchführung geschah nur und nur solange, bis die Sowjets und ihre deutschen Vertreter glaubten, ihre Position wieder gefestigt zu haben. Dann setzten vor allem der Rachefeldzug gegen die Männer des 17. Juni ein. Viele echte Widerstandskämpfer verschwanden hinter Gefängnismauern. Aber der Geist ließ sich nicht töten, und der innere Widerstand ist heute stärker denn je. Er erhielt vor allem-durch die Wahl vom 6. September neue Nahrung, und es besteht nicht der geringste Zweifel darüber, daß, wenn freie Wahlen in der Zone stattfinden, auch dieser 6. September sich in der Zone widerholen würde.
Das sind die Tatsachen, die die Sowjets wissen müssen, wenn sie sich jetzt zur Berliner Konferenz entschließen. Für sie kommt es darauf an, ob sie einmal glauben, die bisherige Politik der völligen Sow.ieti- sierung weiterzuführen oder ob sie zum anderen bereit sind, ein erträgliches Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland in Frieden miteinander leben können, wird die Berliner Konferenz einen Erfolg haben. Sollten die Russen auf ihre Sowjetisierungspolitik bestehen, dann werden ihnen die Menschen in der Zone auch im neuen Jahr zeigen, daß sie sich bis zum letzten gegen den
Im Vorzimmer
Eine unmögliche Geschichte
Vor dem Haus der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Tübingen, gegenüber der Turmfront der Stiftskirche, fuhr an einem freundlichen Vorfrühlingsmorgen im März 1794 ein schnittiger Kraftwagen vor, dem zwei jüngere Herrn entstiegen. Während der eine den Wagen abschloß und sich verabschiedete, um den Professor Abel drunten in der Bursa auf den überraschenden Besuch vorzubereiten, drängte der andere, ein großer schlanker Herr mit rötlichem Haar und ausdrucksvollem Gesicht, eine dicke Ledermappe in der Hand, schon dem Cotta’schen Hause zu. Der Aufzug, von einem Werkstudenten diskret bedient, trug ihn rasch hinauf in das Vorzimmer des Direktors, das mit der lebensgroßen Photographie des Gründers d e _r Firma geschmückt war.
Die Schreibmaschine hörte auf zu klappern, die Sekretärin des Herrn Johann Friedrich Cotta fragte höflich nach Name und Begehr. „Schüler aus Jena“, antwortete der Fremde. „Ah“, sagte nun mit tiefer Verbeugung das Fräulein, „da wird sich der Chef freuen, Herr Pro- fessor, daß Sie kommen! Nur einen Augenblick müssen Sie sich gedulden, es ist gerade der Herr Professor Plouquet bei ihm wegen der Alleenfrage. Aber ich will Sie gleich anmelden damit es nicht zu lang dauert.“ Sie hob den Hörer ab, wählte und sagte den Besuch an.
=.fuhr sie redselig und leii hwabeind fort: „Sie hab’ ich mir at wirklich ganz anders vorgestellt, He fhofessor!“ Doch kaum war ihr c wort entfahren, möcht’ sie’s im Bus
gern bewahren. Schiller aber lachte. „Und wie denn?“ fragte er. „Wohl als schönen Mann mit schwarzen Dauerwellen und Hornbrille, womöglich in Knickerbockern und Samtrock?“ — „Nein!“, antwortete sie, nun ganz bewundernde Verehrung, „und wenn man Ihnen so gegenübersteht, weiß man, gerade so muß der Mann aussehen, der das ,Lied an die Freude' und das Trauerspiel von der Luise Millerin gedichtet hat.“ Schiller mußte wieder lächeln: „So kennt mich mein Volk bis nach Tübingen!“
„Ja“, rechtfertigte sich das gesprächige Fräulein, „was der Herr Schiller geschrieben hat, das haben wir alles im Laden und lesen wir alle, und ich wüßte nichts, was schöner sein könnte. Wenn wir im Sängerkranz im gemischten Chor singen: Freude schöner Götterfunken!, dann schlägt uns das Herz höher, als ob wir selber hinaufgehoben würden in das Elysium zu dem guten Geist über dem Sternenzelt. Und gar die Räuber! Wenn ich einmal verheiratet bin und der Himmel schenkt mir ein Töchterlein, muß es Amalia heißen! Aber darf ich dem Herrn nicht einstweilen ein paar Illustrierte vorlegen, ich langweile Sie gewiß mit meinem einfältigen Geschwätz!“
Der Dichter aber freute sich der Popularität in seinem Ländle und meinte in guter Laune: „O, ich höre Ihnen gern etwas zu, Fräulein ...?“ „Schwägerle ist mein Name — sagte sie, Thekla Schwä- gerle; mein Vater hat das Briefmarkengeschäft in der Kronengasse. Hier im Haus bin ich eben das Fräulein Thekla!“ — „Also, Fräulein Thekla, fahren Sie nur fort, mir himmlische Rosen ins irdischen Leben zu flechten!“ — „Aber
vielleicht ist Ihnen einstweilen eine Zigarette angenehm“, lenkte sie errötend ab, „wir haben sie direkt von Asiens entlegner Küste“. — „Danke, schönes Kind von der Küste des Neckars!“ — sagte der Dichter, „der Doktor hat’s verboten! Und Sie wissen ja: Gehorsam ist des Christen Schmuck!“ — „Aber Herr Schiller“, sagte sie nun lachend: „der Kampf mit dem Drachen ist ja noch gar nicht gedichtet, wir schreiben erst 1794!“ — „Ach ja“, seufzte er, „man kommt allmählich selber nicht mehr draus! Aber wenn Sie gern so ein Duftröllchen anstecken möchten?“ — „Würden Sie das nicht“ — fragt sie, indem ihre Finger schon in das Schäch- telchen greifen —, „würden Sie es nicht, wie so viele unserer Spießbürger, unweiblich finden?“ — „O“, sagt der Dichter: „Willst du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an! Aber wissen Sie mit Ihren Fachkenntnissen wohl auch, wo das steht?“ — „Goethes Tasso“, antwortet sie ohne Besinnen, „haben wir auch in der Buchhandlung.“
„Nun, mein gelehrtes Fräulein Thekla“, fährt Schiller fort, „da Sie so allwissend sind, ich würde zu gern ahnen, was wohl Ihr Herr Chef mit mir vorhat? Ich war krank und habe nichts auf Lager, um ein Geschäft abzuschließen. Habe auch über meinen alten Verleger nicht eben zu klagen, Verhungern läßt er mich nicht mehr.“ — „Oh“, sagte das Fräulein und wurde immer beredter, „eigentlich sollte ich es Ihnen ja nicht sagen, aber damit Sie nicht so ganz unvorbereitet sind! Unser Chef hat immer den Kopf voll von Ideen, und eben hat er einen ganz großen Plan. Ein Weltblatt will er aufmachen, erste Klasse,
das in allen deutschen Landen und in allen europäischen Hauptstädten gelesen und gekauft werden soll. Führend in Sport und Bild, in Politik und Wirtschaft, in Kunst und Technik. Die Lizenz aus Stuttgart hat er schon. Sie aber möchte er als Chefredakteur, Leitartikler, Kritiker in einer Person. Die ganze Prominenz von Deutschland sollte mit- arbeiten. Bedenken Sie, so eine Chance heute, da wie in Ihrem „Don Carlos“ um die Gedankenfreiheit gekämpft wird und des Menschen verlorener Adel wieder hergestellt werden soll, da die Throne wanken und die Diktatoren aufsteigen!“
„Da möchten Sie also den Verse- schmied zum Marquis Prosa machen!“
„O“, spotten Sie nicht, Herr Professor! Wir brauchen eine Koryphäe, eine Kanone wie Sie. Sie würden Geschichte machen, wie Sie Geschichte geschrieben haben! Auch Ihre Kunst würde nicht verkümmern! Sehen Sie den Herrn Goethe, der ist Minister und Poet, und der Hans Sachs war gar Schuhmacher und Poet, sollten Sie nicht Redakteur und Poet sein können! Die Seiten der Zeitung stünden Ihnen jederzeit offen. Kurzgeschichten, zum Beispiel, sind heute sehr gesucht. Locht Sie der Plan nicht gleich? Vor einiger Zeit war ich einmal auf eine Stiftsstube zum Kaffee eingeladen — Sie kennen doch das Stift? —, es waren in den letzten Jahren ein paar sonderliche Genies dort, und einer davon war der Vetter meiner Freundin. Wenn die ein paar Jahre älter wären! Die wären auch richtig, und die würden zugreifen! Da sind die Magister Wilhelm Hegel und Friedrich Hölderlin, ich darf sie dem Herrn Professor empfehlen; der Hölderlin schreibt Gedichte
fast so schön wie das Lied an die Freude, und wenn der Hegel politisiert, glauben Sie, Sie hören einen Pariser Girondisten! Aber für uns sind sie zu jung. Ich und der Herr Chef sind daher auf Sie gekommen. Bedenken Sie es recht! Und der Chef zahlt auch gut, besser als die Konkurrenz oder gar, der Staat! Bald würden Sie im eigenen Wagen am Steuer sitzen und bald könnten Sie ein eigenes Haus in der Neckarhalde bauen! Doch da kömmt er“!
Der Dichter konnte ihr gerade noch für die gute Meinung danken, die Tür zum Chefbüro hatte sich geöffnet, der Herr Professor Plouquet verabschiedete sich scherzend: „Meine Frau? Ja, ihre Reize blühten wieder, der Nierenreiz, der Magenreiz, der Brechreiz, der Nervenreiz. Nun sind all ihre Reize vergangen bis auf den Hustenreiz, und mit dem wird nun das Frühjahr wohl auch Schluß machen!“ Und der Herr des Hauses, Johann Friedrich Cotta, Ururenkel des Gründers, der große Verleger, nahm den Besucher nach herzlicher Begüßur.g in das Allerheiligste.
Das Fräulein aber zerdrückte den Rest ihrer Zigarette im Aschenbecher, griff nach einem Gedichtbändchen, blätterte und las vor sich hin: Waren wir im Strahl erloschner Sonnen, In den Tagen lang verrauschter Wonnen, Schon in Eins zerronnen?
Sie schloß das Buch: „Ist das nicht wundervoll? Und daß ich den Schüler heute leibhaftig gesehen und mit ihm geschwatzt habe wie mit unsereinem, das ist der schönste Tag meines LebensT Nein, der zweitschönste, nach dem, an dem mich mein Schatz. Franz heißt die Kanaille! zum erstenmal geküßt hat!“
Hermann Werner