NUMMER 140
Griechenland vor der Entscheidung
Das Ende der „historischen“ Parteien? / Die Stunde des Marschalls Papagos
Von unserem Balkan-Korrespondenten Walter W. Krause
ATHEN. Mit südlichem Temperament und einer beispiellosen individuellen Leidenschaft bereitete sich in diesen Tagen das Volk der Hellenen auf seinen Gang an die Wahlurnen am Sonntag vor. Es sollte ein entscheidender Sonntag für die Zukunft eines von permanenten politischen und wirtschaftlichen Krisen heimgesuchten Landes sein, das am Rande des sowjetischen Machtbereiches tapfer in blutigen Bürgerkriegsjahren für Europa kämpfte.
Die Bedeutung dieser Wahlen liegt in dem Erscheinen von Marschall Papagos auf der politischen Bühne, der den Italienern im Epirus „Halt“ gebot und 1949 die letzten Zacharia- deskämpfer aus Mazedonien und Thrazien vertrieb. Sein Aufruf an das griechische Volk, sich seiner „Hellenischen Sammlungsbewegung“ anzuschließen und ihn wie „einstens auf den Schlachtfeldern auch treu in die Schlacht um Griechenlands Aufbau zu begleiten“, hat zu einem geradezu nationalen Rausch geführt.
Man ist das Spiel einer um die Futterkrippe kämpfenden und feilschenden Kaste von korrupten Berufspolitikern satt, das nicht nur zur Verschleuderung von Millionen der Marshaihilfe führte, sondern den demokratischen Parlamentarismus tief diskreditierte.
Griechenland hat heute seine 24. Nachkriegsregierung. Allein im letzten Jahr gab es acht lang andauernde Kabinettkrisen. Als 1950 nach einem komplizierten Wahlsystem gewählte elf Parteien in das zweite Nachkriegsparlament einzogen, hatte keine die notwendige Mehrheit. Damit begann das alte Spiel der Koalitionen mit den gleichen Berufspolitikern vergangener Perioden.
Auf allen Wahlaufrufen der einzelnen Parteien ist der Kopf des Parteiführers abgebildet. Die griechischen Parteien kennen kaum eine Ideologie oder ein festes Programm. Entscheidend für die Stärke und Schwäche einer Partei ist die Persönlichkeit ihres Führers, der meistens durch bestimmte Finanzkreise gedeckt wird. Die ganze Schwäche dieses Systems offenbart sich aber erst, wenn man um die ständigen Skandalfälle von Korruption und Protektion weiß, die ln der Tat levantinische Ausmaße haben. Sich heftig befehdende Berufspolitiker verschiedener Parteirichtungen schließen sich über Nacht zu einer überraschenden Koalition zusammen. Nie weiß ein Parteiführer mit Sicherheit, ob eine von ihm einge- brachte Vorlage bei der parlamentarischen Abstimmung auch das „Ja“ aller seiner Parteimitglieder hat.
Dieses den Wiederaufbau des Landes so störende Koalitionsspiel wurde bislang durch fol-
Wenn es nach den Völkern ginge
Istanbuler JPU-Tagung beendet
ISTANBUL. Die diesjährige Tagung der Interparlamentarischen Union (JPU) wurde mit der Annahme einer Friedenserklärung abgeschlossen. Darin heißt es, die über der Menschheit hängenden Kriegswolken würden verschwinden, wenn es allein nach den Völkern ginge. In einzelnen Entschließungen forderten die Vertreter der Parlamente von 50 Staaten ausreichende Vorkehrungen zur Lösung der Flüchtlingsfrage, Maßnahmen zur Abhilfe der Hungersnöte in vielen Gegenden der Welt. Ein Zusatzantrag von Prof. Karl S c h m i d , in dem eine internationale Finanzhilfe zur Eingliederung der Flüchtlinge in die Wirtschaft der Gastländer gefordert wird, wurde ebenfalls angenommen.
Anläßlich einer Pressekonferenz in Istanbul sagte der deutsche Vizepräsident des Bundestages, Prof. Karl S c h ml d, dem Schuman- Plan den sicheren Zusammenbruch voraus, wenn nicht in neuen Konferenzen der Grundgedanke des Planes vertraglich einwandfrei festgelegt würde, die Gleichberechtigung aller am Vertrag Beteiligten. „Der Geist des Planes muß auch den Buchstaben des Textes erfüllen, oder aber er bricht zusammen.“
gende Hauptgruppen betrieben: 1. die Liberalen unter Venizelos, der nach Anschluß von Tsouderos und Zervas über 79 Mandate gebot; 2. die Volkspartei unter Tsaldaris, die durch Absplitterung der Stephanopolisten von 62 auf 37 Mandate zurückfiel — nach Ausschreibung der Neuwahlen schlossen sich ihr aber 9 Abgeordnete der Rechtsgruppen von Tourcovassilis und Maniadakis an; 3. das linke Zentrum (EPEK) mit dem „Königsaustreiber“ General Plastiras; 4. die sozialen Demokraten unter Papandreou. Man nennt diese Gruppen auch die historischen Parteien mit den gleichen „historischen“ Mitgliedern. Nach Auffassung kundiger Beobachter hat sich ein großer Teil von ihnen durch offensichtliches Versagen auch „historisch“ abgenutzt.
Mit dem Hinweis des amerikanischen Beauftragten für das ERP in Hellas, Porter, „daß der amerikanische Steuerzahler keine Lust
mehr habe, für laufende politische Experimente und eine Superbürokratie Geld. zum Fenster hinauszuwerfen“, ist die ganze Tragödie der heutigen griechischen Misere noch nicht voll angedeutet. Denn Griechenlands Frieden begann erst Ende 1951 nach Beendigung des Bürgerkrieges mit 3700 zerstörten Dörfern, 600 000 Flüchtlingen (10 v. H. der Gesamtbevölkerung), 150 000 Toten, dem Verlust von SO Prozent des rollenden Materials, dem Verlust der Hälfte des Viehbestandes, 24 000 Hektar verwüsteten Weinlandes, 5 Millionen abgeschlagenen öl- und Obstbäumen
Die Amerikaner haben bislang 2 Milliarden Dollar in den griechischen Aufbau investiert. Die in einer unbeschreiblichen Armut dahinvegetierenden griechischen Massen fragen sich daher beim Anblick .der amerikanischen ERP- Propagandaplakate mit Recht, wo denn diese USA-Hilfen bleiben. Noch heute sind in Mazedonien, Thrazien und dem Epirus Hunderte von Dörfern nicht aufgebaut. Innerhalb eines Jahres sind die Lebenshaltungskosten um 25 v. H. gestiegen. Für ein Paar Lederschuhe muß heute ein Arbeiter 60 Stunden arbeiten, für einen Anzug 233 Stunden.
Slreit um den PchlidTer
Streik in Hessen dauert an FRANKFURT. Der hessische Ministerpräsident Zinn griff vermittelnd in den Lohnstreik der hessischen Metallarbeitergewerkschaft ein und forderte die Sozialpartner auf, die abgebrochenen Besprechungen erneut aufzunehmen. Die Gewerkschaftsforderung auf eine Erhöhung des Stundenlohnes um 12 Pfg. sei berechtigt. Falls neue Verhandlungen wiederum scheitern sollten, schlage er vor, daß sich die Parteien dem Schiedsspruch eines Schlichters unterwerfen sollten. Nötigenfalls müßten im Laufe der kommenden Woche gesetzliche Maßnahmen für eine Zwangsschlichtung erwogen werden.
Die Industriegewerkschaft Metall, die den seit 27. August andauernden Streik von Südhessen auch auf den Norden des Landes ausgedehnt hat, erklärte sich zu neuen Lohnverhandlungen gestern bereit. Die Arbeitgeber
seite lehnt Verhandlungen dagegen ab, da „alle Ausgleichsmöglichkeiten erschöpft sind“. Die Andeutungen der Zwangsschlichtung sei eine „unerhörte Einmischung der Regierung in die Tarifhoheit der Sozialpartner“. Das Urteil eines Regierungsschlichters müsse von vornherein als befangen abgelehnt werden, da Ministerpräsident Zinn durch seine Anerkennung der Gewerkschaftsforderung praktisch einen Schlichtungsentscheid bereits vorweggenommen hätte.
Zwischen Streikposten und Arbeitswilligen kam es verschiedentlich zu Zwischenfällen. So wurden in den Rüsselsheimer Opelwerken Tränengasbomben geworfen, die aber durch den umschlagenden Wind ihren Zweck verfehlten. Die AEG in Kassel mußte ein Polizeiaufgebot anfordern, um Zusammenstöße zwischen den absperrenden Arbeitern und arbeitswilligen Angestellten zu verhindern. Die Henschelbe- triebe in Kassel folgten geschlossen der Streikaufforderung.
Kleine Weltchronik
TÜBINGEN. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Lübke, wird sich am kommenden Dienstag in Tübingen aufhalten, um mit der Landesregierung Fragen der Umsiedlung zu besprechen.
MÜNCHEN. Die CSU-Gruppe im Bundestag will ihre enge Fraktionsbindung an die CDU lockern und künftig in eigenen Fraktionssitzungen zusammentreten. Zahlreichen CDU-Abgeord- neten werden „zentralistische Neigungen“ vorgeworfen.
BONN. Der Schutzbund ehemaliger Deutscher Soldaten, Sitz München, hat vor einigen Tagen eine „Verbindungsstelle für Ordensangelegenheiten“ in Bonn eingerichtet, die Auskunft über „Wiederbeschaffung und Austausch“ von Orden der früheren Wehrmacht erteilt. Der Schutzbund beruft sich auf zahlreiche Anfragen.
BONN. Der Bundesparteivorstand der CDU wird auf der nächsten Sitzung des CDU-Partei- ausschusses beantragen, die Mitgliedschaft in der „Ersten Legion“ als unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der CDU zu erklären.
BERLIN. Ostzonale Volkspolizei hat in den letzten Tagen etwa 70 Paketpostwagen von Zügen aus Berlin nach der Bundesrepublik an der Zonengrenze durchsucht und zurückgeschickt. Als Begründung wurde „nicht ordnungsgemäße Verpackung“ der Sendungen angegeben. Auch im Paketpostverkehr vom Bundesgebiet nach Westberlin werden verstärkte Kontrollen angewendet und so der Interzonenverkehr behindert.
BERLIN. Die alliierte Kommandantur hat den regierenden Bürgermeister von Berlin davon unterrichtet, daß sie ihr Gesetz über die Gerichtsbarkeit auf den vorbehaltenen Gebieten geändert habe. Nach der neuen Fassung hat die mit einem Verfahren befaßte deutsche Behörde dieses sogleich auszusetzen und an den zuständigen Sektorenkommandanten zu überweisen, wenn über das Bestehen, den Inhalt, die Gültigkeit oder den Zweck einer Anordnung der Besatzungsbehörde zu entscheiden ist. Für die deutschen Behörden
soll die Entscheidung des Sektorenkommandanten oder eines Besatzungsgerichts bindend sein.
STOCKHOLM. Mitte September werden im Kattegatt und in der Nordsee die bisher größten Flottenmanöver der Nordgruppe des Atlantikpakts unter Beteiligung britischer, dänischer und norwegischer Flotteneinheiten stattfinden. In der Ostsee finden zurzeit Übungen einer britischen U-Bootflottille statt.
LONDON. Die italienische und die jugoslawische Regierung wollen nach Angaben eines Sprechers des britischen Außenministeriums miteinander über die Zukunft Triests verhandeln. Sie haben ihre Bereitschaft hierzu London und Washington mitgeteilt.
LONDON. Das britische Ernährungsministerium hat an die Bevölkerung appelliert, im September weniger Milch zu trinken. Die Milchknappheit ist auf schlechtes Wetter in den letzten 12 Monaten und die Abschlachtung von 100 000 Stück Vieh im Juni v. J. Zurückzuführen.
CHERBOURG. Der italienische Ministerpräsident de Gasperi ist nach einer Unterredung mit dem französischen Ministerpräsidenten Pleven am Donnerstagabend an Bord der „Queen Elizabeth“ zu verschiedenen internationalen Konferenzen in den USA und Kanada nach New York abgereist.
WIEN. Österreich steht ,vor neuen Lohnkämpfen, nachdem die Gewerkschaften erneut Lohnforderungen angemeldet haben.
MOSKAU. Der amerikanische Botschafter In Moskau, Kirk, hatte am Donnerstag eine halbstündige Unterredung mit dem sowjetischen Außenminister Wyschinski. Der Besuch Kirks wurde als „routinemäßig“ bezeichnet.
AVONMOUTH. Durch eine Explosion wurde am Donnerstag in Avonmouth (Westengland) einer der schwersten Ölbrände in der Geschichte Großbritanniens ausgelöst. Nach kurzer Zeit standen 20 von insgesamt 30 Öltanks mit einem Fassungsvermögen von je 3 Millionen Liter in Flammen. Der riesige Rauchpilz war 150 km weit zu sehen.
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Entscheidungen von besonderer Tragweite . . .
BONN. Bundeskanzler Dr. Adenauer beurteilte vor dem CDU-Parteivorstand in Bonn die außenpolitische Lage der Bundesrepublik optimistisch. Ereignisse von besonderer Tragweite würden heranreifen, die das deutsche Volk unmittelbar berührten. Adenauer wies besonders auf die in Kürze beginnenden Konferenzen der Westmächte hin. •
Der deutsche Delegationsführer bei den Pariser Verhandlungen über die Aufstellung einer europäischen Armee, Blank, gab dem Bundeskanzler am Donnerstag einen Zwischenbericht über den Fortgang der Verhandlungen. In Bonner Kreisen wird der Verlauf der Pariser Besprechungen, die noch vor den Atlantikpaktkonferenzen abgeschlossen werden sollen, positiv beurteilt. Über den Zeitpunkt der Rekrutierung deutscher Soldaten für eine europäische Armee sollen nach aus Paris vorliegenden Informationen unterschiedliche Auffassungen vorherrschen. Während Frankreich die Aufstellung deutscher Verbände erst nach dem endgültigen Abschluß des Abkommens über die Schaffung der Europaarmee und seiner Ratifizierung durch die verschiedenen Parlamente eingeleitet wissen soll, sollen die Amerikaner auf eine Zusammenstellung deutscher Verbände bereits zum jetzigen Zeitpunkt drängen, da sie den Aufschub der deutschen Wiederbewaffnung unter Umständen bis Herbst nächsten Jahres befürchten.
Nach Meldungen aus Washington sagte der deutsche Geschäftsträger in den USA, Dr. Krekeler, nach einem kurzen Besuch beim stellvertretenden amerikanischen Außenminister W e b b voraus, die Bundesrepublik werde innerhalb eines Monats „volle Partnerschaft“ mit dem Westen erlangen. Er teile den Optimismus Aehesons, der eine Lösung der vordringlichen Deutschlandfragen bis zum Jahresende für möglich halte.
Kriegsgefangene treffen sidi
Schweigemarsch am Sonntag
BONN. Etwa 7000 ehemalige Kriegsgefangene aus dem gesamten Bundesgebiet kamen gestern zu ihrem ersten deutschen Heimkehrertreffen in Bonn zusammen. Bundesminister Lukascheck hat die Schirmherrschaft des vom Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen veranstalteten Treffens übernommen. Höhepunkt der Zusammenkunft wird am Sonntag ein Schweigemarsch durch Bonn und eine Kundgebung im Plenarsaal des Bundeshauses sein, auf der Vizekanzler Blücher sprechen wird. Die Ausstellung „Kriegsgefangene reden“ berichtet eindringlich über das Schicksal der noch zurückgehaltenen Gefangenen und Vermißten. Der Heimkehrerverband, der vor einem Jahr seine Tätigkeit aufnahm, zählt etwa 130 000 Mitglieder im Bundesgebiet.
Neues Kommunalwahlgesetz
TÜBINGEN. Das Staatsministerium von Württemberg-Hohenzollem hat dem Entwurf eines Kommunalwahlgesetzes zugestimmt, der demnächst dem Landtag zur Beschlußfassung zugeleitet wird. Das Kommunalwahlgesetz vom 1L Oktober 1948 galt nur für die Ende 1948 vorgenommenen Wahlen der Kreistage und der Gemeinderäte. Im November dieses Jahres sind jeweils sämtliche Mitglieder der Kreistage und jeweils die Hälfte der Mitglieder der Gemeinderäte in Württemberg-Hohenzollern neu zu wählen. Hierzu bedurfte es eines neuen Kommunalwahlgesetzes. In ihm sind eine Anzahl von Bestimmungen entfallen, welche im Gesetz von 1948 im Zusammenhang mit dem damaligen Stand der politischen Säuberung noch erforderlich waren.
WASHINGTON. Der britische Schatzkanzler Gaitskell hat nach Unterredung mit dem Direktor für die Verteidigungsmobilisierung der USA, Wilson, angeboten, die britische Kohlenförderung so zu steigern, daß eine Erhöhung der Kohlenexporte nach der Bundesrepublik zur Steigerung der deutschen Industrieproduktion möglich sei. Dafür will Wilson Großbritannien zu zwei bis drei Millionen t Stahl für das britische Verteidigungsprogramm verhelfen.
TERES ^5pIEL
IM NECKARTAL
Ein fi öhlicher Roman von Else Jung
28] Copyright by Veritg Bechthold
Diese Anordnung war auf den persönlichen Wunsch der alten Dame erfolgt, die es für klüger gehalten hatte. Thilo vorläufig aus dem Spiel zu lassen.
„Es wird meiner Tochter leichter sein, wenn sie diese böse Nachricht durch mich erfährt, Und für Ihre und Immas Zukunft ist es besser, wenn Sie nichts damit zu tun haben", hatte sie gesagt, und Thilo war ihr dafür dankbar gewesen.
Eine Woche vor Angelikas Geburtstag traf der umfangreiche Brief auf der Rabeneck ein, und als Frau von Losch ihn gelesen hatte, brauchte sie Stunden, um ihrer Erschütterung Herr zu werden.
Erst jetzt erkannte sie die Größe der Gefahr, der ihre Tochter, ja, sie alle ohne Thilos Eingreifen ausgesetzt gewesen wären, und ihr graute im Gedanken an das Unheil, das nun im letzten Augenblick von ihren liebsten Menschen abgewendet werden konnte.
Lange überlegte sie, auf welche Weise sie Angelika am schonendsten auf diese schlimme Botschaft vorbereiten könne, bis sie sich entschloß, den Bericht, so wie er war, mit ein paar erklärenden Zeilen in das Zimmer ihrer Tochter zu legen.
Angelika gehörte zu den wenigen starken Naturen, die mit einer Enttäuschung am besten allein fertig wurden. Sie würde, wenn sie den nackten Tatsachen gegenüberstand, der Mutter dankbar sein, daß sie es ihr erspart hatte, den bitteren Fehlschlag ihrer
Hoffnungen unter ihren Augen erfahren zu müssen. Daß sie nicht daran zerbrechen würde, wußte Frau von Losch, aber ihr Herz schlug doch hart und bang, als die Tochter nach dem Abendessen in ihr Zimmer ging, um Briefe zu schreiben.
Imma war auf den Rat der Großmutter nach Weinsberg gefahren, wo sie so lange bleiben sollte, bis man sie zurückrufen würde. Die alte Dame fürchtete mit Recht, daß Immas Temperament sie zu unvorsichtigen und die Mutter aufs neue verletzende Äußerungen hinreißen könne, was in diesen kritischen Tagen vermieden werden mußte. Angelika sollte völlige Ruhe haben.
In dieser Nacht, die kein Ende nehmen wollte, stand Frau Thilde von Losch mehrmals auf und trat ans Fenster, um zu dem einsamen Licht hinüberzusehen, das in Angelikas Zimmer brannte und erst gegen Morgen erlosch. Eine Stande später hörte sie das Motorengeräusch des kleinen Wagens im Hof, und hinter dem Fenstervorhang stehend, sah eie Angelika in der grauen Morgenfrühe die Burg verlassen.
Es war sechs Uhr.
Langsam steuerte Angelika Lorentzen den Wagen den steilen Burgberg hinab. Der Wald, der die Straße rechts und links säumte, duftete regenfrisch. Im Tal brauten Nebel, und die Luft war so kühl, daß die Frau am Steuer fröstelte.
Ihre Augen, die starr geradeaus blickten, waren ohne Glanz und tiefeingesunken zwischen rotgeränderten Lidern. Manchmal krümmten sich ihre Schultern wie unter einem Schmerz zusammen, und über ihren Körper flog ein Schauer.
Noch immer jagten ihre Gedanken wirr durch den Kopf.
Furchtbar war dieseNacht gewesen! Grauenhaft die Stille des Zimmers, das eintönige Regenrauschen, das Knistern im Gebälk und das leise Bröckeln im Gemäuer.
Alles verfällt, alles zerbricht, hatte sie denken müssen.
Mauern, die für die Ewigkeit gebaut wurden, bersten. Der Regen verwäscht die Spuren des Tages, Hoffnungen, Glaube und Vertrauen sind betrogen worden. Nichts steht mehr fest. Auch die Liebe ist ausgelöscht, als habe sie nie dieses einsame Herz durchglüht, das jetzt so leer und wie ausgebrannt in ihrer Brust schlug.
Der bittere Kampf dieser Nacht war zu Ende.
Was die Augen gelesen, das Hirn durchdacht und durchgrübelt hatte, ließ sich nicht mehr wegwischen. Die harte Wahrheit hatte alle Zweifel zerschlagen, und es war nur noch die Scham geblieben, daß sie eine von denen gewesen war, die sich von Schreyer hatten täuschen lassen.
Als Angelika in das schmale, waldumstandene Tal einfuhr und sie die weißen, noch im Morgenschatten liegenden Gebäude ihres Werkes sah, straffte sich ihr Körper. Was sie hier in fünfzehnjährigem, rastlosem Schaffen aufgebaut hatte, stand noch fest und gesichert. Der Gedanke, daß in einer Stunde das Lied der Arbeit wieder in allen Räumen erklingen würde, gab ihr Trost und neuen Mut.
Sie besaß ja noch so viel.
Nichts hatte sie verloren als einen Menschen, der ihrer Liebe und ihres Vertrauens nicht wert gewesen war, und das Letzte, was sie noch zu tun hatte, um ihn ganz aus ihrem Leben zu streichen, würde sie hart und ohne Rücksicht tun.
Der Pförtner, der sie einließ, sah sie erstaunt an.
„Herr Schreyer ist auch schon in seinem Büro“, sagte er und wunderte sich, daß Frau Lorentzen daraufhin den Wagen vor dem Tor Stehen ließ und nicht wie sonst in den Hof fuhr.
„Ist Herr Schreyer schon oft früher zum Dienst gekommen, Brinkmann?“ fragte sie.
„Seit einer Woche jeden Tag, Frau Lorentzen. Punkt sechs ist er da, und meistens arbeitet er abends noch zwei Standen länger.“
Angelika ging langsam dem Hause zu.
Brinkmanns Auskunft hatte einen Verdacht in ihr bestätigt, der sie schon während der ganzen Nacht gequält hatte, und es war gut, daß sie auf Schreyers Anwesenheit vorbereitet worden war.
Leise öffnete sie die Tür zum Büro. Sie knarrte zum Glück nicht, auch war der Mann am Schreibtisch so in seine Arbeit vertieft, daß er Angelikas Eintreten nicht bemerkte. Er schien sich in dieser Morgenfrühe ganz Sicher zu fühlen.
Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter.
Schreyer zuckte zusammen und wandte sich um.
„Du — Angelika?“ — Seine Stimme schwankte, in seinen Augen stand bleicher Schrecken. Hastig warf er die Feder weg und klappte die Kassenbücher zu. — „Warum kommst du schon jetzt?“
Die Gedanken der Frau arbeiteten fieberhaft.
Mit einem Blick hatte sie das heimliche Tun dieses Mannes durchschaut, aber mit keinem Wort und keiner Bewegung verriet sie sich. Ihr Mund lächelte, und mit bewunderungswürdiger Selbstbeherrschung zwang sie sich zu einer freundlichen Ruhe.
„Ich konnte nicht mehr schlafen, und weil ich die Zeit nicht nutzlos verbringen wollte, bin ich hergekommen“, sagte sie, und ihr war, als höre sie ihre eigenen Worte wie aus weiter Feme. Ihre Knie zitterten. Erschöpft ließ sie sich in den neben dem Schreibtisch stehenden Sessel fallen.
Schreyer, der sich wieder in der Gewalt hatte, sah die dunklen Ringe unter ihren Augen und den abgespannten Zug ihres Gesichtes. Besorgt beugte er sich über sie.
(Fortsetzunß folgt)
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