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NUMMER 144

SAMSTAG, 15. SEPTEMBER 1951

Drei Gruppen von Flüchtlingen

Bundesvertriebenen-Gesetzentwurf beim Bundesrat I Behörden und Beiräte

BONN. Der seit langem vorbereitete Ent­wurf des Bundesvertriebenengesetzes ist von der Bundesregierung nunmehr dem Bundes­rat zugeleitet worden. Die Gesetzesvorlage be­stimmt den BegriffVertriebene, die Vor­aussetzungen und Grundsätze der Betreuung der Flüchtlinge, ihre berufliche und wirt­schaftliche Eingliederung und ihre Umsied­lung. Außerdem werden durch den Gesetz­entwurf die Behörden und Beiräte für Flücht­lingsangelegenheiten bestimmt. Unberechtigte Erschleichung der Betreuung wird unter Strafe gestellt.

Die Flüchtlinge werden in drei Grup­pen aufgegliedert: Vertriebene, Heimatvertrie- bene und Sowjetzonenflüchtlinge. Ein Vertrie­bener ist/ wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohn­sitz in den deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie oder in den Gebieten au­ßerhalb der Grenzen des deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 hatte und wer diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung verloren hat. Deutsche, die nach dem 30. Januar 1933 wegen drohender oder zugefügter nationalsozialistischer Gewaltmaß­nahmen wegen ihrer politischen Überzeugung, Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschau­ung diese Gebiete verließen, werden gleich­falls als Vertriebene eingegliedert.

Heimatvertriebener ist ein Vertriebener, der bereits vor dem 1. Januar 1938 seinen Wohn­sitz in diesen Gebieten hatte.

Sowjetzonenflüchtling ist nach der Geset­zesvorlage ein deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger, der wegen einer ihm drohenden Gefahr für Leib und Le­ben oder für die persönliche Freiheit seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor Berlins aufgeben mußte. Auch Deutsche, die sich zur Zeit der Besetzung außerhalb dieser Gebiete aufhielten und dorthin nicht zurückkehren konnten, werden als Sowjetzonenflüchtlinge anerkannt.

Nicht anerkannt werden Personen, die nach den Entnazifizierungsbestimmungen als Haupt­schuldige oder Belastete eingestuft sind oder wegen einer nach westdeutschen Gesetzen strafbaren Handlung flüchteten. Das gleiche

Juristentag in SluSfgart

Sicherheit durch Sozialstaat

BAD CANNSTATT. Die Gestaltung der For­men der wirtschaftlichen Unternehmen, die Bereinigung des Strafgesetzbuches und die Re­form des Beamtenrechts sind Hauptthemen, die auf dem seit Donnerstag tagenden Juristen­kongreß Deutschlands in Stuttgart besprochen werden.

In einer Rede wandte sich Bundesjustizmini­ster Dr. Dehler besonders gegen die Be­hauptung, daß das Strafrechtsänderungsgesetz, das die Bundesrepublik kürzlich erlassen hatte, übereilt und alsBlitzgesetz zustande gekommen sei. Prof. Dr. Kaufmann, der Rechtsberater des Bundeskanzleramtes, betonte ln seinem Referat über die Grenzen des ver­fassungsmäßigen Verhaltens nach dem Bonner Grundgesetz, die beste Sicherheit, daß diese Grenzen nicht überschritten würden, sei die Schaffung eines wahrhaft sozialen Staates,

Wissenschaft konkurrenzfähig

Prof. Hahn würdigt Wiederaufstieg

MÜNCHEN. Die deutsche Wissenschaft könne trotz der Folgen des Krieges und der finanziellen Not heute bereits wieder mit den europäischen Ländern konkurrieren, betonte Nobelpreisträger Prof. Otto Hahn, der Prä­sident der Max Planck-Gesellschaft, auf einer Pressekonferenz in München. Entdeckungen könnten auch heute noch einzelne Forscher mit geringen Mitteln machen, aber für die Entwicklung und Nutzanwendung der Erfin­dungen sei ein großer Apparat erforderlich. Die Möglichkeit dazu hätten die USA,

gilt für Personen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der demokratischen Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben.

Bei Zubilligung von Ausnahmen gilt der 31. Dezember 1949 als Stichtag für die den Ver­triebenen zustehenden Rechte und Vergünsti­gungen. Bis zu diesem Tage mußte der Ver­triebene im Bundesgebiet oder in Westberlin seinen ständigen Wohnsitz genommen haben. Die Vertriebeneneigenschaft wird von den Kindern ererbt und kann auch durch Heirat oder Adoption nach der Vertreibung nicht ver­lorengehen. Jede der drei Flüchtlingsgruppen erhält einen besonderen Ausweis.

Die Länder und Westberlin sind verpflichtet, für ihre Bereiche zentrale Dienststellen zu un­terhalten. Beim Bundesministerium für Ver­triebene sowie bei den zentralen Dienststel­len der Länder werden außerdem Beiräte für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen gebildet. Der Beirat im Bundesflüchtlingsministerium umfaßt Vertreter aller Länderdienststellen,

Kompromiß möglich in Hessen

Nur ein Zwischenfall beim Streik

FRANKFURT. Die Gespräche der Sozial­partner der hessischen Metallindustrie unter der Verhandlungsführung von Ministerpräsi­dent Georg Zinn sind gestern in Wiesbaden fortgeführt worden. Der hessische Minister­präsident will sich in die Gespräche erst dann aktiv einschalten, wenn sich ein negatives Ergebnis abzeichnen sollte.

Das Hauptproblem der Besprechungen wird darin gesehen, daß die Gewerkschaft eine ge­nerelle Lohnerhöhung verwirklicht sehen will, während die Arbeitgeber lieber eine Zulage für Familienväter und eventuell Beihilfe zur Beschaffung von Kohle und Kartoffeln befür­worten. Die Bereitschaft zu einem Kompro­miß, der die volkswirtschaftlichen Notwen-

Flüchtlingsorganisationen, Spitzen verbände der freien Wohlfahrt, des Deutschen Gewerk­schaftsbundes, der evangelischen und der ka­tholischen Kirche.

Die in der Gesetzesvorlage vorgesehene Um­siedlung bestimmt, daß diese die Länder Bay­ern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein entlasten solle und daß die Eingliederung der Flüchtlinge je nach dem erlernten Beruf er­folgen müsse. Ärzten, Zahnärzten und Denti­sten, die vor 4. September 1949 zur Kassen­praxis nach deutschen Vorschriften zugelassen waren, wird die weitere Zulassung im Bun­desgebiet gesichert.

Die selbständige Erwerbstätigkeit von Ver­triebenen und Sowjetzonenflüchtlingen in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in freien Be­rufen soll durch Gewährung von Krediten aus öffentlichen Mitteln zu günstigen Zins- und Tilgungsbedingungen und Bürgschaftsübernah­men gefördert werden. In der Sozialversiche­rung und in der Arbeitslosenversicherung sol­len Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge den Einheimischen gleichgestellt werden.

Die Gesetzesvorlage wird, nachdem der Bundesrat dazu Stellung genommen hat, dem Bundestag zugeleitet.

digkeiten berücksichtige, sei jedoch bei beiden Gesprächspartnern vorhanden, wie unter­richtete Kreise der hessischen Hauptstadt er­klären.

Zu einem Zwischenfall kam es nur im MAN-Werk Mainz-Gustavsburg, wo die Werkseingänge von den Streikposten weder den Vertretern der Gewerkschaft noch dem hessischen Innenminister Zinnkann gegen­über für Arbeitswillige freigegeben worden sind. Nach einer Ansprache des Innenmini­sters, daß er zur Wahrung der Rechte der Ar­beitswilligen zum Einsatz von Polizei ge­zwungen sei, wenn die Streikenden selbst keine Ordnung halten, ordnete er an, daß eine verstärkte Polizeiabteilung mit Fahrzeugen die Postenkette durchbrechen solle. Die Streik­posten setzten dem Vorgehen der Polizei dann keinen Widerstand mehr entgegen.

Dirne o er Winkelried?

kr. Englische Pressekommentare der letzten Tage zeigen sich teilweise nicht ohne Grund verschnupft über die Äußerungen deutscher Zeitungen, denen sie in der Frage der Wieder­aufrüstung nationalistische Tendenzen vorwer­fen und die deutschen Forderungen für einen Verteidigungsbeitrag als übertrieben ablehnen.

In diesem Zusammenhang versteigt sichSta- tesman and Nation zu der Behauptung, Deutschland seidie zukünftige Dirne Euro­pas. Wir können nicht umhin, diese für ein ganzes Volk höchst fatale Bezeichnung zu defi­nieren:Dirne ist eine Person, die sich gegen ; schnödes Entgelt zu Dingen hergibt, die nur in ; den Bereichen echter Liebe Raum haben dür- j fen. Der Bezirk, in dem sich dieDirne Deutschland nach Ansicht des englischen Blat­tes prostituiert, kann doch wohl nur der der Verteidigung Europas sein. Hier wirft man uns vor, daß wir die Bereitschaft dazu und zu den eventuellen Folgen nicht ganz selbstverständ­lich im plötzlich erwünschtenfuror teutoni- cus aufbrächten, sondern für unsere Beteili­gung heraushandeln. Wie unverschämt sind doch diese Deutschen! Wo alles aus heiligster Überzeugung nach Wallen schreit, um Europa notfalls hinter dem Rhein oder in den Pyre­näen zu verteidigen, verlangen sie allerlei Vor­schüsse, um sich dann ziemlich uninteressiert dem Waffenhandwerk zu widmen. Wahrlich, die BezeichnungDirne trifft haargenau auf ein Volk zu, das nicht die rechte Neigung hat, den Winkelried Europas zu spielen. Welche nachdenklich stimmenden Aspekte ergeben sich jedoch, wenn man überlegt, daß dieseDirne Europas vor nicht allzulanger Zeit für den Frieden der Welt im schönsten Einvernehmen zwischen den zukünftigen Kontrahenten ge­teilt wurde!

Gesunde MitfeSslandspo itik

Adenauer spricht zum Handwerk

BONN. Bundeskanzler Adenauer warnte vor dem Handwerksrat des Zentralrates des deutschen Handwerks vor der Bildung einer ; neuen Mittelstandspartei, forderte das Hand­werk jedoch auf, mit aller Energie für eine größere Berücksichtigung in den bestehenden Parteien einzutreten. Eine neue Partei würde die staatserhaltenden Parteien in der Bundes­republik nur noch schwächen. Es sei eine abso- ' lute Notwendigkeit, daß die Bundesrepublik eine gesunde Mittelstandspolitik betreibe. Den ; Forderungen des Handwerks nach einem ein- i fächeren Steuerwesens, einer baldigen Instand- j Setzung der Altbauten, gerechteren Wettbe- i werbsbedingungen für die kleineren Betriebe, systematischer Einschaltung des Handwerk in öffentliche Aufträge und einer stärkeren Rück­sicht auf die kleineren Betriebe bei der Kre­ditgewährung stimmte der Bundeskanzler zu. Außerdem setzte er sich für den großen Be­fähigungsnachweis im Handwerk ein.

Wieder ziviler Luitverkehr

Erster Schritt: Übergabe der Flugplätze

LONDON. Aus gutunterrichteten diplomati­schen Kreisen der englischen Hauptstadt ver­lautet, daß die Westmächte schon in Kürze der Bundesrepublik die schrittweise Einrichtung eines zivilen Luftverkehrs gestatten würden. Der erste Schritt werde die Übergabe sämt­licher Flugplatzanlagen sein. Später dürft* dann die Bundesrepublik einen innerdeutschen Luftverkehr einrichten. Linien nach dem Aus­land würden erst gestattet werden, sobald es erwiesen sei, daß sich die Deutschen an di* verschiedenen internationalen Luftfahrtkon­ventionen halten würden.

Die gleichen Kreise weisen darauf hin, dafl sich ein schneller Aufbau einer neuen deut­schen Verkehrsluftfahrt allein schon durch di« schwierige finanzielle Lage der Bundesregie­rung verbiete.

Die Wiederzulassung deutscher Luftlinie» werde nichts mit der Aufstellung einer takti­schen deutschen Luftwaffe im Rahmen deg deutschen Verteidigungsbeitrags zu tun habe», erklärten die diplomatischen Kreise London*

K!eine Weltdironik

MÜNCHEN. Zum erstenmal seit der Revo­lution von 1918 richtete der 82jährige Kronprinz Rupprecht von Bayern von seinem Wohnsitz Leutstetten aus eine offizielle Erklärung an das bayerische Volk, in der er zurSammlung auf­rief und die gemeinsamen Bestrebungen der Heimat- und Königstreuen guthieß.

HOF. Mit einer amerikanischen Armeelast­wagenkolonne wurde am Donnerstag der Rück­transport von 77 tschechischen Staatsangehöri­gen durchgeführt, die mit einem Mitte der Woche nach Westdeutschlanddurchgebrochenen Pra­ger D-Zug nach Bayernentführt worden waren. Rund 30 Zuginsassen blieben als Flücht­linge in der Bundesrepublik.

KARLSRUHE. Der Bundesanwaltschaft des Bundesgerichtshofes ist ein Revisionsantrag gegen das Urteil im Prozeß gegen die ehemalige Kommandeuse des KZ Buchenwald, Ilse Koch, die Anfang dieses Jahres zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, zugegangen.

MAINZ. In Rheinland-Pfalz wurden mehrere Verfahren eingeleitet gegen Personen, die natio­nalsozialistische Lieder gesungen und gespielt haben.

MAINZ. Am Donnerstagabend trafen in Mainz 15 ehemalige Kriegsgefangene aus der Sowjet­union ein, die alsPersonen des französischen Interessengebietes auf Betreiben der französi­schen Regierung entlassen worden sind. Zu der Gruppe gehörten drei Saarländer, neun Elsäßer und zwei Deutsche, die alsim französischen Interessengebiet gebürtig ebenfalls in einem sowjetischen Ausländerlager waren. Nach ihren Berichten befanden siph Ende Juli 1951 noch etwa 50 Personen in diesem Lager, darunter eine größere Zahl von Deutsch-Ukrainern und Su­detendeutschen, sowie weitere 14 Personen aus dem französischen Interessengebiet.

BONN. Eine Auswanderung deutscher Ärzte mit Hilfe der UN-Weltgesundheitsorganisation sei zurzeit noch nicht möglich, erklärte deren Präsident Dr. Chisholm auf einer Pressekonfe­renz in Bonn. Bei dieser Gelegenheit wurde darauf hingewiesen, daß es in der Bundesrepu­

blik 50006000 stellungslose und 10 00012 000 nicht vollbeschäftigte Ärzte gibt.

HAMBURG. In Itzehoe sind fünf Personen an einem aus Knollenblätterpilzen bereiteten Ge­richt gestorben. Zwei liegen noch in bedenk­lichem Zustand im Krankenhaus.

BERLIN. Nach einem Bericht des Amtes für gesamtdeutsche Studentenfragen sind am 30. August vom Landgericht Halle 14 junge Men­schen darunter elf Studenten, unter Ausschluß der Öffentlichkeit wegen Zusammenarbeit mit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, Ver­breitung von Material aus Westberlin und Diffamierung der deutschen demokratischen Republik zu Zuchthausstrafen zwischen 8 und 15 Jahren verurteilt worden.

PARIS. Die französische Luftverkehrsgesell­schaftAir France gab am Donnerstagabend bekannt, sie habe auf Anraten der Regierung den Flugverkehr nach der Tschechoslowakei bis auf weiteres eingestellt, um Repressalien zu vermeiden; nachdem die alliierte Hohe Kom­mission den tschechoslowakischen Flugzeugen das Überfliegen der Bundesrepublik verboten hat.

GENF. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UN nahm mit 12:3 Stimmen einen amerikanischen Entschließungsentwurf an, in dem zum Vor­gehen gegen die großen internationalen Kartelle aufgerufen wurde, da diese den Handel, die wirtschaftliche Entwicklung und den Lebens­standard beeinträchtigten.

ROM. Italien hat beschlossen, sein Konsulat in Preßburg zu schließen, und forderte gleichzeitig die tschechische Regierung auf, das gleiche mit ihrem Konsulat in Mailand zu tun.

NEW YORK. Ein Ausschuß der UN schlug trotz sowjetischer Proteste vor, daß die Sowjet­union im kommenden Jahr mehr, Großbritan­nien und die USA aber weniger zu den Kosten der UN beitragen sollten. Bisher entfielen auf die USA 38,9, auf die UdSSR 6,9 Prozent. Der Sowjetdelegierte wies auf die Kriegsschäden in der Sowjetunion hin und forderte, daß die USA mindestens 50 Prozent des Haushalts tragen müßten.

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iTERES sSpiel

IM NECKARTAL

Ein fröhlicher Roman von Else Jung

32] Copyright by Verhg Bechthold

Jetzt war er endlich am richtigen Platz, und daß Immas Mutter so viel von ihm erwartete, machte ihn stolz und spornte ihn an, seine Leistungen noch zu verbessern.

Paß auf, Imma, in einem Vierteljahr bin ich so weit, daß Muschi mit tausend Freuden ja und Amen sagt, wenn ich sie um deine Hand bitte, sagte er froh, und Imma erklärte lachend, daß er sich noch ein wenig mehr be­eilen möge, denn so lange halte sie es nicht mehr aus.

Es war wirklich keine leichte Aufgabe, je­den Tag am Webstuhl zu sitzen, verliebt zu sein und den Liebsten nur beim Mittagessen zu sehen, wobei sie sich nicht einmal richtig in die Augen schauen durften.

Es war weiß Gott nicht einfach, sich nach dem Essen unbemerkt fortzustehlen, weil auf der Bank im Walde ein ungeduldiger junger Mann wartete, und am schlimmsten war es, daß ich sie nach Feierabend nicht mehr tref­fen konnten.

Nur hin und wieder glückte es Imma, der Mutter zu entwischen, die dann jedesmal im Wagen einen Zettel fand:

Bin mit dem Rad gefahren. Muß mir im Städtchen etwas kaufen. Oder:Bin heute bei der alten Tine sie hat mich zum Abend­brot eingeladen.

Es fiel Angelika auf, daß sich Immas Be­suche bei der ehemaligen Kinderfrau häuf­ten, doch als sie bei ihr nachfragte, war sie beruhigt. Imma war tatsächlich wiederholt

dort gewesen, nur ahnte die Mutter nicht, daß sich in der gemütlichen Wohnstube der alten Frau stets noch ein zweiter Gast einzufinden pflegte, der Thilo Falck hieß und einer ihrer hoffnungsvollsten Angestellten war.

Frau Krause behütete die Liebe der beiden jungen Menschen gerührten Herzens und mach­te sich kein Gewissen daraus, daß sie ihre Heimlichkeiten unterstützte. Es würde schon alles recht werden, und außerdem hielt die alte gnädige Frau sehr große Stücke auf den jungen Herrn Thilo.

Frau von Losch war kürzlich bei ihr ge­wesen und hatte ihr gesagt, daß sie alles wis­se. Sie selber billige Immas Wahl, aber sie sei nicht sicher, wie ihre Tochter darüber denke. Auf jeden Fall handle Herr Falck sehr klug, wenn er seine Stellung im Werk erst festige, ehe er offen um Imma werben wolle.

Großmama ist eine herrliche Frau, hatte Imma begeistert gesagt, als Mutter Krause ihr von dieser Unterredung erzählte,sie tut alles, um uns das Warten zu erleichtern. Ist Muschi einmal im Theater oder Konzert, dann lädt Großmama Thilo auf die Burg oder sie fährt sonntags mit mir spazieren und unter­wegs begegnet uns dann zufällig der Silber­graue. Imma lachte und kuschelte sich zärtlich in Thilos Arm.Ach, Tine, wir wünschen es uns manchmal, daß Muschi halb so vernünftig wäre wie Großmama, aber wenn ich nur die leisteste Andeutung mache, wenn ich zum Beispiel sage: ,Musch, eigent­lich müßte es doch schön sein, sich zu verlie­ben dann geht sie gleich hoch, sieht mich strafend an und erklärt, daß ich Grünschnabel von Liebe überhaupt noch gar nicht reden dürfe. Was macht man mit einer solchen Mutter, Tine?

Frau Krause hatte ihr Immakind getröstet: Die Frau Mama werde mit der Zeit schon anders darüber denken, und der junge Herr solle nur alles tun. um sich ihr Vertrauen zu erwerben.

Später hatte sie Imma in die Küche hin­ausgerufen, hatte lange mit ihr geflüstert und ihr einen Rat gegeben.

So mußt du es machen, Kindel, ich garan­tiere, daß es klappt, denn genau so bin ich zu meinem Krause gekommen.

Imma hatte sie zuerst sprachlos angesehen, dann hatte sie laut gelacht und die alte Frau umarmt.

Aber Thilo muß es wissen, damit er nicht eifersüchtig wird, hatte sie gesagt.

Freilich, der junge Herr dürfe es schon erfahren, und wenn sie es klug anfinge, dann gäbe es bald ein glückliches Brautpaar, was die alte Tine ihrem Immakind von Herzen wünsche.

*

Stetig und rascher, als Thilo es geglaubt hatte, wuchs er in seine Arbeit' hinein. Sie forderte immer mehr von ihm, und ihre Viel­seitigkeit erhielt ihn in einem schöpferischen Schwung ohnegleichen.

Angelika sah es und freute sich. Was sie von der Befähigung des jungen Menschen er­hofft hatte, begann sich zu erfüllen. Bald würde sie ihn an den Platz stellen können, den sie für ihn bestimmt hatte. Es verging kein Tag, an dem sie ihn nicht zu sich rief, um neue Pläne mit ihm durchzusprechen. Jede Zeichnung mußte er ihr vorlegen, und Thilo bewunderte die Schärfe ihres Blickes, die un­trügliche Sicherheit ihres Geschmacks. Oft empfing er wertvolle Anregungen, und nie­mals wurden seiner erfindungsreichen Phanta­sie beengende Grenzen gezogen.

Was so in der Stille seines Zimmers am Zeichenbrett entstand, gestalteten viele fleißi­ge und geschickte Hände in den Werkstätten aus Holz und Ton, Edelmetall und Steinen, Leder und Stoff.

Ein neuer, frischer Wind wehte durch den Betrieb. Alle Abteilungen bekamen ihn zu spüren, und die reichbebilderten Kataloge, die Angelika drucken und verschicken ließ, trugen

ihn auch zu den Kunden. Die Aufträge häuf­ten sich.

Zwei Tage vor Weihnachten überrascht* Angelika ihren jungen Zeichner mit einer Ge­haltsaufbesserung und einer Einladung auf di« Burg für den ersten Feiertag.

Thilo stand da wie vom Donner gerührt.

Das hatte er nicht erwartet, und nun wollt* es sein Pech, daß er die Einladung nicht ein­mal annehmen konnte.

Sein Stillschweigen veranlaßte Angelik* zu der Frage, ob er über diesen Tag sehe« anders verfügt habe.

Leider ja, antwortete er verwirrt,mein* Schwester heiratet am ersten Weihnachts­feiertag.

Das geht natürlich vor. Angelika lä­chelte ihm freundlich zu, und um ihm über seine Verlegenheit hinwegzuhelfen, bat si® ihn, ihr von seiner Familie zu erzählen. Sie sind mir als Mitarbeiter so wertvoll ge­worden, Herr Falck, daß ich gern etwas über ihre persönlichen Verhältnisse erfahren wür­de, sagte sie gewinnend.

Thilo klangen diese Wort wie Mdsik. Sie dünkten ihn, der Auftakt zu einer Beziehung zu sein, die über das geschäftlich Sachlich® hinausging. Es war das erstemal, daß er ml* Angelika Lorentzen in zwangloser Unterhal­tung beisammensaß, in der nicht der Ange­stellte, sondern der Mensch Thilo Falck spre­chen durfte.

Er sprach gut und anschaulich, schildert* seine Jugend im Elternhaus, den stillen, klu­gen Vater und die lebhafte, heitere Mutter, die ihre Frohnatur auf die einzige Schwester vererbt hatte.

Angelika unterbrach ihn.Warten Sie Isa Falck? Aber ja, ich erinnere mich ihrer entzückenden Tierplastiken ganz genau. Meto® Tochter Imma besitzt sogar eines ihrer rei­zenden Kunstwerke: Ein Eichkätzchen au * Majolika. Sie brachte es von ihrer Berliner Reise mit. (Fortsetzung folgt)