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NUMMER 144
SAMSTAG, 15. SEPTEMBER 1951
Drei Gruppen von Flüchtlingen
Bundesvertriebenen-Gesetzentwurf beim Bundesrat I Behörden und Beiräte
BONN. Der seit langem vorbereitete Entwurf des Bundesvertriebenengesetzes ist von der Bundesregierung nunmehr dem Bundesrat zugeleitet worden. Die Gesetzesvorlage bestimmt den Begriff „Vertriebene“, die Voraussetzungen und Grundsätze der Betreuung der Flüchtlinge, ihre berufliche und wirtschaftliche Eingliederung und ihre Umsiedlung. Außerdem werden durch den Gesetzentwurf die Behörden und Beiräte für Flüchtlingsangelegenheiten bestimmt. Unberechtigte Erschleichung der Betreuung wird unter Strafe gestellt.
Die Flüchtlinge werden in drei Gruppen aufgegliedert: Vertriebene, Heimatvertrie- bene und Sowjetzonenflüchtlinge. Ein Vertriebener ist/ wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 hatte und wer diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung verloren hat. Deutsche, die nach dem 30. Januar 1933 wegen drohender oder zugefügter nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen wegen ihrer politischen Überzeugung, Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung diese Gebiete verließen, werden gleichfalls als Vertriebene eingegliedert.
Heimatvertriebener ist ein Vertriebener, der bereits vor dem 1. Januar 1938 seinen Wohnsitz in diesen Gebieten hatte.
Sowjetzonenflüchtling ist nach der Gesetzesvorlage ein deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger, der wegen einer ihm drohenden Gefahr für Leib und Leben oder für die persönliche Freiheit seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor Berlins aufgeben mußte. Auch Deutsche, die sich zur Zeit der Besetzung außerhalb dieser Gebiete aufhielten und dorthin nicht zurückkehren konnten, werden als Sowjetzonenflüchtlinge anerkannt.
Nicht anerkannt werden Personen, die nach den Entnazifizierungsbestimmungen als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft sind oder wegen einer nach westdeutschen Gesetzen strafbaren Handlung flüchteten. Das gleiche
Juristentag in SluSfgart
Sicherheit durch Sozialstaat
BAD CANNSTATT. Die Gestaltung der Formen der wirtschaftlichen Unternehmen, die Bereinigung des Strafgesetzbuches und die Reform des Beamtenrechts sind Hauptthemen, die auf dem seit Donnerstag tagenden Juristenkongreß Deutschlands in Stuttgart besprochen werden.
In einer Rede wandte sich Bundesjustizminister Dr. Dehler besonders gegen die Behauptung, daß das Strafrechtsänderungsgesetz, das die Bundesrepublik kürzlich erlassen hatte, übereilt und als „Blitzgesetz“ zustande gekommen sei. Prof. Dr. Kaufmann, der Rechtsberater des Bundeskanzleramtes, betonte ln seinem Referat über die Grenzen des verfassungsmäßigen Verhaltens nach dem Bonner Grundgesetz, die beste Sicherheit, daß diese Grenzen nicht überschritten würden, sei die Schaffung eines wahrhaft sozialen Staates,
Wissenschaft konkurrenzfähig
Prof. Hahn würdigt Wiederaufstieg
MÜNCHEN. Die deutsche Wissenschaft könne trotz der Folgen des Krieges und der finanziellen Not heute bereits wieder mit den europäischen Ländern konkurrieren, betonte Nobelpreisträger Prof. Otto Hahn, der Präsident der Max Planck-Gesellschaft, auf einer Pressekonferenz in München. Entdeckungen könnten auch heute noch einzelne Forscher mit geringen Mitteln machen, aber für die Entwicklung und Nutzanwendung der Erfindungen sei ein großer Apparat erforderlich. Die Möglichkeit dazu hätten die USA,
gilt für Personen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der demokratischen Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben.
Bei Zubilligung von Ausnahmen gilt der 31. Dezember 1949 als Stichtag für die den Vertriebenen zustehenden Rechte und Vergünstigungen. Bis zu diesem Tage mußte der Vertriebene im Bundesgebiet oder in Westberlin seinen ständigen Wohnsitz genommen haben. Die Vertriebeneneigenschaft wird von den Kindern ererbt und kann auch durch Heirat oder Adoption nach der Vertreibung nicht verlorengehen. Jede der drei Flüchtlingsgruppen erhält einen besonderen Ausweis.
Die Länder und Westberlin sind verpflichtet, für ihre Bereiche zentrale Dienststellen zu unterhalten. Beim Bundesministerium für Vertriebene sowie bei den zentralen Dienststellen der Länder werden außerdem Beiräte für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen gebildet. Der Beirat im Bundesflüchtlingsministerium umfaßt Vertreter aller Länderdienststellen,
Kompromiß möglich in Hessen
Nur ein Zwischenfall beim Streik
FRANKFURT. Die Gespräche der Sozialpartner der hessischen Metallindustrie unter der Verhandlungsführung von Ministerpräsident Georg Zinn sind gestern in Wiesbaden fortgeführt worden. Der hessische Ministerpräsident will sich in die Gespräche erst dann aktiv einschalten, wenn sich ein negatives Ergebnis abzeichnen sollte.
Das Hauptproblem der Besprechungen wird darin gesehen, daß die Gewerkschaft eine generelle Lohnerhöhung verwirklicht sehen will, während die Arbeitgeber lieber eine Zulage für Familienväter und eventuell Beihilfe zur Beschaffung von Kohle und Kartoffeln befürworten. Die Bereitschaft zu einem Kompromiß, der die volkswirtschaftlichen Notwen-
Flüchtlingsorganisationen, Spitzen verbände der freien Wohlfahrt, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der evangelischen und der katholischen Kirche.
Die in der Gesetzesvorlage vorgesehene Umsiedlung bestimmt, daß diese die Länder Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein entlasten solle und daß die Eingliederung der Flüchtlinge je nach dem erlernten Beruf erfolgen müsse. Ärzten, Zahnärzten und Dentisten, die vor 4. September 1949 zur Kassenpraxis nach deutschen Vorschriften zugelassen waren, wird die weitere Zulassung im Bundesgebiet gesichert.
Die selbständige Erwerbstätigkeit von Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in freien Berufen soll durch Gewährung von Krediten aus öffentlichen Mitteln zu günstigen Zins- und Tilgungsbedingungen und Bürgschaftsübernahmen gefördert werden. In der Sozialversicherung und in der Arbeitslosenversicherung sollen Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge den Einheimischen gleichgestellt werden.
Die Gesetzesvorlage wird, nachdem der Bundesrat dazu Stellung genommen hat, dem Bundestag zugeleitet.
digkeiten berücksichtige, sei jedoch bei beiden Gesprächspartnern vorhanden, wie unterrichtete Kreise der hessischen Hauptstadt erklären.
Zu einem Zwischenfall kam es nur im MAN-Werk Mainz-Gustavsburg, wo die Werkseingänge von den Streikposten weder den Vertretern der Gewerkschaft noch dem hessischen Innenminister Zinnkann gegenüber für Arbeitswillige freigegeben worden sind. Nach einer Ansprache des Innenministers, daß er zur Wahrung der Rechte der Arbeitswilligen zum Einsatz von Polizei gezwungen sei, wenn die Streikenden selbst keine Ordnung halten, ordnete er an, daß eine verstärkte Polizeiabteilung mit Fahrzeugen die Postenkette durchbrechen solle. Die Streikposten setzten dem Vorgehen der Polizei dann keinen Widerstand mehr entgegen.
Dirne o er Winkelried?
kr. Englische Pressekommentare der letzten Tage zeigen sich — teilweise nicht ohne Grund — verschnupft über die Äußerungen deutscher Zeitungen, denen sie in der Frage der Wiederaufrüstung nationalistische Tendenzen vorwerfen und die deutschen Forderungen für einen Verteidigungsbeitrag als übertrieben ablehnen.
In diesem Zusammenhang versteigt sich „Sta- tesman and Nation“ zu der Behauptung, Deutschland sei „die zukünftige Dirne Europas“. Wir können nicht umhin, diese für ein ganzes Volk höchst fatale Bezeichnung zu definieren: „Dirne“ ist eine Person, die sich gegen ; schnödes Entgelt zu Dingen hergibt, die nur in ; den Bereichen echter Liebe Raum haben dür- j fen. Der Bezirk, in dem sich die „Dirne ‘ Deutschland“ nach Ansicht des englischen Blattes prostituiert, kann doch wohl nur der der Verteidigung Europas sein. Hier wirft man uns vor, daß wir die Bereitschaft dazu und zu den eventuellen Folgen nicht ganz selbstverständlich im plötzlich erwünschten „furor teutoni- cus“ aufbrächten, sondern für unsere Beteiligung heraushandeln. — Wie unverschämt sind doch diese Deutschen! Wo alles aus heiligster Überzeugung nach Wallen schreit, um Europa notfalls hinter dem Rhein oder in den Pyrenäen zu verteidigen, verlangen sie allerlei Vorschüsse, um sich dann ziemlich uninteressiert dem Waffenhandwerk zu widmen. Wahrlich, die Bezeichnung „Dirne“ trifft haargenau auf ein Volk zu, das nicht die rechte Neigung hat, den Winkelried Europas zu spielen. Welche nachdenklich stimmenden Aspekte ergeben sich jedoch, wenn man überlegt, daß diese „Dirne Europas“ vor nicht allzulanger Zeit für den Frieden der Welt im schönsten Einvernehmen zwischen den zukünftigen Kontrahenten geteilt wurde!
Gesunde MitfeSslandspo itik
Adenauer spricht zum Handwerk
BONN. Bundeskanzler Adenauer warnte vor dem Handwerksrat des Zentralrates des deutschen Handwerks vor der Bildung einer ; neuen Mittelstandspartei, forderte das Handwerk jedoch auf, mit aller Energie für eine größere Berücksichtigung in den bestehenden Parteien einzutreten. Eine neue Partei würde die staatserhaltenden Parteien in der Bundesrepublik nur noch schwächen. Es sei eine abso- ' lute Notwendigkeit, daß die Bundesrepublik eine gesunde Mittelstandspolitik betreibe. Den ; Forderungen des Handwerks nach einem ein- i fächeren Steuerwesens, einer baldigen Instand- j Setzung der Altbauten, gerechteren Wettbe- i werbsbedingungen für die kleineren Betriebe, systematischer Einschaltung des Handwerk in öffentliche Aufträge und einer stärkeren Rücksicht auf die kleineren Betriebe bei der Kreditgewährung stimmte der Bundeskanzler zu. Außerdem setzte er sich für den großen Befähigungsnachweis im Handwerk ein.
Wieder ziviler Luitverkehr
Erster Schritt: Übergabe der Flugplätze
LONDON. Aus gutunterrichteten diplomatischen Kreisen der englischen Hauptstadt verlautet, daß die Westmächte schon in Kürze der Bundesrepublik die schrittweise Einrichtung eines zivilen Luftverkehrs gestatten würden. Der erste Schritt werde die Übergabe sämtlicher Flugplatzanlagen sein. Später dürft* dann die Bundesrepublik einen innerdeutschen Luftverkehr einrichten. Linien nach dem Ausland würden erst gestattet werden, sobald es erwiesen sei, daß sich die Deutschen an di* verschiedenen internationalen Luftfahrtkonventionen halten würden.
Die gleichen Kreise weisen darauf hin, dafl sich ein schneller Aufbau einer neuen deutschen Verkehrsluftfahrt allein schon durch di« schwierige finanzielle Lage der Bundesregierung verbiete.
Die Wiederzulassung deutscher Luftlinie» werde nichts mit der Aufstellung einer taktischen deutschen Luftwaffe im Rahmen deg deutschen Verteidigungsbeitrags zu tun habe», erklärten die diplomatischen Kreise London*
K!eine Weltdironik
MÜNCHEN. Zum erstenmal seit der Revolution von 1918 richtete der 82jährige Kronprinz Rupprecht von Bayern von seinem Wohnsitz Leutstetten aus eine offizielle Erklärung an das bayerische Volk, in der er zur „Sammlung“ aufrief und die gemeinsamen Bestrebungen der Heimat- und Königstreuen guthieß.
HOF. Mit einer amerikanischen Armeelastwagenkolonne wurde am Donnerstag der Rücktransport von 77 tschechischen Staatsangehörigen durchgeführt, die mit einem Mitte der Woche nach Westdeutschland „durchgebrochenen“ Prager D-Zug nach Bayern „entführt“ worden waren. Rund 30 Zuginsassen blieben als Flüchtlinge in der Bundesrepublik.
KARLSRUHE. Der Bundesanwaltschaft des Bundesgerichtshofes ist ein Revisionsantrag gegen das Urteil im Prozeß gegen die ehemalige Kommandeuse des KZ Buchenwald, Ilse Koch, die Anfang dieses Jahres zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, zugegangen.
MAINZ. In Rheinland-Pfalz wurden mehrere Verfahren eingeleitet gegen Personen, die nationalsozialistische Lieder gesungen und gespielt haben.
MAINZ. Am Donnerstagabend trafen in Mainz 15 ehemalige Kriegsgefangene aus der Sowjetunion ein, die als „Personen des französischen Interessengebietes“ auf Betreiben der französischen Regierung entlassen worden sind. Zu der Gruppe gehörten drei Saarländer, neun Elsäßer und zwei Deutsche, die als „im französischen Interessengebiet gebürtig“ ebenfalls in einem sowjetischen Ausländerlager waren. Nach ihren Berichten befanden siph Ende Juli 1951 noch etwa 50 Personen in diesem Lager, darunter eine größere Zahl von Deutsch-Ukrainern und Sudetendeutschen, sowie weitere 14 Personen aus dem französischen Interessengebiet.
BONN. Eine Auswanderung deutscher Ärzte mit Hilfe der UN-Weltgesundheitsorganisation sei zurzeit noch nicht möglich, erklärte deren Präsident Dr. Chisholm auf einer Pressekonferenz in Bonn. Bei dieser Gelegenheit wurde darauf hingewiesen, daß es in der Bundesrepu
blik 5000—6000 stellungslose und 10 000—12 000 nicht vollbeschäftigte Ärzte gibt.
HAMBURG. In Itzehoe sind fünf Personen an einem aus Knollenblätterpilzen bereiteten Gericht gestorben. Zwei liegen noch in bedenklichem Zustand im Krankenhaus.
BERLIN. Nach einem Bericht des Amtes für gesamtdeutsche Studentenfragen sind am 30. August vom Landgericht Halle 14 junge Menschen darunter elf Studenten, unter Ausschluß der Öffentlichkeit wegen Zusammenarbeit mit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, Verbreitung von Material aus Westberlin und „Diffamierung der deutschen demokratischen Republik“ zu Zuchthausstrafen zwischen 8 und 15 Jahren verurteilt worden.
PARIS. Die französische Luftverkehrsgesellschaft „Air France“ gab am Donnerstagabend bekannt, sie habe auf Anraten der Regierung den Flugverkehr nach der Tschechoslowakei bis auf weiteres eingestellt, um Repressalien zu vermeiden; nachdem die alliierte Hohe Kommission den tschechoslowakischen Flugzeugen das Überfliegen der Bundesrepublik verboten hat.
GENF. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UN nahm mit 12:3 Stimmen einen amerikanischen Entschließungsentwurf an, in dem zum Vorgehen gegen die großen internationalen Kartelle aufgerufen wurde, da diese den Handel, die wirtschaftliche Entwicklung und den Lebensstandard beeinträchtigten.
ROM. Italien hat beschlossen, sein Konsulat in Preßburg zu schließen, und forderte gleichzeitig die tschechische Regierung auf, das gleiche mit ihrem Konsulat in Mailand zu tun.
NEW YORK. Ein Ausschuß der UN schlug trotz sowjetischer Proteste vor, daß die Sowjetunion im kommenden Jahr mehr, Großbritannien und die USA aber weniger zu den Kosten der UN beitragen sollten. Bisher entfielen auf die USA 38,9, auf die UdSSR 6,9 Prozent. Der Sowjetdelegierte wies auf die Kriegsschäden in der Sowjetunion hin und forderte, daß die USA mindestens 50 Prozent des Haushalts tragen müßten.
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IM NECKARTAL
Ein fröhlicher Roman von Else Jung
32] Copyright by Verhg Bechthold
Jetzt war er endlich am richtigen Platz, und daß Immas Mutter so viel von ihm erwartete, machte ihn stolz und spornte ihn an, seine Leistungen noch zu verbessern.
„Paß auf, Imma, in einem Vierteljahr bin ich so weit, daß Muschi mit tausend Freuden ja und Amen sagt, wenn ich sie um deine Hand bitte“, sagte er froh, und Imma erklärte lachend, daß er sich noch ein wenig mehr beeilen möge, denn so lange halte sie es nicht mehr aus.
Es war wirklich keine leichte Aufgabe, jeden Tag am Webstuhl zu sitzen, verliebt zu sein und den Liebsten nur beim Mittagessen zu sehen, wobei sie sich nicht einmal richtig in die Augen schauen durften.
Es war weiß Gott nicht einfach, sich nach dem Essen unbemerkt fortzustehlen, weil auf der Bank im Walde ein ungeduldiger junger Mann wartete, und am schlimmsten war es, daß ich sie nach Feierabend nicht mehr treffen konnten.
Nur hin und wieder glückte es Imma, der Mutter zu entwischen, die dann jedesmal im Wagen einen Zettel fand:
„Bin mit dem Rad gefahren. Muß mir im Städtchen etwas kaufen.“ — Oder: „Bin heute bei der alten Tine — sie hat mich zum Abendbrot eingeladen.“
Es fiel Angelika auf, daß sich Immas Besuche bei der ehemaligen Kinderfrau häuften, doch als sie bei ihr nachfragte, war sie beruhigt. Imma war tatsächlich wiederholt
dort gewesen, nur ahnte die Mutter nicht, daß sich in der gemütlichen Wohnstube der alten Frau stets noch ein zweiter Gast einzufinden pflegte, der Thilo Falck hieß und einer ihrer hoffnungsvollsten Angestellten war.
Frau Krause behütete die Liebe der beiden jungen Menschen gerührten Herzens und machte sich kein Gewissen daraus, daß sie ihre Heimlichkeiten unterstützte. Es würde schon alles recht werden, und außerdem hielt die alte gnädige Frau sehr große Stücke auf den jungen Herrn Thilo.
Frau von Losch war kürzlich bei ihr gewesen und hatte ihr gesagt, daß sie alles wisse. Sie selber billige Immas Wahl, aber sie sei nicht sicher, wie ihre Tochter darüber denke. Auf jeden Fall handle Herr Falck sehr klug, wenn er seine Stellung im Werk erst festige, ehe er offen um Imma werben wolle.
„Großmama ist eine herrliche Frau“, hatte Imma begeistert gesagt, als Mutter Krause ihr von dieser Unterredung erzählte, „sie tut alles, um uns das Warten zu erleichtern. Ist Muschi einmal im Theater oder Konzert, dann lädt Großmama Thilo auf die Burg oder sie fährt sonntags mit mir spazieren und unterwegs begegnet uns dann zufällig der Silbergraue.“ — Imma lachte und kuschelte sich zärtlich in Thilos Arm. — „Ach, Tine, wir wünschen es uns manchmal, daß Muschi halb so vernünftig wäre wie Großmama, aber wenn ich nur die leisteste Andeutung mache, wenn ich zum Beispiel sage: ,Musch, eigentlich müßte es doch schön sein, sich zu verlieben — dann geht sie gleich hoch, sieht mich strafend an und erklärt, daß ich Grünschnabel von Liebe überhaupt noch gar nicht reden dürfe. Was macht man mit einer solchen Mutter, Tine?“
Frau Krause hatte ihr Immakind getröstet: Die Frau Mama werde mit der Zeit schon anders darüber denken, und der junge Herr solle nur alles tun. um sich ihr Vertrauen zu erwerben.
Später hatte sie Imma in die Küche hinausgerufen, hatte lange mit ihr geflüstert und ihr einen Rat gegeben.
„So mußt du es machen, Kindel, ich garantiere, daß es klappt, denn genau so bin ich zu meinem Krause gekommen.“
Imma hatte sie zuerst sprachlos angesehen, dann hatte sie laut gelacht und die alte Frau umarmt.
„Aber Thilo muß es wissen, damit er nicht eifersüchtig wird“, hatte sie gesagt.
Freilich, der junge Herr dürfe es schon erfahren, und wenn sie es klug anfinge, dann gäbe es bald ein glückliches Brautpaar, was die alte Tine ihrem Immakind von Herzen wünsche.
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Stetig und rascher, als Thilo es geglaubt hatte, wuchs er in seine Arbeit' hinein. Sie forderte immer mehr von ihm, und ihre Vielseitigkeit erhielt ihn in einem schöpferischen Schwung ohnegleichen.
Angelika sah es und freute sich. Was sie von der Befähigung des jungen Menschen erhofft hatte, begann sich zu erfüllen. Bald würde sie ihn an den Platz stellen können, den sie für ihn bestimmt hatte. Es verging kein Tag, an dem sie ihn nicht zu sich rief, um neue Pläne mit ihm durchzusprechen. Jede Zeichnung mußte er ihr vorlegen, und Thilo bewunderte die Schärfe ihres Blickes, die untrügliche Sicherheit ihres Geschmacks. Oft empfing er wertvolle Anregungen, und niemals wurden seiner erfindungsreichen Phantasie beengende Grenzen gezogen.
Was so in der Stille seines Zimmers am Zeichenbrett entstand, gestalteten viele fleißige und geschickte Hände in den Werkstätten aus Holz und Ton, Edelmetall und Steinen, Leder und Stoff.
Ein neuer, frischer Wind wehte durch den Betrieb. Alle Abteilungen bekamen ihn zu spüren, und die reichbebilderten Kataloge, die Angelika drucken und verschicken ließ, trugen
ihn auch zu den Kunden. Die Aufträge häuften sich.
Zwei Tage vor Weihnachten überrascht* Angelika ihren jungen Zeichner mit einer Gehaltsaufbesserung und einer Einladung auf di« Burg für den ersten Feiertag.
Thilo stand da wie vom Donner gerührt.
Das hatte er nicht erwartet, und nun wollt* es sein Pech, daß er die Einladung nicht einmal annehmen konnte.
Sein Stillschweigen veranlaßte Angelik* zu der Frage, ob er über diesen Tag sehe« anders verfügt habe.
„Leider ja“, antwortete er verwirrt, „mein* Schwester heiratet am ersten Weihnachtsfeiertag.“
„Das geht natürlich vor.“ — Angelika lächelte ihm freundlich zu, und um ihm über seine Verlegenheit hinwegzuhelfen, bat si® ihn, ihr von seiner Familie zu erzählen. — „Sie sind mir als Mitarbeiter so wertvoll geworden, Herr Falck, daß ich gern etwas über ihre persönlichen Verhältnisse erfahren würde“, sagte sie gewinnend.
Thilo klangen diese Wort wie Mdsik. Sie dünkten ihn, der Auftakt zu einer Beziehung zu sein, die über das geschäftlich Sachlich® hinausging. Es war das erstemal, daß er ml* Angelika Lorentzen in zwangloser Unterhaltung beisammensaß, in der nicht der Angestellte, sondern der Mensch Thilo Falck sprechen durfte.
Er sprach gut und anschaulich, schildert* seine Jugend im Elternhaus, den stillen, klugen Vater und die lebhafte, heitere Mutter, die ihre Frohnatur auf die einzige Schwester vererbt hatte.
Angelika unterbrach ihn. „Warten Sie — Isa Falck? Aber ja, ich erinnere mich ihrer entzückenden Tierplastiken ganz genau. Meto® Tochter Imma besitzt sogar eines ihrer reizenden Kunstwerke: Ein Eichkätzchen au * Majolika. Sie brachte es von ihrer Berliner Reise mit.“ (Fortsetzung folgt)