NUMMER 141
MONTAG, 10. SEPTEMBER 1951
Gibt es ein Geheimnis des 24. April 1945 ?
Stadtpfarrer Keidier verweigert im Kalbfellprozeß weiterhin die Aussage zu wichtigen Fragen / Heute voraussichtlich letzter Tag
Zu Beginn der Verhandlung am Samstagvor- mittag wurde zunächst der Friseur E. Weip- p e r t gehört, mit dem Holzer zusammen im KZ Buchenwald gewesen war. Weippert selbst war 66 Monate in diesem KZ. Weippert bezeugte auf Anfrage des Gerichtes, daß Holzer in der Tat den roten Winkel besessen habe, also politischer Häftling war.
N.: „Haben Sie eine Liste bei Holzer gesehen?“
W.: „Ja, Holzer hatte eine Liste. Es standen lauter Nazis drauf. Holzer mußte prüfen, (1) ob sich diese Leute etwas hatten zu Schulden kommen lassen.“
Holzer will .mal wieder auspacken
In diesem Allgenblich sprang Holzer auf und schrie mit lauter Stimme, er wolle nun klaren Tisch machen. Er habe bisher Rücksicht genommen, nun wolle er auspacken. Er habe in den Morgenzeitungen gelesen, daß man ihn für unglaubwürdig halte. Nun werde er die volle Wahrheit sagen. An den Präsidenten gewandt: „Verstehen Sie mir recht: ich ersuche Ihnen, mich als Zeugen und nicht als Angeklagten zu behandeln.“
Neilmann: „Wir wünschen seit dem ersten Tag des Prozesses nichts sehnlicher, als daß Sie endlich auspacken. Niemand hindert Sie daran, frei zu reden.“
Ein Mann mit Charakter
In dem Bestreben, nunmehr auszupacken, stellte Holzer dann eine Reihe von neuen Behauptungen auf, so beispielsweise: außer Kalbfell sei auch Kern und Danzer an den Geiselerschießungen mitschuldig, bei dem Essen in der Harmonie sei auch Frau Danzer anwesend gewesen, ebenso seien die Herren Kalbfell, Kern und Danzer in dem von Ihm eingerichteten Bordell gewesen, um sich die Mädchen anzusehen. Er selbst habe keinem Bürger der Stadt etwas zu Leide getan, sondern sei ein „Mann von Cha- rsktsr**
Das Gespräch kam dann noch einmal auf Jakob Schmid. Da Holzer seine bisherigen Erklärungen zu anderen Fragen widerrufen batte, wurde er noch einmal zum Thema befragt. Nun erklärte er, er könne seine Aussagen nicht aufrecht erhalten, wonach Kalbfell mit Jakob Schmid ln einen Streit geraten sei.
Der Stand vor Beginn des vierten Tags
Die Fülle der Aussagen und Eindrücke, die dieser Prozeß sowohl für die unmittelbar daran Beteiligten als auch für Zuhörer und Leser der Prozeßberichte während der ersten drei Tage gebracht hat, läßt es ratsam erscheinen, die wichtigsten Punkte, um deren Klärung das Gericht mit den Zeugen geradezu ringt, zu fixieren, damit der Überblek über den Prozeßverlauf nicht verloren geht.
Fest steht bisher, daß der französische Soldat am 22. April keinem Attentat, sondern einem Motorrradunfall zum Opfer gefallen ist, fest steht weiterhin, daß zwischen OB Kalbfell und den vier als Geiseln erschossenen Männern keine Feindschaft bestanden hat.
Ungeklärt Ist noch, ob OB Kalbfell von der Verhaftung der vier Männer und von ihrem späteren Schicksal schon vor der Erschießung etwas gewußt hat. Um diese Frage zu klären, verfolgt das Gericht jeden Fingerzeig unter Aufbietung einer großen Zahl von Zeugen. Deshalb befaßt es sich auch so eingehend mit dem am 23. April 1945 im Hotel Harmonie stattgefundenen Abendessen, deshalb interessiert es sich auch für die Teilnehmer an den von Kalbfell veranstalteten Versammlungen und Kundgebungen. Der Zeuge Holzer behauptet nämlich, bei jenem Abendessen am Vorabend der Erschießungen sei bereits vom Tode des französischen Soldaten, von Kontributionen und von Geiseln die Rede gewesen nnd er habe auf dem Tisch eine Liste, zumindest ein ähnlich aussehendes Stück Papier, gesehen. Demgegenüber erklärten die Zeugen Kern und Danzer, die bei dem Essen anwesend waren, daß nichts von alledem gesprochen worden sei. Sie werden vermutlich heute ihre Anssagen beschwören. Mit Holzers Darstellung reimt sich auch eine Äußerung Kalbfells nicht zusammen, die er am Abend nach der Erschießung dem Zeugen Brlel gegenüber getan hat, daß nämlich Geiseln erschossen worden seien, ohne daß er davon gewußt habe. Der Zeuge beschwor, daß diese Äußerung gefallen sei.
Widersprechend sind auch die Aussagen über Äußerungen Kalbfells in Versammlungen und Kundgebungen, wonach eg ihm gelungen sei, die Zahl der Geiseln von zwanzig auf vier herunterzuhandeln. Zwei Zeugen, die an einer derartigen Versammlung am 25. Juli 1945 in Pfullingen teilgenommen haben, beschworen, sich an eine solche Äußerung nicht erinnern zu können. Ein anderer Zeuge, der unvereidigt geblieben ist, will das allerdings gehört haben. Die gleiche Äußerung soll nach der Aussage eines Zeugen von Kalbfell am 1. Mai 1945 auf dem Reutlinger Marktplatz gebraucht worden sein. Ähnliches will der bekannte Fallschirmagent Graeber, alias Terboven, von Kalbfell einmal selbst gehört haben; er war seiner Sache aber auch nicht sicher.
Für die Behauptung, OB Kalbfell habe die Geiseln ausgewählt und sie den Franzosen benannt, gibt es bisher noch keinen eindeutigen Beweis. Die darauf hindeutenden Sätze in den Abschiedsbriefen der erschossenen Geiseln Wilhelm und Jakob Schmid und die ähnlich zu bewertenden Worte, die Jakob Schmid seiner Ehefrau nnd einer Zeugin von einem Fenster des Rathauses in den Hof znrufen konnte, sind in dem der Hauptverhandlung vorausgegangenen Verfahren nicht als durchschlagend genug bewertet worden. Ob das Dunkel gelüftet worden wäre, wenn der katholische Stadtpfarrer Reicher, der den vier Männern in ihren letzten Stunden beigestanden hat, v or Gericht gesprochen hätte, läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen.
Die lefete Stunde der Geiseln
Als nächster Zeuge wurde nun Stadtpfarrer Hermann Keicher aus Reutlingen vernommen. Atemlose Stille lag über dem Zuhorer- raum, da jedermann wußte, daß die Verhandlung nunmehr in ein entscheidendes Stadium rücken könnte. Es war bekannt, daß Stadtpfarrer Reicher in der Voruntersuchung die Aussage verweigert hatte, und dafür vom Gericht mit einer Ordnungsstrafe von 30 DM belegt worden war. Zwei Berufungen gegen dieses Urteil waren abgelehnt worden. Der Aussage von Stadtpfarrer Keicher kam sowohl nach Auffassung des Gerichts. als auch im selben Maße nach Auffassung der Öffentlichkeit und der Hinterbliebenen entscheidende Bedeutung zu, weil man allgemein aus der Zeugnisverweigerung Keichers eine Belastung Kalbfells ableitete. Hinzu kam die Veröffentlichung in der illustrierten Zeitschrift „Revue“, nach der Stadtpfarrer Keicher einem Reporter auf die Frage „Was ist Ihre Meinung?“ geantwortet haben soll, er sei an seine Schweigepflicht gebunden, aber: „Sie haben doch sicher die Abschiedsbriefe mit Aufmerksamkeit gelesen“. Auch diese Äußerung wurde natürlich als ein direkter Hinweis auf die Schuld Kalbfells gewertet.
In nahezu zweistündigen Bemühungen versuchte Präsident Nellmann, Stadtpfarrer Keicher, der in den Augen der Öffentlichkeit als der entscheidende Kronzeuge angesehen wird, zum Sprechen zu bringen. Er bat ihn in inständiger Weise, er beschwor ihn im Namen der Hinterbliebenen und suchte ihm jede erdenkliche Brücke zu bauen. Die Atmosphäre war mit Spannung bis zum Zerbersten gefüllt. Indes blieben alle Bemühungen umsonst.
N.: „Ist in Ihrer Gegenwart den Männern etwas eröffnet worden?“
K.: „Ich kann mich nicht erinnern.“
N.: „Die Frage zielt dahin: Ist in Ihrer Gegenwart den Männern ein Todesurteil eröffnet worden?"
K.: „Das haben die Männer schon gewußt.“
N.: „Die Männer haben dann geschrieben?“
K.: „Ja, Abschiedsbriefe. Ich habe von den Franzosen Briefpapier verlangt, damit die Männer an ihre Angehörigen einen letzten Gruß schreiben können.“
N.: „Um wieviel Uhr?“
K.: „So gegen drei Uhr herum. Ich war nun bei diesen Männern, bis sie abgeholt worden sind. Es kam ein großes Auto und hat sie fortgeführt. Man hat nicht recht gewußt, wohin es zunächst geht. Zunächst haben wir gemeint, es gehe in den Stadtgarten, dann wieder, sie fahren bei der Ludwig-Finckh-Straße hinaus, das ist doch eine Sackgasse. Den Weg hatten sie offenbar nicht gewußt. Dann sind sie zurückgefahren zum Schönen Weg.“
N.: „Am Schönen Weg wurden die Männer dann erschossen?“
K.: „Ja.“
Fand eine Beichte statt?
N.: „Nicht wahr, darüber ist nun kein Zweifel, daß wenn die Franzosen in Ihrer Gegenwart etwas zu den Männern gesagt hätten, daß das von Ihnen auf alle Fälle auch, zu offenbaren wäre, denn, wenn die Franzosen etwas sagen, dann ist das ja auf gar keinen Fall ein Beichtgeheimnis, denn wenn ein Franzose dabei ist, kann ja nicht gebeichtet werden. — Die Beichte muß ja allein erfolgen.“
K.: „Ich kann mich nicht erinnern, daß die Franzosen etwas gesagt haben.“
N.: „Sagen Sie uns präzise: Hat eine Beichte stattgefunden oder nicht?“
K.: „Ich sage weder ja noch nein.“ (Lebhafte Bewegung im Saal.)
Berufung auf das Konkordat
Stadtpfarrer Keicher berief sich nun auf den Artikel 9 des Reichskonkordats, wonach es den
Gerichtsbehörden nicht zustehe, von den katholischen Geistlichen Aussagen zu verlangen, deren Inhalt diesen bei Ausübung der Seelsorge anvertraut worden sei. Demgegenüber bestand Präsident Nellmann auf den § 53 der Strafprozeßordnung, wonach das Gericht verlangen kann, daß der Zeuge die Ausübung seiner seel- sorgerlichen Arbeit, in diesem Fall also die Beichte, dem Gericht glaubhaft machen müsse.
N.: „Ich bitte Sie, uns glaubhaft zu machen, daß eine Beichte stattgefunden hat, indem Sie uns sagen, ich ?iabe mich abgesondert. Sie können doch das Beichtgeheimnis nicht verletzen, wenn Sie gar nicht sagen, daß eine Beichte stattgefunden hat und das können sie uns doch ganz äußerlich schildern. Sie können uns doch sagen, daß Sie in eine Ecke gegangen sind- Das machen Sie doch im Lazarett und in Krankenhäusern auch so. Ich gebe Ihnen Gelegenheit, darüber Ihr Gewissen zu Rate zu ziehen.“
K.: „Das spielt doch gar keine Rolle.“
N.: „Dem Gericht ist es wichtig.“
(Keicher schweigt.)
N.: „Die vier Männer haben Ihnen doch auch eine schriftliche Botschaft mitgegeben, die Sie den Angehörigen ausgehändigt haben. Wenn sie Ihnen auch etwas Mündliches sagten, so hatten die Männer doch sicher den Wunsch, daß ihre Mitteilung nicht nur ihren Angehörigen geoffenbart, sondern in alle Öffentlichkeit hin- ausgeschrien wird.“
K.: „Selbst wenn Sie dies gewollt hätten, bin ich nicht verpflichtet, etwas mitzuteilen.“ (Unruhe im Saal.)
N.: „Verstehen Sie doch, Herr Stadtpfarrer: Auch das Gericht ist in Not..Wir stehen vor einer so emminent schwierigen Entscheidung. Sie sehen doch, daß Ihr Schweigen indirekt den Oberbürgermeister belastet. Ein Rechtsanwalt hat sich an das Gericht gewandt und gerade Ihre Aussageverweigerung als einen schlüssigen Beweis für
die Schuld Kalbfells bezeichnet. Wir gehen nicht so weit. Aber ich frage Sie: Belastet das Ihr Gewissen nicht? Haben Sie kein Gefühl dafür, daß in Ihrem Verhalten irgend etwas nicht stimmt?"
(Keicher schweigt.)
Das Gericht beriet in einer Pause darüber, ob Stadtpfarrer Keicher für seine Zeugnisverweigerung zu bestrafen sei und verkündete den Beschluß zu Beginn der Nachmittagssitzung.
Von einer Strafe wird abgesehen
N.: „Das Gericht hat beschlossen, für die Zeugnisverweigerung des Stadtpfarrers Keicher von einer Strafe abzusehen. Das Gericht hält mit aller Schärfe aufrecht, daß dem Herrn Stadtpfarrer Keicher keine Zeugnisverweigerung zusteht, weder aus § 53 der Strafprozeßordnung noch ans § 54, der überhaupt nicht in Betracht kommt. Das Gericht bedauert um so mehr, daß der Herr Stadtpfarrer es für richtig gefunden hat, auf seiner irrigen Rechtsansicht von diesem Gesetz zu beharren, angesichts einer Äußerung, die weiter gewirkt hat, einer Äußerung, die er nun allerdings heute ln seiner Zeugenaussage korrigiert hat und die wir ihm selbstverständlich auch glauben. Trotzdem bleibt es bedauerlich, daß angesichts dieser Äußerung der Zeuge durch unsere großen Bemühungen nicht zu bewegen war, Aussagen zu machen, von denen wir der Meinung sind, daß er sie sowohl den Opfern als auch dem Beschuldigten schuldig war. Der Herr Stadtpfarrer ist schon einmal bestraft worden in der Untersuchung durch den Untersuchungsführer, und die Dienststrafkammer hat seine Beschwerde verworfen. Er wurde damals mit ein&r Geldstrafe belegt. Nun ist nach dem Gesetz (8 70, Ziffer 4 der Strafprozeßordnung) nicht möglich, in demselben Verfahren die Strafe zu wiederholen. Wir müßten also jetzt den Herrn Stadtpfarrer in Haftstrafe nehmen.
Davon hat nun das Gericht abgesehen nnd zwar mit Rücksicht auf das Alter des Herrn Zeugen nnd mit Rücksicht darauf, daß er in einer Irrigen Rechtsauffassnng durch seine geistlichen Oberen bekräftigt und bestärkt worden ist.
Wir wollen ihn nicht in Haft nehmen, zumal ganz deutlich war, daß auch hei Verhängung einer Haft nicht mehr zu erreichen wäre, als wir bisher erreicht haben. Es wäre eine Maßnahme gegen einen 68.iährigen Geistlichen, der aus Ge- wissensnot und, wenn auch falschen, so doch anständigen Motiven gehandelt hat, eine Maßnahme, aie zu keinem Ziel führte. Deshalb haben wir davon abgesehen.“
Am Spätnachmittag des 24. April
Die Vernehmung von Frau Witwe Berta Hammer aus Reutlingen führte auf eine neue Fährte. Im Verlauf ihrer Aussagen konnte aus dem Zuschauerraum ein Mann in den Zeugenstand treten, der mit seiner klaren und entschiedenen Aussage einmal vorteilhaft von dem schlechten Gedächtnis und der schwankenden Haltung so mancher Zeugen abstach und zum andern für die Entlastung von Oberbürgermeister Kalbfell ein beachtliches Moment beisteuerte. Kaufmann Hippolyt Brlel aus Reutlingen, der geschäftliche Komnagnon von Oberbürgermeister Kalbfell, erzählte. wie der Oberbürgermeister am 24. April abends ln der Zeit zwischen 18 und 18.30 Uhr zu ihm ins Haus gestürzt sei und im Beisein von Herrn Hammer, dem O-atten der eben vemom- menen Frau Berta Hammer, erregt hervorgestoßen habe: „Stellen Sie sich vor. heute sind Geiseln erschossen worden. Ich wußte nichts davon!“ Frau Hammer bestätigte sofort: ..Mein Mann hat mir das auch so erzählt.“
Die Marktnlatzrede vom l.Mai
Für die Marktolatzrede von Kalb- feil am 1. Mai 1945 waren noch zwei Zeugen angetreten, von denen der Fotograf Carl Näher aus Reutlingen ein Schwiegersohn des erschossenen Jakob Schmid. sehr energisch und mit fest umrissenen Sätzen die schon öfters erwähnte Redewendung vom Herabhandeln der zwanzig Geiseln auf vier bestätigte Der Oberbürgermeister habe gesagt: ..Die zwanzig Hit- leriungen habe ich auf diese vier Männer herun— tergehandelt.“
Abends um 148 Uhr wurde die Samstagverhandlung abgeschlossen. Das Gericht tritt heute um 11 Uhr wieder zusammen.
Wal lenstein — ein Experiment
Zur Aufführung der Schülerschen Stücke im Staatstheater Stuttgart
„Wallenstein, Dramatisches Gedicht von Schiller“ meldet der Theaterzettel. Wer seinen Schiller aufschlägt, findet dort diesen Titel nicht Er Ist Eigentum des Oberspielleiters Paul H o f f- m a n n. Vom Dichter sind uns überliefert eine Dreiheit, ein vorspielartiges Lust-, die breite Exposition eines Schau- und die den Untergang des Helden meldende Katastrophe eines Trauerspieles. Alle drei handeln zwar auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen szenischdramaturgischen Mitteln vom Wallenstein, aber seine Soldaten, seine Generale, seine Freunde und Gegenspieler sind bei Schiller mit in die hochdramatische Geschichte vom Verrat und der Rache, die sich am Verräter vollzieht, aufs bedeutendste miteingeflochten und anders nicht als in einer lOaktigen Tragödie konnten für das beispielgebende klassische Drama in Blankversen Charaktere und Geschicke im Rahmen von Staatsaktionen mit historischem Hintergrund dargestellt und entwickelt werden.
Nun Ist es richtig, an einem Abend sind die drei Stücke nicht aufzuführen. Schiller selbst trennte das Lager von der hohen Tragödie als ein selbständiges Stück ab. In Weimar wurden „Die Piccolomini“ und „Wallensteins Tod“ an zwei Abenden nacheinander gegeben. Aber Schiller hat allen versuchten Streichungen (von Iff- lands Seite etwa) ein scharfes Veto entgegengesetzt: gehts nicht an einem, so gehts eben an zwei Abenden. Die gewonnene Endform war für Ihn unantastbar.
Versuchen nun die heutigen Regisseure aus der Furcht, die Trilogie einem nervösen und modernen Publikum nicht vorsetzen zu können, eich mit dem Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Stücke zu entschuldigen und etwa daran zu erinnern, daß Schiller selbst eine kürzere Prosafassung und eine allerdings sehr großaktige Trauerspie [form geplant hatte, von der Goethe mit Recht sagte, man müsse sie mit der Schere grausam zerschneiden, so darf diese Erinnerung keineswegs zur beliebigen Kürzung eigener Auffassung motivisch herangezogen werden. Absichtlich hat Schiller seine früheren Entwürfe vernichtet. Sie galten ihm nichts mehr als verfehlte Entwürfe.
Paul Hoffmann nun tat, was vor ihm schon viele getan haben, er schätzte „Die Piccolomini“ nur als Vorspiel zum „Tod“ ein, und strich aus den Dialogen gerade jene Hauptstücke heraus, von denen der Dichter meinte, sie würden „die Hauptfragen des Verstandes und der Neugierde“ und die „Hauptfrage der Empfindung“ befriedigend lösen. Also des kaiserlichen Kriegsrats Questenberg und der wallensteinischen Generale Rededuelle, aus denen der Zuhörer ja gerade erfahren soll, warum der sowohl vergötterte als auch gehaßte Feldherr aus dem Halbdunkel eigener Entscheidung zum Verrat getrieben wird — man weiß in der Hoffmannschen Bearbeitung z. B. nicht, daß Wien bereits einen Nachfolger ln der Führung des Heeres bestimmt hatte, paradox hört sich Questenbergs Einwurf „Der langen Rede kurzer Sinn“ an, auf die im Stenogrammstil vorgebrachten Vorwürfe Buttlers. Von der großen Bankettszene im vierten Akt und dem Betrugsmanöver, das Terzky mit den zwei Fassungen der Eidesformel vornimmt, bleiben bei Hoffmann ein paar völlig unverständliche Sätze übrig. Die Thekla-Max-Szenen schrumpfen auf eine allen Glanzes und allen Idealismus beraubte, fast lächerlich wirkende Rührung zusammen. Am schlimmsten aber verändert sich die Motivierung des undurchsichtigen Charakters Wallenstelns selbst. Er erscheint hier nur noch als räsonierender Freibeuter, als politisierender General, der seine Befugnisse bei weitem überschritten hat. und mit vollem Recht für seinen Abfall von Habsburgs Helfershelfern rungebracht wird.
Hatte sich Schiller die denkbar größte Mühe gegeben, den als herrschsüchtig-ehrgeizigen Charakter überlieferten großen Meister der Schlachten aus seinen zeitbedingten — vor allem konfessionellen Bindungen — zu lösen, ihm die Ideen der eigenen Zeit (um 1800) einzuflößen, ihn zu einem Streiter für ein geeintes Deutschland hinzustellen und ihn mit der kantischen Freiheits- und Pflichtenethik auszustatten so erscheint nun hier der Generalissimus als ein schwächlicher. Zauderer, ein selbstsüchtiger Politiker, der zwischen Feldherrnruhm und verräterischen Planungen zerrieben wird. Die astrologische Neigung Wallensteins, die Schiller äußerst geschickt dem Idealisierungsprozeß seines Helden eingeschmolzen hatte, indem er von den Gestirnssymbolen — hier stellvertretend für das
Reich der Götter und Ideen —, vor allem von Jupiter und Venus, der geborenen Führungsmacht und der schmelzenden Schönheit die Geschicke des Feldherrn und seiner Verjüngung, die Max Piccoliminls bestrahlen und abhängig werden ließ, wird bei Hoffmann auf einen Rest zurückgenommen, der die beiden Figuren nur noch als abergläubische Dummköpfe begreifen läßt, die das fordernde Gebot der Stunde unfähig sind zu erkennen. Der eine endet mit einem Verzweiflungsritt in eine feindliche Übermacht. der andere läßt sich gutgläubig von seinen Sternen belügen, anstatt sich, wie’s Schillers Absicht war. zu einer allem Irdischen, Ewiggestrigen und Gemeinen enthobenen und von der Notwendigkeit geläuterten Tragödienfigur zu entwickeln.
„Sechzehn Jahre der Verwüstung / Des Raubs, des Elends sind dahingeflohn, / In trüben Massen gäret noch die Welt..Also mit der zweiten Hebung eines iambischen Blankverses im Prolog läßt der Regisseur, nachdem der Vorhang sich geöffnet hatte, einen Sprecher beginnen. Wir vermeinen zunächst in einem Bert Brechtschen Lehrstück zu sitzen. Wir bereiten uns auf einen sachlichen Realismus der Schülerschen Dialoge vor. Aber wie erstaunt sind wir, als gleich die Generale, wo sie nur können, ein Pathos vorlegen, Max mit schneidend heller Stimme seine idealistische Wut hinaustrompetet, Wallenstein wie ein grimmer Berserker saturnalisch auftritt, wie überhaupt ältestes, bewährtestes Hoftheater sich austobt ganz im Gegensatz zu den Streichungen, die doch eine Reduzierung auf das Sachliche angestrebt hatten. Die Verse wurden ohne Rücksicht auf das Maß und den Rhythmus, auf die alles egalisierende „idealistische Maske“ im fortwährenden Wechsel der extremsten Klangstärken gesprochen. Es war immer Dampf und Bewegung, Temperament und Farbigkeit auf der Szene, aber klassisch war das nicht. Geistig auch nicht. So darf man in den „Räubern“, aber nicht im ,,Wallenstein" sDrechen lassen.
Auch die Kostümierung mit den feucht-glänzenden Kunststoffen, erinnerte an die Piloty- Makart-Zeit. Ans Historische angenäherte Phantasiekostüme trugen die Generale und die Damen.
Ganz offensichtlich ließ der Spielleiter die Figuren nach Charakteranlagen spielen, was wiederum im Widerspruch zu der höfisch geschmück
ten, vornehmen Sprechweise der Verse steht. Aber dafür war es handfestes Theater und nie langwellig.
■ Es war erstaunlich, wie Theodor Loosens ganz stiller, vorsichtiger und leicht resignierender Oktavio, der seine Verse am richtigsten betonte, sich abhob etwa von Hans M a h n k e s Titelrolle. Eine naive Vitalität, ein tastendes Abenteuertum vermittelte dieser Wallenstein, aber keine Größe und kein Mitleid. Der Familienvater, dem Schiller häusliche Behäbigkeit und Rührung zudachte, wirkte etwas brummig und unruhig und der einsame Selbstdenker, für den Tat und Gedanke sich nie vereinen, ging in der wendigen Charakterisierung des vielfältigen Verhaltens zu immer neuen Situationen unter. Dagegen trat der neuverpflichtete jugendliche Held Willy Reichmann mit dem gekonntesten Register eines ideaüsch stürmenden Jünglings auf die Szene. Schade nur, daß ihm die Flügel seiner Suada beschnitten wurden und seine Rede vor dem Höhepunkt abbrechen mußte. Thekla war in der hochblonden, hochschlanken Niedersächsin Ingeborg Engelmann in keinen schlechten Händen. Eine Sentimentale, von der noch viel zu erwarten ist. Bel Gräfin Terzky von Inge Berkmann gefielen wohl die Manieren, doch fehlte noch die letzte Ausrundung zu einer ehrgeizig politisierenden große Dame.
Der Gegenspieler Questenberg des Hans Ca- ninenberg war die etwas anfällige Noblesse und Geschmeidigkeit wienischer Diplomatie selbst. Bestimmt kein glatter Höfling und Diabolus, so wenig wie Loos eine „graue Eminenz“, einen schlauen Fuchs darstellte. Unter den Generalen gaben fest umrissene Charaktertypen: Franz Michael A11 a n d als Buttler, Kurt N o r g a 11 als Terky, Harald B a e n d e r als Illo, Michael K o n- stantlnow als Isolanl. Das Bühnenbild Hans Ullrich Schmückles sorgte in seiner archaistischen, wuchtigen Großräumigkeit, die leicht durch Verschiebung von Kulissen in ein Interieur verwandelt werden konnte, dafür, daß die Farbigkeit der Aktion sich ungehindert ausleben konnte.
Ein Experiment? Bei dem es fast nicht mehr erlaubt Ist zu fragen, ob Schiller damit einverstanden gewesen wäre? Eine Paraphrase zum politisierenden General von heute? Ich wage nicht zu entscheiden, ob sie gelungen ist. em.