NUMMER 160
MONTAG, 2 9. OKTOBER 1951
Churchill muß ohne Liberale marschieren
Absolute Mehrheit bis jetzt achtzehn Sitze / Kabinett steht
LONDON. Der Vorsitzende der liberalen Unterhausfraktion, Clement D a v i e s, lehnte gestern abend das Angebot Churchills auf einen Posten im neuen konservativen Kabinett ab. Dem gingen am Samstag Verhandlungen des Premierminister mit Davies voraus, die den Zweck hatten, die knappe Mehrheit der Konservativen im neuen englischen Unterhaus durch die sechs liberalen Stimmen zu festigen. Am Samstagnachmittag konferierte Churchill mit den Chefs des britischen Empire-Generalstabs.
Die Verteilung der Unterhaussitze nach Auszählung der Stimmen von 622 Wahlkreisen (insgesamt sind es 625) stellt sich ietzt: Konservative 820 (1950: 297); Labour 293 (315); Liberale 6 (9); irische Labour 1 (4); irische Nationalisten 2 (0).
In Londoner diplomatischen Kreisen wird als erster konservativer Schritt in der Außenpolitik die Forderung nach neuen Beratungen zwischen London, Paris und Washington angesehen, mit dem Ziel, zu neuen Gesprächen mit der Sowjetunion zu kommen. Man sieht es als auf der Linie der persönlichen Politik Churchills liegend an, wenn er versuchen würde, die Probleme in unmittelbaren Besprechungen mit T r u m a n und Stalin zu lösen. Als möglich wird angesehen, daß Churchill die Anerkennung der Volksrepublik China zurückziehe für den Fall, daß die Feindseligkeiten in Korea weitergehen. Ferner gilt eine Änderung der britischen Spanienpolitik als wahrscheinlich. Gegenüber Ägypten und Persien wird eine konservative Regierung weniger zu Konzessionen bereit sein als die La- bours.
In der Weltpresse wird der Wahlsieg der Tories verschieden beurteilt. Moskauer westliche Kreise vermerken, daß die sowjetische Presse Churchill nach seinem Wahlsieg sehr
Amerikanische Initiative
Im persisch-englischen Olkonflikt
WASHINGTON. Nach amerikanischen Gerüchten wird die US-Regierung in dieser Woche einen neuen Versuch zur Beilegung des britisch-persischen Ölstreites unternehmen. Politische Beobachter glauben, daß Amerika die neue britische Regierung Churchills auffordern wird, eine Delegation verantwortlicher britischer Politiker zu Verhandlungen mit Mossadeq nach Amerika zu entsenden. Es wird angenommen, daß die USA-Regierung den neuen Außenminister Eden darauf hin- weisen werde, daß eine Lösung des Erdölstreits nur dann möglich ist, wenn Großbritannien alle Hoffnungen auf eine Wiederaufnahme der Tätigkeit der Anglo-Iranian in Persien endgültig aufgibt und sich mit Schadenersatzzahlungen für das verstaatlichte Eigentum dieser Gesellschaft abfindet.
Die persische Polizei führte am Samstag in Teheran eine überraschende Aktion gegen das Hauptquartier der seit Februar verbotenen kommunistischen Tudeh-Partei durch und beschlagnahmte Tausende von Flugblättern. Eine bisher nicht bekannte Zahl von Tudeh-An- hängern wurde verhaftet.
Amtsstelle In Steinstücken
Westpolizei zurückgezogen
BERLIN. Gestern vormittag ist auch der letzte, seit dem vergangenen Mittwoch in der Westberliner Enklave Steinstücken stationierte Westpolizist zurückgezogen worden. Zwei waren bereits am Samstag nach Westberlin zurückgekehrt, nachdem in Steinstücken eine Amtsstelle des Westberliner Bezirks Zehlendorf eingerichtet worden war. In der Amtsstelle wird in Zukunft ein bevollmächtigter Vertreter die Verwaltungsfunktionen im Interesse der Ortseinwohner wahmehmen. Es soll damit dokumentiert werden, daß Steinstücken, trotz gegenteiliger Auffassung der ostzonalen Behörden, ein Teil Westberlins ist.
zurückhaltend mit „W. Churchill, der Führer der konservativen Partei“ tituliert, nachdem er in den vergangenen Jahren häufig als „Kriegshetzer“ bezeichnet worden war. Erklärungen, daß der Sieg der Konservativen eine Verschärfung der internationalen Spannung bedeute, fehlen bis jetzt. Daraus wird geschlossen, daß die sowjetische Regierung zunächst eine abwartende Haltung gegenüber der neuen britischen Regierung einnehmen möchte und wahrscheinlich eine Annäherung Churchills zur Beilegung der Ost-West-Span- nung begrüßen würde. Die amerikanische Presse ist über den Wahlsieg Churchills hoch erfreut.
Zwei Tage nach der Wahl wird in Großbritannien von der Möglichkeit baldiger Neuwahlen gesprochen. Da die Labournartei in der Opposition mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen werde und straffer als die Konservativen organisiert sei, halten es
Londoner Kreise für nicht unwahrscheinlich, daß wegen der knappen konservativen Mehrheit des Unterhauses schon innerhalb eines halben Jahres Neuwahlen notwendig sein könnten.
Winston Churchill gab noch am Samstag die Besetzung der acht wichtigsten Posten seines neuen Kabinetts bekannt. Er selbst übernimmt zusätzlich das Verteidigungsministerium; Anthony Eden ist Außenminister und stellvertretender Premierminister; Minister für Ernährung und Landwirtschaft sowie Lordnräsi- dent ist Lord W o o 11 o n ; Schatzkanzler: Richard Butler; Kolonialminister: Oliver Lyttleton; Arbeitsminister: Sir Walter Monchton; Innenminister und Minister für Wales: der ehemalige Chefkläger von Nürnberg, Sir David Maxwell Fyfe; Lordsiegelbewahrer und Führer des Oberhauses: Marquis von Salisbury; Minister für Commonwealth-Beziehungen: Lord Ismay,
Gegen französ’srhe Hegemonie
Schumacher zu der Washingtoner Konferenz
DUISBURG. Bei der Washingtoner Außenministerkonferenz hätten sich die Westmächte zwar unter sich, jedoch nicht mit dem deutschen Volk geeinigt, erklärte der SPD-Vor- sitzende Kurt Schumacher gestern auf einer Parteikundgebung in der Duisburger Rhein-Ruhr-Halle. In Washington habe man „den untersten Knopf in das oberste Knopfloch genknöpft“ und viele Tatsachen der Ungleichheit schaffen wollen. Schumacher wandte sich dann gegen die französischen Hegemoniebestrebungen und betonte, Frankreich sei nicht gleichbedeutend mit Europa. Auf diesem Kontinent hätten 17 Länder Ansnruch auf moralische und juristische Gleichberechtigung.
Wer jetzt über gesamtdeutsche Wahlen nur Gespräche führen wolle, sagte Schumacher, der w"lle den anderen überlisten. Die Kommunisten beabsichtigen noch in diesem Jahre einen Friedensvertrag unter Dach und Fach zu bringen. Dieser sehe Reparationslieferungen auch aus Westdeutschland vor und würde
den Sowjets eine entscheidende Rolle in der Ruhrbehörde sowie die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie einbringen.
, Konsequente WiitscfcaffsnoHtik*
Vizekanzler Blücher vor FDP-Mitgliedern
BAD EMS. Für die deutsche Einheit in einem freien Rechtsstaat, setzte sich der Vorsitzende der FDP, Vizekanzler Franz Blücher, am Samstag in Bad Ems ein. Deutschland könne aber nur dann vereinigt werden, wenn Recht und Freiheit im ganzen Vaterland gesichert seien. Voraussetzung hierfür sei, daß das Gesnräch nicht mit „einem isolierten und armen Westdeutschland“ geführt werde.
Blücher wandte sich gegen die ständige und unberechtigte Kritik, die nicht anerkennen wolle, was das deutsche Volk in den sechs Jahren seit dem Zusammenbruch erreicht habe. Der Bruch mit der totalen Zwangswirtschaft sei einer der entscheidendsten Schritte beim Wiederaufbau Deutschlands gewesen. Diese Linie müsse konsequent fortgesetzt werden. Durch weitere Steigerungen des Sozialprodukts müßten die Mittel für weitere soziale Leistungen freigemacht werden.
Kleine Weltchronik
TÜBINGEN. Am Samstag machte der unlängst neu ernannte Oberkommandierende der französischen Truppen in Deutschland, General N o i r e t, einen Besuch in Tübingen. Aus diesem Anlaß fand beim französischen Landeskommissar, Gouverneur W i d m e r, ein Empfang statt, an welchem von deutscher Seite der Staatspräsident und die übrigen Mitglieder des Kabinetts, der Landtagspräsident, sowie die Fraktionsführer der Parteien teilnahmen.
MÜNCHEN. Gegen die Gründung einer Zentrumspartei in Bayern wendet sich die „Münchener katholische Kirchenzeitung“, das Bistumsblatt der Erzdiözese München - Freising. Jede neue christliche Partei bedeute Bruderkampf und Zersplitterung. „Helene Wessel, bleibe am Rhein und bezähme Deinen Parteiehrgeiz'“ schreibt die Zeitung.
BONN. Bundesjustizminister Dehler gab bekannt, daß zurzeit in Schweizer Strafanstalten nur noch 15 Deutsche inhaftiert seien, die wegen Sabotageakten oder Spionagetätigkeit in einwandfreien Verfahren verurteilt worden seien. Meldungen, die von einer größeren Zahl deutscher Inhaftierter in der Schweiz wissen wollen, seien unrichtig.
BONN. Die Abschaffung von Werbestellen der französischen Fremdenlegion in der Bundesrepublik gehört nach Ansicht maßgeblicher deutscher Abgeordneter im Bundestag zu den wichtigsten Problemen bei der Wiederherstellung der deutschen Souveränität. Auch das Potsdamer Abkommen widerspreche der Ausbildung Deutscher im Waffenhandwerk, ebenso sei die Ausnützung der Zwangslager deutscher Kriegsgefangener ein völkerrechtlich und moralisch fragwürdiges Verfahren. § 141 a des deutschen StGB, der die Werbetätigkeit für die Fremdenlegion mit Strafen bis
zu 10 Jahren Zuchthaus belegt, ist durch die Kontrollratsproklamation Nr. 11 aufgehoben worden.
HANNOVER. Die deutsche Heimat im Osten müsse in den Landsmannschaften lebendig bleiben und der Dreiklang „Heimat-Deutschland- Europa“ solle das deutsche Schicksal verbinden, forderte Bundesminister Hellwege am Sonntag
MANNHEIM. Die Mitwirkung der Sparer be- zeichnete Bundeswohnungsbauminister Eberhard Wildermuth am Samstag in Mannheim als eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Wohnungsbauprogramms. Der morgige Dienstag, der 30. Oktober, soll nach einer Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft deutscher Sparkassenverbände wiederum als „Weltspartag“ der Bevölkerung der ganzen Welt die Bedeutung des Sparens bewußt machen.
ATHEN. Das neue griechische Koalitionskabinett unter Ministerpräsident Plastiras ist am Samstag vereidigt worden. Es setzt sich aus zwölf Ministern der nationalen fortschrittlichen Union und aus zehn Ministern der Liberalen unter dem bisherigen Ministerpräsidenten Veni- zelos zusammen. Venizelos ist stellvertretender Ministerpräsident und Außenminister.
BRÜSSEL. Die Lebenshaltungskosten in Belgien sind nach den Erhebungen des belgischen Statistischen Amtes auf das Vierfache gegenüber den Jahren 1936/38 angestiegen.
NEW YORK. Frankreich hat die Vereinten Nationen vom Abschluß der Repatriierung aller ehemaligen deutschenKriegsgefangenen inKennt- nis gesetzt. Ausgenommen davon seien lediglich 150 Deutsche, die wegen Kriegsverbrechen schon verurteilt worden seien, und 67 Soldaten, die noch auf ihren Prozeß warten.
Grundstot preise 3,1 Proz. höher
BONN. Der Index der Grundstoffpreise hat sich in der Zeit vom 7. September bis zum 7. Oktober 1951 um 3,1 Prozent auf 259 (1938 “ 100) erhöht Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, macht sich die erneute Aufwärtsbewegung besonders bei Nahrungsmitteln bemerkbar, deren Indexzahl um 4,6 Prozent anstieg. Der Schwerpunkt der Preiserhöhungen lag bei Speisekartoffeln und Zucker; weiter ausschlaggebend waren Schlachtvieh und Inlandeier.
Obsternte 40 Prozent geringer
MÜNCHEN. Die diesjährige Obsternte im Bundesgebiet wird vom IFO-Institut für Wirtschaftsforschung auf 1 Million Tonnen veranschlagt; die vorjährige Ernte hatte 1,75 Millionen Tonnen betragen. Der Ertragsrückgang ist auf ungünstige Witterungseinflüsse, auf besonders starken Schädlingsbefall und auf Pflanzenkrankheiten zurückzuführen.
Vorsicht bei Metallgeschäften
ESSEN. In Fachkreisen der Metallwirtsehaft rät man, bei Metallgeschäften künftig mehr als bisher eine gewisse Vorsicht zu üben. Die vermeintliche Verknappung von Metallen könne sich, wenn gewisse äußere Einflüsse wirksam würden, als Trugbild erweisen. Der ständige Preisauftrieb, der vor allem im Altmetallgeschäft zu beobachten sei, berge große Gefahren in sich und stehe im übrigen zu der gegenwärtigen Lage der Metallversorgung in Widerspruch.
Die Lage im Bauhandwerk
REUTLINGEN. Nach den Feststellungen der Handwerkskammer Reutlingen war im III. Quartal 1951 das Maurerhandwerk in den meiste» Kreisen Württemberg-Hohenzollerns noch recht gut in Anspruch genommen. Der Wohnungsbau für private Auftraggeber fiel mangels erster Hypotheken zwar fast völlig aus, doch wurde die Lücke durch stärkeren Einsatz öffentlicher Mittel für Sonderbauprogramme für Vertriebene sowie durch Aufträge der Besatzungsmacht teilweise ausgeglichen. Im Zimmerhandwerk war der Auftragsbestand gegen Schluß des Quartals allgemein nicht mehr zufriedenstellend, weil die Preisverhältnisse für Holz vollkommen unklar wurden.
Vom Motorroller zum „Einspurfahrzeug“
FRANKFURT. Die internationale Fahrrad- und Motorad-Ausstellung (IFMA), die am Samstag von Bundesverkehrsminister Seebohm eröffnet wurde, zeigt den Motorroller teilweise auf gänzlich neuen Konstruktionswegen. Durch immer fülliger werdende Karosserieverkleidungen nähert sich die von Italien übernommene Konstruktionsform einem „Kabriolett auf zwei Rädern“. Der Bundesverkehrsminister bezeich- nete den Motorroller als das „Zweirad des Intellektuellen“ und als ein für die Stadt besonders geeignetes Verkehrsmittel. Er appellierte an alle Verkehrsteilnehmer, durch bessere Disziplin Unfälle zu vermeiden.
Beratungen über deutsches Vermögen in Argentinien
BUENOS AIRES. Das am vergangenen Freitag Unterzeichnete neue deutsch-argentinische Handelsabkommen, das einen Warenaustausch von 308 Millionen Dollar vorsieht, enthält u. a. auch eine Bestimmung, nach der die beiden Regierungen Beratungen über die Rückerstattung der bei Kriegserklärung beschlagnahmten deutschen Vermögenswerte und Patente in Argentinien aufnehmen. Eine gemischte deutsch-argentinische Kommission soll die Einzelheiten ausarbeiten und einen vorläufigen Bericht über die Frage der deutschen Vermögen für den ersten Botschafter der Bundesrepublik, Hermann Ter- d e n g e, fertigstellen, der Ende Dezember in der argentinischen Hauptstadt erwartet wird.
Außenhandelsbanken kaufen jetzt alle Auslandsnoten
FRANKFURT. Die Bank deutscher Länder hat die Außenhandelsbanken im Interesse der Förderung und Erleichterung des Reiseverkehrs ermächtigt, über die bisher zugelassenen Sorten (US-Dollar, Sfr, Bfr und Ffr) hinaus alle ihnen angebotenen Noten und Münzen von In- und Ausländern zu Kursen anzukaufen, die sich aus der Marktlage ergeben.
Ein heiterer Roman oon Franz Gößl:
„Nachsaison"
Copyright by Schwäb. Verlagsgesellschaft, Tübingen
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„In dieser Hinsicht geht's ihm freilich besser als dem Spengler mit dir“, bemerkte der Obermoser ausfällig.
„Lassen wir das jetzt, bitte“, mahnte der Amerikaner ernst, „noch ist die Sache nicht spruchreif. — Darf ich um diesen Ländler bitten, Fräulein Lisi?“
Und er entschwand mit ihr im neuerlichen Aufschmettern der Trompeten. Das gute Einvernehmen am Tisch blieb aber getrübt und einer beobachtete argwöhnisch den anderen, sobald er im Verlauf des Abends den Mund aufmachte, um mit Herrn Myera zu reden.
Während sich die Tischgesellschaft des Amerikaners um den wertvollen Fang beinahe in die Haare geriet, kam im anderen Saalende die Sache mit dem Briefträger Lois zum Klappen. Nachdem der tüchtige Mann noch eine Weile ziel- und planlos herumgependelt war, wuchs er plötzlich in seiner ganzen Länge und Breite vor dem Paar am Ecktisch auf und ergoß auch gleich den ganzen Strom seiner Liebenswürdigkeit über die Schauspielerin: „Fräulein Lilie, darf ich mich ein bißchen zu Ihnen setzen? So einem armen Briefträger tut es auch wohl, wenn er einmal etwas Netteres vor sich hat als Gesichter, die nie mit dem zufrieden sind, was man ihnen bringt. — Oder Störe ich vielleicht?" erkundigte er sich noch tückisch, wobei er dem Martin zuzwinkerte.
„Setz dich nur her, Lois“, forderte ihn dieser mit verdächtiger Schnelligkeit auf, „das Fräulein will allerhand wissen, wo du besser Bescheid weißt als ich. Ich kenn nicht so viele Häuser wie du. Was magst denn? — Marie,
Marie, der Lois hat Durst“, rief er rasch der Kellnerin zu.
„Das wär die neueste Krankheit beim Lois, wenn er einmal keinen hätt’“, gab die Marie zurück und wartete auf die weiteren Befehle. Der Lois fühlte sich noch etwas unsicher, aber da Lilo gerade zum Tanz geholt wurde, konnte ihn der Martin aufmuntem: „Nur zu, Lois, tu dir keinen Zwang an! — Marie, was der Lois nimmt, geht auf meine Rechnung.“ Auf diese erneute feierliche Versicherung sozusagen vor Zeugen hin wurde dem Briefträger erst ganz wohl.
„Also, Marie“, begann er genießerisch, „daß du nicht so oft springen brauchst, bringst gleich eine Halbe Spezial — halt — halt!“ rief er ihr nach, die schon wieder enteilen wollte, „noch bin ich nicht fertig. Und nachher bringst auch ein Schwein c bratl von wegen der Unterlage, mit Reis und Preiseibeer.“
Lilo wurde wieder an den Tisch geführt und es dauerte hernach nicht lange, bis dem Lois aufgetischt wurde.
Die Schauspielerin rümpfte die Nase und sagte etwas ungehalten:
„Sie gedenken sich wohl für längere Zeit hier häuslich niederzulassen?“
„Wenn Sie nichts dagegen haben“, antwortete der Lois unbeirrt und kaute bereits mit vollen Backen, „was glauben Sie, was das Briefaustragen für einen Hunger macht! — Wollen Sie mithalten?“ lud er sie auch sofort freundlich ein.
„Nein, danke“, lehnte sie kühl ab.
„Wenn Sie nicht wollen“, gab sich der Lois zufrieden, „ich hätte es Ihnen gegönnt und schaden tät's Ihnen auch nicht — aber ich bring’s auch alleine weg.“
Der Mann war doch ein lustiger Kauz, stellte Lilo bei sich fest, und es war gar nicht ohne, daß er an ihrem Tisch saß. Martin war gleich viel aufgeräumter geworden. Und er taute sogar noch weiter auf, denn zum erstenmal bemühte er sich nun auch um ihr Wohl.
„Fräulein Lilo“, wandte er sich an sie mit einem Unterton, der angenehm auffallend, nicht kratzbürstig war, „das ist nichts, ein Himbeerwasser zu trinken, wenn alles lustig ist. Es ist höchste Zeit, daß Sie was Anständiges auf die Zunge bekommen. Wir haben noch etwas ganz Feines im Keller. Passen Sie auf, das wird Ihnen schmecken.“
„Da bin ich aber neugierig drauf“, ging die Schauspielerin ahnungslos auf seinen Vorschlag ein.
„Sie werden sich wundern!“ versicherte er ihr zweideutig und erhob sich.
Es dauerte eine geraume Weile, bis er wieder in Sicht kam. In seiner Hand leuchtete eine Literflasche goldgelben Weines.
„Das ist Muskateller“, erklärte er, „ein Tropfen, der Tote erwecken könnte.“
„Wenn er nur eine ähnliche Wirkung auf die Lebenden hätte!“ wünschte Lilo mit einem unmißverständlichen Seufzer.
Rasch hatte Martin drei Gläser gefüllt und hielt seines zum Anstoßen hin: „Zum Wohl, Fräulein Lilo — sollst leben, Lois!“
Fein klingelten die Gläser aneinander. Es wirkte wie ein Versprechen für einen harmonischen Abend. Aber noch hatte Martin nicht die Hälfte seines Glases geleert, als er bedauernd zu Lilo sagte: „Sie müssen mich einen Augenblick entschuldigen, Fräulein Lilo, der Vater weiß schon fast nimmer, wo ihm der Kopf steht vor lauter Arbeit. Ich muß ihn wieder auf gleich bringen.“
„Bleiben Sie lang weg?“ fragte besorgt die Schauspielerin Zawadil. Leichter war ein durchbrennender Hengst zu halten als dieser Martin! Aber diese Betrachtungen nützten nichts, Martin war weg und ging auf den Schanktisch zu, wo der alte Kralinger mit der Ausgabe von Getränken wirklich alle Hände voll zu tun hatte.
„Da legst dich nieder!“ rief er ganz baff aus, wie sein Sohn wieder alles Erwarten
hilfsbereit neben ihm stand, „daß man dich auch einmal sieht! Ist aber gut, kann ich mich ein bißl um die Gäste kümmern.“
Sprach’s, zog die weiße Schürze aus, langte nach seinem Rock und schlenderte vergnügt in den Saal hinein. Einen nur halb unterdrückten Fluch Martins hörte er nicht mehr, Verdammter Hennenmagen, so hatte er es nicht gemeint! Er hatte damit gerechnet, zwei, drei Handgriffe zu tun und dann dem Amerikaner das Vergnügen zu versalzen. Daß er solches hatte, konnte Martin von seinem Arbeitsplatz aus wunderbar sehen: der freche Hund redete auf die Lisi ein, diese lachte zurück und der alte Mädchenhändler, wie Martin bei sich den Obermoser ingrimmig betitelte, grunzte stillvergnügt vor sich hin. Da der zukünftige Hir- schenwirt seine Augen mehr in der entfernten Ecke hatte als bei seiner Arbeit, gab es im Verlauf einer halben Stunde mehr Beanstandungen als sonst in einem ganzen Jahr.
Aber auch die Lisi war dem Heulen nahe und verbarg es mühsam unter krampfhafter Lustigkeit. Ach! war der Martin doch ein schlechter Mensch. Die Schauspielerin hatte ihm wahrscheinlich den Laufpaß gegeben, da er sicher zu frech geworden war. Sie, die Lisi, kannte das ja! Und nun gab er lieber Bier, Wein und Schnaps aus, als' daß er mit ihr tanzte. Mit Verachtung wollte sie ihn strafen und ihn nie mehr anschauen; diese strengen Vorsätze hatten zur Folge, daß sie ihn jedesmal mit ihren Blicken aufspießte, wenn sie mit einem Burschen im allgemeinen Trubel in der Nähe des Schanktisches vorbeiwalzte.
Zufrieden mit der Lage der Dinge war einzig und allein der Briefträger Lois. Damit er ja nicht zu kurz kam, hatte er fürs erste seinen eigenen Wein über den Kopf ausgetrunken und dann dem Muskateller mit Eifer zugesetzt. Damit er überdies für sich öfter einen Grund zum Trinken hatte, ermunterte er regelmäßig die Schauspielerin zum Mittun.
(Fortsetzung folgt)