NUMMER 140

Griechenland vor der Entscheidung

Das Ende derhistorischen Parteien? / Die Stunde des Marschalls Papagos

Von unserem Balkan-Korrespondenten Walter W. Krause

ATHEN. Mit südlichem Temperament und einer beispiellosen individuellen Leidenschaft bereitete sich in diesen Tagen das Volk der Hellenen auf seinen Gang an die Wahlurnen am Sonntag vor. Es sollte ein entscheidender Sonntag für die Zukunft eines von permanen­ten politischen und wirtschaftlichen Krisen heimgesuchten Landes sein, das am Rande des sowjetischen Machtbereiches tapfer in blu­tigen Bürgerkriegsjahren für Europa kämpfte.

Die Bedeutung dieser Wahlen liegt in dem Erscheinen von Marschall Papagos auf der po­litischen Bühne, der den Italienern im Epirus Halt gebot und 1949 die letzten Zacharia- deskämpfer aus Mazedonien und Thrazien ver­trieb. Sein Aufruf an das griechische Volk, sich seinerHellenischen Sammlungsbewegung anzuschließen und ihn wieeinstens auf den Schlachtfeldern auch treu in die Schlacht um Griechenlands Aufbau zu begleiten, hat zu einem geradezu nationalen Rausch geführt.

Man ist das Spiel einer um die Futterkrippe kämpfenden und feilschenden Kaste von kor­rupten Berufspolitikern satt, das nicht nur zur Verschleuderung von Millionen der Marshai­hilfe führte, sondern den demokratischen Par­lamentarismus tief diskreditierte.

Griechenland hat heute seine 24. Nachkriegs­regierung. Allein im letzten Jahr gab es acht lang andauernde Kabinettkrisen. Als 1950 nach einem komplizierten Wahlsystem ge­wählte elf Parteien in das zweite Nachkriegs­parlament einzogen, hatte keine die notwen­dige Mehrheit. Damit begann das alte Spiel der Koalitionen mit den gleichen Berufspoliti­kern vergangener Perioden.

Auf allen Wahlaufrufen der einzelnen Par­teien ist der Kopf des Parteiführers abgebil­det. Die griechischen Parteien kennen kaum eine Ideologie oder ein festes Programm. Ent­scheidend für die Stärke und Schwäche einer Partei ist die Persönlichkeit ihres Führers, der meistens durch bestimmte Finanzkreise ge­deckt wird. Die ganze Schwäche dieses Sy­stems offenbart sich aber erst, wenn man um die ständigen Skandalfälle von Korruption und Protektion weiß, die ln der Tat levantinische Ausmaße haben. Sich heftig befehdende Be­rufspolitiker verschiedener Parteirichtungen schließen sich über Nacht zu einer überraschen­den Koalition zusammen. Nie weiß ein Partei­führer mit Sicherheit, ob eine von ihm einge- brachte Vorlage bei der parlamentarischen Ab­stimmung auch dasJa aller seiner Partei­mitglieder hat.

Dieses den Wiederaufbau des Landes so stö­rende Koalitionsspiel wurde bislang durch fol-

Wenn es nach den Völkern ginge

Istanbuler JPU-Tagung beendet

ISTANBUL. Die diesjährige Tagung der In­terparlamentarischen Union (JPU) wurde mit der Annahme einer Friedenserklärung abge­schlossen. Darin heißt es, die über der Mensch­heit hängenden Kriegswolken würden ver­schwinden, wenn es allein nach den Völkern ginge. In einzelnen Entschließungen forderten die Vertreter der Parlamente von 50 Staaten ausreichende Vorkehrungen zur Lösung der Flüchtlingsfrage, Maßnahmen zur Abhilfe der Hungersnöte in vielen Gegenden der Welt. Ein Zusatzantrag von Prof. Karl S c h m i d , in dem eine internationale Finanzhilfe zur Ein­gliederung der Flüchtlinge in die Wirtschaft der Gastländer gefordert wird, wurde ebenfalls angenommen.

Anläßlich einer Pressekonferenz in Istanbul sagte der deutsche Vizepräsident des Bundes­tages, Prof. Karl S c h ml d, dem Schuman- Plan den sicheren Zusammenbruch voraus, wenn nicht in neuen Konferenzen der Grund­gedanke des Planes vertraglich einwandfrei festgelegt würde, die Gleichberechtigung aller am Vertrag Beteiligten.Der Geist des Planes muß auch den Buchstaben des Textes erfüllen, oder aber er bricht zusammen.

gende Hauptgruppen betrieben: 1. die Libera­len unter Venizelos, der nach Anschluß von Tsouderos und Zervas über 79 Mandate ge­bot; 2. die Volkspartei unter Tsaldaris, die durch Absplitterung der Stephanopolisten von 62 auf 37 Mandate zurückfiel nach Aus­schreibung der Neuwahlen schlossen sich ihr aber 9 Abgeordnete der Rechtsgruppen von Tourcovassilis und Maniadakis an; 3. das linke Zentrum (EPEK) mit demKönigsaustreiber General Plastiras; 4. die sozialen Demokraten unter Papandreou. Man nennt diese Gruppen auch die historischen Parteien mit den glei­chenhistorischen Mitgliedern. Nach Auffas­sung kundiger Beobachter hat sich ein großer Teil von ihnen durch offensichtliches Versagen auchhistorisch abgenutzt.

Mit dem Hinweis des amerikanischen Be­auftragten für das ERP in Hellas, Porter,daß der amerikanische Steuerzahler keine Lust

mehr habe, für laufende politische Experimente und eine Superbürokratie Geld. zum Fenster hinauszuwerfen, ist die ganze Tragödie der heutigen griechischen Misere noch nicht voll angedeutet. Denn Griechenlands Frieden be­gann erst Ende 1951 nach Beendigung des Bür­gerkrieges mit 3700 zerstörten Dörfern, 600 000 Flüchtlingen (10 v. H. der Gesamtbevölke­rung), 150 000 Toten, dem Verlust von SO Pro­zent des rollenden Materials, dem Verlust der Hälfte des Viehbestandes, 24 000 Hektar ver­wüsteten Weinlandes, 5 Millionen abgeschlage­nen öl- und Obstbäumen

Die Amerikaner haben bislang 2 Milliarden Dollar in den griechischen Aufbau investiert. Die in einer unbeschreiblichen Armut dahin­vegetierenden griechischen Massen fragen sich daher beim Anblick .der amerikanischen ERP- Propagandaplakate mit Recht, wo denn diese USA-Hilfen bleiben. Noch heute sind in Maze­donien, Thrazien und dem Epirus Hunderte von Dörfern nicht aufgebaut. Innerhalb eines Jahres sind die Lebenshaltungskosten um 25 v. H. gestiegen. Für ein Paar Lederschuhe muß heute ein Arbeiter 60 Stunden arbeiten, für einen Anzug 233 Stunden.

Slreit um den PchlidTer

Streik in Hessen dauert an FRANKFURT. Der hessische Ministerpräsi­dent Zinn griff vermittelnd in den Lohnstreik der hessischen Metallarbeitergewerkschaft ein und forderte die Sozialpartner auf, die abge­brochenen Besprechungen erneut aufzuneh­men. Die Gewerkschaftsforderung auf eine Er­höhung des Stundenlohnes um 12 Pfg. sei be­rechtigt. Falls neue Verhandlungen wiederum scheitern sollten, schlage er vor, daß sich die Parteien dem Schiedsspruch eines Schlichters unterwerfen sollten. Nötigenfalls müßten im Laufe der kommenden Woche gesetzliche Maß­nahmen für eine Zwangsschlichtung erwogen werden.

Die Industriegewerkschaft Metall, die den seit 27. August andauernden Streik von Süd­hessen auch auf den Norden des Landes aus­gedehnt hat, erklärte sich zu neuen Lohnver­handlungen gestern bereit. Die Arbeitgeber­

seite lehnt Verhandlungen dagegen ab, daalle Ausgleichsmöglichkeiten erschöpft sind. Die Andeutungen der Zwangsschlichtung sei eine unerhörte Einmischung der Regierung in die Tarifhoheit der Sozialpartner. Das Urteil ei­nes Regierungsschlichters müsse von vornher­ein als befangen abgelehnt werden, da Mini­sterpräsident Zinn durch seine Anerkennung der Gewerkschaftsforderung praktisch einen Schlichtungsentscheid bereits vorweggenom­men hätte.

Zwischen Streikposten und Arbeitswilligen kam es verschiedentlich zu Zwischenfällen. So wurden in den Rüsselsheimer Opelwerken Trä­nengasbomben geworfen, die aber durch den umschlagenden Wind ihren Zweck verfehlten. Die AEG in Kassel mußte ein Polizeiaufgebot anfordern, um Zusammenstöße zwischen den absperrenden Arbeitern und arbeitswilligen Angestellten zu verhindern. Die Henschelbe- triebe in Kassel folgten geschlossen der Streik­aufforderung.

Kleine Weltchronik

TÜBINGEN. Der Ministerpräsident von Schles­wig-Holstein, Lübke, wird sich am kommenden Dienstag in Tübingen aufhalten, um mit der Lan­desregierung Fragen der Umsiedlung zu bespre­chen.

MÜNCHEN. Die CSU-Gruppe im Bundestag will ihre enge Fraktionsbindung an die CDU lockern und künftig in eigenen Fraktionssitzun­gen zusammentreten. Zahlreichen CDU-Abgeord- neten werdenzentralistische Neigungen vor­geworfen.

BONN. Der Schutzbund ehemaliger Deutscher Soldaten, Sitz München, hat vor einigen Tagen eineVerbindungsstelle für Ordensangelegenhei­ten in Bonn eingerichtet, die Auskunft über Wiederbeschaffung und Austausch von Orden der früheren Wehrmacht erteilt. Der Schutzbund beruft sich auf zahlreiche Anfragen.

BONN. Der Bundesparteivorstand der CDU wird auf der nächsten Sitzung des CDU-Partei- ausschusses beantragen, die Mitgliedschaft in der Ersten Legion als unvereinbar mit der Mit­gliedschaft in der CDU zu erklären.

BERLIN. Ostzonale Volkspolizei hat in den letzten Tagen etwa 70 Paketpostwagen von Zü­gen aus Berlin nach der Bundesrepublik an der Zonengrenze durchsucht und zurückgeschickt. Als Begründung wurdenicht ordnungsgemäße Ver­packung der Sendungen angegeben. Auch im Paketpostverkehr vom Bundesgebiet nach West­berlin werden verstärkte Kontrollen angewendet und so der Interzonenverkehr behindert.

BERLIN. Die alliierte Kommandantur hat den regierenden Bürgermeister von Berlin davon un­terrichtet, daß sie ihr Gesetz über die Gerichts­barkeit auf den vorbehaltenen Gebieten geändert habe. Nach der neuen Fassung hat die mit einem Verfahren befaßte deutsche Behörde dieses so­gleich auszusetzen und an den zuständigen Sek­torenkommandanten zu überweisen, wenn über das Bestehen, den Inhalt, die Gültigkeit oder den Zweck einer Anordnung der Besatzungsbehörde zu entscheiden ist. Für die deutschen Behörden

soll die Entscheidung des Sektorenkommandan­ten oder eines Besatzungsgerichts bindend sein.

STOCKHOLM. Mitte September werden im Kattegatt und in der Nordsee die bisher größten Flottenmanöver der Nordgruppe des Atlantik­pakts unter Beteiligung britischer, dänischer und norwegischer Flotteneinheiten stattfinden. In der Ostsee finden zurzeit Übungen einer britischen U-Bootflottille statt.

LONDON. Die italienische und die jugoslawi­sche Regierung wollen nach Angaben eines Spre­chers des britischen Außenministeriums mitein­ander über die Zukunft Triests verhandeln. Sie haben ihre Bereitschaft hierzu London und Wa­shington mitgeteilt.

LONDON. Das britische Ernährungsministerium hat an die Bevölkerung appelliert, im September weniger Milch zu trinken. Die Milchknappheit ist auf schlechtes Wetter in den letzten 12 Mo­naten und die Abschlachtung von 100 000 Stück Vieh im Juni v. J. Zurückzuführen.

CHERBOURG. Der italienische Ministerpräsi­dent de Gasperi ist nach einer Unterredung mit dem französischen Ministerpräsidenten Pleven am Donnerstagabend an Bord derQueen Eliza­beth zu verschiedenen internationalen Konfe­renzen in den USA und Kanada nach New York abgereist.

WIEN. Österreich steht ,vor neuen Lohnkämp­fen, nachdem die Gewerkschaften erneut Lohn­forderungen angemeldet haben.

MOSKAU. Der amerikanische Botschafter In Moskau, Kirk, hatte am Donnerstag eine halb­stündige Unterredung mit dem sowjetischen Außenminister Wyschinski. Der Besuch Kirks wurde alsroutinemäßig bezeichnet.

AVONMOUTH. Durch eine Explosion wurde am Donnerstag in Avonmouth (Westengland) einer der schwersten Ölbrände in der Geschichte Großbritanniens ausgelöst. Nach kurzer Zeit standen 20 von insgesamt 30 Öltanks mit einem Fassungsvermögen von je 3 Millionen Liter in Flammen. Der riesige Rauchpilz war 150 km weit zu sehen.

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Entscheidungen von besonderer Tragweite . . .

BONN. Bundeskanzler Dr. Adenauer beur­teilte vor dem CDU-Parteivorstand in Bonn die außenpolitische Lage der Bundesrepublik optimistisch. Ereignisse von besonderer Trag­weite würden heranreifen, die das deutsche Volk unmittelbar berührten. Adenauer wies besonders auf die in Kürze beginnenden Kon­ferenzen der Westmächte hin.

Der deutsche Delegationsführer bei den Pa­riser Verhandlungen über die Aufstellung einer europäischen Armee, Blank, gab dem Bundeskanzler am Donnerstag einen Zwi­schenbericht über den Fortgang der Verhand­lungen. In Bonner Kreisen wird der Verlauf der Pariser Besprechungen, die noch vor den Atlantikpaktkonferenzen abgeschlossen wer­den sollen, positiv beurteilt. Über den Zeit­punkt der Rekrutierung deutscher Soldaten für eine europäische Armee sollen nach aus Paris vorliegenden Informationen unterschied­liche Auffassungen vorherrschen. Während Frankreich die Aufstellung deutscher Ver­bände erst nach dem endgültigen Abschluß des Abkommens über die Schaffung der Euro­paarmee und seiner Ratifizierung durch die verschiedenen Parlamente eingeleitet wissen soll, sollen die Amerikaner auf eine Zusam­menstellung deutscher Verbände bereits zum jetzigen Zeitpunkt drängen, da sie den Auf­schub der deutschen Wiederbewaffnung unter Umständen bis Herbst nächsten Jahres be­fürchten.

Nach Meldungen aus Washington sagte der deutsche Geschäftsträger in den USA, Dr. Krekeler, nach einem kurzen Besuch beim stellvertretenden amerikanischen Außenmini­ster W e b b voraus, die Bundesrepublik werde innerhalb eines Monatsvolle Partnerschaft mit dem Westen erlangen. Er teile den Opti­mismus Aehesons, der eine Lösung der vor­dringlichen Deutschlandfragen bis zum Jah­resende für möglich halte.

Kriegsgefangene treffen sidi

Schweigemarsch am Sonntag

BONN. Etwa 7000 ehemalige Kriegsgefangene aus dem gesamten Bundesgebiet kamen gestern zu ihrem ersten deutschen Heimkehrertreffen in Bonn zusammen. Bundesminister Luka­scheck hat die Schirmherrschaft des vom Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen veranstalteten Treffens übernommen. Höhepunkt der Zusam­menkunft wird am Sonntag ein Schweige­marsch durch Bonn und eine Kundgebung im Plenarsaal des Bundeshauses sein, auf der Vizekanzler Blücher sprechen wird. Die Aus­stellungKriegsgefangene reden berichtet eindringlich über das Schicksal der noch zu­rückgehaltenen Gefangenen und Vermißten. Der Heimkehrerverband, der vor einem Jahr seine Tätigkeit aufnahm, zählt etwa 130 000 Mitglieder im Bundesgebiet.

Neues Kommunalwahlgesetz

TÜBINGEN. Das Staatsministerium von Württemberg-Hohenzollem hat dem Entwurf eines Kommunalwahlgesetzes zugestimmt, der demnächst dem Landtag zur Beschlußfassung zu­geleitet wird. Das Kommunalwahlgesetz vom 1L Oktober 1948 galt nur für die Ende 1948 vorge­nommenen Wahlen der Kreistage und der Ge­meinderäte. Im November dieses Jahres sind je­weils sämtliche Mitglieder der Kreistage und je­weils die Hälfte der Mitglieder der Gemeinde­räte in Württemberg-Hohenzollern neu zu wäh­len. Hierzu bedurfte es eines neuen Kommunal­wahlgesetzes. In ihm sind eine Anzahl von Be­stimmungen entfallen, welche im Gesetz von 1948 im Zusammenhang mit dem damaligen Stand der politischen Säuberung noch erforderlich waren.

WASHINGTON. Der britische Schatzkanzler Gaitskell hat nach Unterredung mit dem Direk­tor für die Verteidigungsmobilisierung der USA, Wilson, angeboten, die britische Kohlenförderung so zu steigern, daß eine Erhöhung der Kohlen­exporte nach der Bundesrepublik zur Steigerung der deutschen Industrieproduktion möglich sei. Dafür will Wilson Großbritannien zu zwei bis drei Millionen t Stahl für das britische Verteidi­gungsprogramm verhelfen.

TERES ^5pIEL

IM NECKARTAL

Ein fi öhlicher Roman von Else Jung

28] Copyright by Veritg Bechthold

Diese Anordnung war auf den persönlichen Wunsch der alten Dame erfolgt, die es für klüger gehalten hatte. Thilo vorläufig aus dem Spiel zu lassen.

Es wird meiner Tochter leichter sein, wenn sie diese böse Nachricht durch mich erfährt, Und für Ihre und Immas Zukunft ist es bes­ser, wenn Sie nichts damit zu tun haben", hatte sie gesagt, und Thilo war ihr dafür dankbar gewesen.

Eine Woche vor Angelikas Geburtstag traf der umfangreiche Brief auf der Rabeneck ein, und als Frau von Losch ihn gelesen hatte, brauchte sie Stunden, um ihrer Erschütte­rung Herr zu werden.

Erst jetzt erkannte sie die Größe der Ge­fahr, der ihre Tochter, ja, sie alle ohne Thi­los Eingreifen ausgesetzt gewesen wären, und ihr graute im Gedanken an das Unheil, das nun im letzten Augenblick von ihren liebsten Menschen abgewendet werden konnte.

Lange überlegte sie, auf welche Weise sie Angelika am schonendsten auf diese schlimme Botschaft vorbereiten könne, bis sie sich ent­schloß, den Bericht, so wie er war, mit ein paar erklärenden Zeilen in das Zimmer ih­rer Tochter zu legen.

Angelika gehörte zu den wenigen starken Naturen, die mit einer Enttäuschung am be­sten allein fertig wurden. Sie würde, wenn sie den nackten Tatsachen gegenüberstand, der Mutter dankbar sein, daß sie es ihr er­spart hatte, den bitteren Fehlschlag ihrer

Hoffnungen unter ihren Augen erfahren zu müssen. Daß sie nicht daran zerbrechen wür­de, wußte Frau von Losch, aber ihr Herz schlug doch hart und bang, als die Tochter nach dem Abendessen in ihr Zimmer ging, um Briefe zu schreiben.

Imma war auf den Rat der Großmutter nach Weinsberg gefahren, wo sie so lange bleiben sollte, bis man sie zurückrufen würde. Die alte Dame fürchtete mit Recht, daß Im­mas Temperament sie zu unvorsichtigen und die Mutter aufs neue verletzende Äußerun­gen hinreißen könne, was in diesen kritischen Tagen vermieden werden mußte. Angelika sollte völlige Ruhe haben.

In dieser Nacht, die kein Ende nehmen wollte, stand Frau Thilde von Losch mehr­mals auf und trat ans Fenster, um zu dem einsamen Licht hinüberzusehen, das in Ange­likas Zimmer brannte und erst gegen Mor­gen erlosch. Eine Stande später hörte sie das Motorengeräusch des kleinen Wagens im Hof, und hinter dem Fenstervorhang stehend, sah eie Angelika in der grauen Morgenfrühe die Burg verlassen.

Es war sechs Uhr.

Langsam steuerte Angelika Lorentzen den Wagen den steilen Burgberg hinab. Der Wald, der die Straße rechts und links säumte, duf­tete regenfrisch. Im Tal brauten Nebel, und die Luft war so kühl, daß die Frau am Steuer fröstelte.

Ihre Augen, die starr geradeaus blickten, waren ohne Glanz und tiefeingesunken zwi­schen rotgeränderten Lidern. Manchmal krümmten sich ihre Schultern wie unter ei­nem Schmerz zusammen, und über ihren Körper flog ein Schauer.

Noch immer jagten ihre Gedanken wirr durch den Kopf.

Furchtbar war dieseNacht gewesen! Grauen­haft die Stille des Zimmers, das eintönige Re­genrauschen, das Knistern im Gebälk und das leise Bröckeln im Gemäuer.

Alles verfällt, alles zerbricht, hatte sie den­ken müssen.

Mauern, die für die Ewigkeit gebaut wur­den, bersten. Der Regen verwäscht die Spu­ren des Tages, Hoffnungen, Glaube und Ver­trauen sind betrogen worden. Nichts steht mehr fest. Auch die Liebe ist ausgelöscht, als habe sie nie dieses einsame Herz durch­glüht, das jetzt so leer und wie ausgebrannt in ihrer Brust schlug.

Der bittere Kampf dieser Nacht war zu Ende.

Was die Augen gelesen, das Hirn durch­dacht und durchgrübelt hatte, ließ sich nicht mehr wegwischen. Die harte Wahrheit hatte alle Zweifel zerschlagen, und es war nur noch die Scham geblieben, daß sie eine von denen gewesen war, die sich von Schreyer hatten täuschen lassen.

Als Angelika in das schmale, waldumstan­dene Tal einfuhr und sie die weißen, noch im Morgenschatten liegenden Gebäude ihres Werkes sah, straffte sich ihr Körper. Was sie hier in fünfzehnjährigem, rastlosem Schaffen aufgebaut hatte, stand noch fest und gesichert. Der Gedanke, daß in einer Stunde das Lied der Arbeit wieder in allen Räumen erklingen würde, gab ihr Trost und neuen Mut.

Sie besaß ja noch so viel.

Nichts hatte sie verloren als einen Men­schen, der ihrer Liebe und ihres Vertrauens nicht wert gewesen war, und das Letzte, was sie noch zu tun hatte, um ihn ganz aus ihrem Leben zu streichen, würde sie hart und ohne Rücksicht tun.

Der Pförtner, der sie einließ, sah sie er­staunt an.

Herr Schreyer ist auch schon in seinem Büro, sagte er und wunderte sich, daß Frau Lorentzen daraufhin den Wagen vor dem Tor Stehen ließ und nicht wie sonst in den Hof fuhr.

Ist Herr Schreyer schon oft früher zum Dienst gekommen, Brinkmann? fragte sie.

Seit einer Woche jeden Tag, Frau Lorent­zen. Punkt sechs ist er da, und meistens ar­beitet er abends noch zwei Standen länger.

Angelika ging langsam dem Hause zu.

Brinkmanns Auskunft hatte einen Verdacht in ihr bestätigt, der sie schon während der ganzen Nacht gequält hatte, und es war gut, daß sie auf Schreyers Anwesenheit vorberei­tet worden war.

Leise öffnete sie die Tür zum Büro. Sie knarrte zum Glück nicht, auch war der Mann am Schreibtisch so in seine Arbeit vertieft, daß er Angelikas Eintreten nicht bemerkte. Er schien sich in dieser Morgenfrühe ganz Sicher zu fühlen.

Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter.

Schreyer zuckte zusammen und wandte sich um.

Du Angelika? Seine Stimme schwankte, in seinen Augen stand bleicher Schrecken. Hastig warf er die Feder weg und klappte die Kassenbücher zu.Warum kommst du schon jetzt?

Die Gedanken der Frau arbeiteten fieber­haft.

Mit einem Blick hatte sie das heimliche Tun dieses Mannes durchschaut, aber mit keinem Wort und keiner Bewegung verriet sie sich. Ihr Mund lächelte, und mit bewun­derungswürdiger Selbstbeherrschung zwang sie sich zu einer freundlichen Ruhe.

Ich konnte nicht mehr schlafen, und weil ich die Zeit nicht nutzlos verbringen wollte, bin ich hergekommen, sagte sie, und ihr war, als höre sie ihre eigenen Worte wie aus weiter Feme. Ihre Knie zitterten. Erschöpft ließ sie sich in den neben dem Schreibtisch stehenden Sessel fallen.

Schreyer, der sich wieder in der Gewalt hatte, sah die dunklen Ringe unter ihren Au­gen und den abgespannten Zug ihres Gesich­tes. Besorgt beugte er sich über sie.

(Fortsetzunß folgt)

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