NUMMER 125
MONTAG, 13. AUGUST1951
Kohle-Zwangsexport unverändert
6,2 Mill. t. Kohlenexport wie im dritten Quartal / IG Bergbau fordert Revision
DÜSSELDORF. Nach zweitägigen Verhandlungen hat der Rat der Internationalen Ruhrbehörde am vergangenen Samstag erneut gegen die Stimmen der deutschen Delegation die deutsche Kohlenexportquete für das vierte Quartal 1951 auf 6,2 Millionen t festgelegt. Die Bundesregierung hatte 5,2 Millionen t ange- boten, von mehreren ausländischen Delegationen war ein Export von rund 6,5 Millionen t gefordert worden.
Der stellvertretende deutsche Delegierte, Dr. Potthoff, erklärte den Beschluß der Ruhrbehörde als enttäuschend. Die Höhe der von der Ruhrbehörde gegen die deutschen Stimmen beschlossenen Kohlenexportmenge von 6,2 Millionen t für das .vierte Quartal wird auch in Bonner Regierungskreisen lebhaft bedauert. Es wird erwartet, daß in der kommenden Woche noch im einzelnen geprüft wird, ob und welche Schritte die Bundesregierung gegen diese Entscheidung unternehmen soll.
Der deutsche Delegierte in der Ruhrbehörde, Vizekanzler Franz Blücher, stellte gestern abend fest, daß die Bestimmungen für die Ruhrbehörde geändert werden müßten. Er begründete seinen Entschluß, als deutscher
Sozialistisdier Jugendtag
„Durchbruch zu neuen Formen“
HAMBURG. Gestern ging der achte „Sozialistische Jugendtag“, der unter dem Leitspruch „Friede und Freiheit durch Sozialismus“ stand, in Hamburg zu Ende. Der Vorsitzende der deutschen „Falken“, Erich Lindstädt, begrüßte am Samstag die etwa 15 000 Jungen und Mädchen der sozialistischen deutschen Jugendorganisationen, sowie die Delegationen der sozialistischen Jugendinternationale aus ganz Europa und Übersee. Auch Vertreter aus den Ostblockstaaten und der Ostzone waren auf dem Jugendtag anwesend.
Nach einem mehrere Kilometer langen Fak- kelzug durch die Innenstadt Hamburgs begrüßte auf dem Rathausplatz Bürgermeister Max Brauer die Jugendlichen und forderte sie auf, an der Befreiung des Menschen überall in der Welt mitzuarbeiten. Die junge Generation müsse sich die Begriffe Freiheit, Sicherheit und sozialer Fortschritt zu eigen machen, dann gelte für sie der Satz: „Und setzest Du nicht das Leben ein, nie wird Dir das Leben gewonnen sein“. Brauer schloß die bisher größte Hamburger Jugendkundgebung nach dem Kriege mit den Worten, die Aufgabe der Gegenwart sei nicht die Restauration, sondern der Durchbruch zu neuen sozialen Formen.
Gemeinsame Flottenmanöver
Kampf um die Straße von Sizilien
LA VALETTA. Das Mittelmeer ist von heute bis Mittwoch der Schauplatz eines der größten gemeinsamen Flottenmanöver der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und Italiens. Unter dem Befehl des Kommandeurs der 6. amerikanischen Flotte, Vizeadmiral Matthias B. Gardner, wird ein Geleitzug — gesichert von amerikanischen Kreuzern, Zerstörern, Minensuchern, Unterseebooten und Flugzeugträgern sowie einigen britischen Fregatten — versuchen, die Straße von Sizilien zu durchstoßen. Der Feind, unter Befehl des britischen Admirals John Edelsten, wird Unterseeboote, Überwassereinhei- ten der britischen Mittelmeerflotte, sowie französische und italienische Küstenverbände ein- setzen, um die Straße zu sperren. Darüber hinaus unterstehen dem Verteidiger die auf Sizilien stationierten Luftstreitkräfte und die britischen Bomber- und Jägerverbände auf Zypern und in der Kanalzone. Die Leitung des Manövers hat der Befehlshaber Südeuropa des atlantischen Verteidigungsbereiches, Admiral Robert B. C a r n e y.
Vertreter aus der Ruhrbehörde auszuscheiden, den er am Freitag dem Bundeskanzler mitgeteilt hatte, damit, daß bei dem gegenwärtigen Statut dieser Behörde der deutsche Vertreter stets einer geschlossenen Front der anderen Delegierten gegenüberstehe. Unter diesen Umständen sei von einer wirklichen Mitarbeit keine Rede.
Indem er die psychologischen Auswirkungen auf die Arbeitsleistung der deutschen Bergarbeiter unterstrich, forderte der Vorstand der Industriegewerkschaft Bergbau die internationale Ruhrbehörde auf, ihren Beschluß über die Beibehaltung der Kohlenexporte für das dritte Quartal für 1951 zu revidieren. Der Vorstand der IG. Bergbau, so heißt es in einer
Verlautbarung, habe von dem Beschluß der Ruhrbehörde mit Bestürzung und Empörung Kenntnis genommen.
„Der Beschluß der Ruhrbehörde, die deutsche Kohlenexportquote von 6,2 Millionen t aufrechtzuerhalten, ist schädlich und unerträglich, sagte gestern der SPD-Vorsitzende Dr. Schumacher in einem Interview mit dem nordwestdeutschen Rundfunk. Man verstehe auf alliierter Seite nicht, daß es kein Zeichen europäischer Gemeinschaftsgesinnung sei, wenn die kleinen Leute in Deutschland frieren, und zwar allein frieren. In den Haushalten anderer Länder, „die von der Wegnahme der deutschen Kohle leben“, betrage die Hausbrandversorgung 35 bis 40 Ztr. Die Haltung der Ruhrbehörde bedeute den Zusammenbruch einer ganzen Politik. Die Bundesregierung müsse als Konsequenz ihre „Periode des primitiven und leichtfertigen Optimismus“ beenden.
Vorrang der Besafeungskosten
Alliierte erwarten neue Steuermaßnahmen / Kürzung der Sozialaufwendungen
BONN. Alliierte Kreise erklärten am Samstag erneut, daß die Besatzungskosten als ein Beitrag zur europäischen Verteidigung angesehen werden müßten. Es wurde betont, daß bei der Verteilung des Steueraufkommens der Bundesrepublik die Besatzungskosten den Vorrang vor allen anderen deutschen Verwendungszwecken haben. Bundesfinanzminister Schäffer war bei seinen Besprechungen auf dem Petersberg mitgeteilt worden, daß Deutschland die Besatzungskosten in. voller Höhe von 6,6 Milliarden DM bezahlen müsse. Auch der Vorschlag Schäffers, 1,6 Milliarden DM der Besatzungskosten in den außerordentlichen Haushalt zu übernehmen und durch ausländische Kredite zu decken, sei von den Alliierten abgelehnt und dem Bundesfinanzminister deutlich zu verstehen gegeben worden, daß die Alliierten neue Steuermaßnahmen erwarteten, um die volle Höhe der Besatzungskosten direkt aufzubringen.
Es wurde auch darauf hingewiesen, daß die Erhöhung der Besatzungskosten nur durch die von Bundeskanzler Adenauer gewünschte Trup
penverstärkung in der Bundesrepublik bedingt sei.
Schäffer hatte eingehende Aussprachen mit den Finanzexperten der drei Koalitionsparteien. Er hat dabei erklärt, daß aus dem ordentlichen Haushalt nur bis etwa 5,3 Milliarden gedeckt werden könnten. Auf deutscher Seite sei der Eindruck entstanden, daß die Alliierten keinesfalls geneigt seien, den deutschen Vorschlägen näherzutreten; daher erscheine ein erneuter Versuch, eine Senkung der Besatzungskosten zu erreichen, zwecklos.
Schäffer hat bereits in der Öffentlichkeit wiederholt erklärt, daß die Steuerkraft der Bundesrepublik voll ausgelastet sei. Durch eine neue Steuererhöhung seien keine wesentlichen Geldquellen mehr zu erschließen. Jede Maßnahme, die inflationistische Tendenzen zur Folge haben könnte, wie Erhöhung der Notenausgabe, müsse grundsätzlich abgelehnt werden. In Bonner politischen Kreisen sei so der Eindruck entstanden, daß die Besatzungskosten nur durch eine erhebliche Kürzung der großen sozialen Lasten gedeckt werden könnten.
Kleine Weltdhronik
TÜBINGEN. Das Staatsministerium für Würt- temberg-Hohenzollern hat beschlossen, dem Landtag einen Gesetzentwurf zuzuleiten, wonach alle im Verfahren zur politischen Säuberung erfolgten Beschränkungen des Rechts zu wählen und an Abstimmungen teilzunehmen, aufgehoben werden. Der Gesetzentwurf soll dem Landtag unverzüglich zur Beschlußfassung zugeleitet werden. Im Bereich Württemberg-Hohen- zollerns wurde bisher das aktive Wahlrecht sieben Hauptschuldigen, 69 Belasteten, und 334 Minderbelasteten abgesprochen.
TÜBINGEN. Heute jährt sich zum dritten Male der Tag, an welchem Dr. Gebhard Müller im Jahre 1948 vom Landtag in Bebenhausen zum Staatspräsidenten von Württemberg-Hohen- zollern gewählt wurde.
NEUSTADT/WEINSTR. Mit einem Übergreifen der zurzeit im Saargebiet herrschenden Kinderlähmungsepidemie auf die Pfalz wird gerechnet. Der Regierungspräsident der Pfalz in Neustadt-teilte am Samstag mit, daß in Zweibrücken bereits ein Fall von spinaler Kinderlähmung festgestellt wurde. Um ein Übergreifen zu verhindern, wurde in Mainz beschlossen, in Grenznähe keine sportlichen und sonstigen Massenveranstaltungen stattfinden zu lassen.
FRANKFURT. Das Arbeitsgericht Frankfurt erließ am Freitag auf Antrag des land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes Hessen eine einstweilige Verfügung, mit der der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft zur Vermeidung einer noch festzusetzenden Strafe aufgegeben wird; ihren in Hessen begonnenen Landarbeiterstreik unverzüglich abzubrechen und alle Kampfmaßnahmen zu unterlassen.
WOLFSKEHLEN. Mit einem neuen Erdgasausbruch in Wolfskehlen ist nach menschlichem Er
messen jetzt nicht mehr zu rechnen. Die Bohrstelle ist am Freitag und Samstag mit einer Zementmischung ausgefüllt worden. Die Trümmer des zusammengestürzten Bohrturmes werden bis heute abend beseitigt sein. Dann soll nach einer Mitteilung der technischen Leitung eine neue Bohrung durch den Zementkern angesetzt werden.
FÜRSTENFELDBRUCK. Der Oberkommandierende der Atlantikpaktstreitkräfte, General Dwight D. Eisenhover, traf am Samstag von seinem Hauptquartier in Paris kommend zu einem neuntägigen Besuch der Bundesrepublik auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck ein. Der General fuhr sofort nach Garmisch-Partenkirchen weiter.
ORLEANS. Der am Samstag zum Staatssekretär für die technische Ausbildung in der neuen französischen Regierung ernannte Abgeordnete Pierre Chevallier ist gestern in Orleans durch fünf Revolverschüsse getötet worden. Nach einer Erklärung des französischen Innenministeriums soll es sich um eine Ehetragödie handeln.
ROM. Frankreich soll den Vereinigten Staaten und Großbritannien vorgeschlagen haben, die italienische Forderung nach einer Revision seines Friedensvertrages den Vereinten Nationen zu unterbreiten, verlautete aus Rom. Der französische Vorschlag soll in Washington und London günstig aufgenommen worden sein.
LAS VEGAS. Die USA-Atomenergiekommis- sion wird in der kommenden Woche mit einer Atomenergieversuchsreihe beginnen, die an Dauer alle vorherigen Versuche übertreffen und einige Monate lang währen soll. Mit den neuen Versuchen sollen vor allem metereologische Daten bei atomaren Explosionen ermittelt werden. Jugoslawien soll sich an einer Revision des Friedensvertrages für Italien beteiligen wollen, wenn vorher die Triest-Frage geklärt würde.
Eine Millionendemonstration
Ulbricht droht
BERLIN. In dem wohl größten Propagandaaufmarsch aller Zeiten zogen am gestrigen Sonntag mehr als eine Million Kinder und Jugendliche über acht Stunden lang in Ostberlin an den Machthabern der Sowjetzone vorbei, um dem „deutschen Imperialismus“ und den „Kriegstreibern“ die „Antwort der jungen Friedenskämpfer Deutschlands“ zu erteilen. Der sogenannte „Friedensmarsch“ bildete den Höhepunkt der seit einer Woche im Berliner Ostsektor stattfindenden kommunistischen „Weltjugendfestspiele“. Die Parade in dem in Marx-Engels-Platz umbenannten Lustgarten stand im Zeichen der Haßpropaganda gegen den Westen, dessen führende Politiker auf zahlreichen Transparenten als blutbesudelte Schlächter dargestellt wurden. Fanatische „Ami go home“-Rufe wechselten unaufhörlich mit Hochrufen auf Stalin, Pieck und andere kommunistischen Führer.
Auf einer „Massenpressekonferenz“ erklärte der stellvertretende Ministerpräsident der Sowjetzone, Walter Ulbricht, ein gesamtdeutsches Gespräch sei nicht mehr nötig, da friedliebende Menschen in Westdeutschland die Führung der politischen Geschicke in ihre Hände nehmen würden. Die „Friedenskämpfer“ in der Bundesrepublik wüßten schon, wie der von der Sowjetzonenregierung propagierte „aktive Widerstand“ geführt werden müsse.
Problematische Tariferhöhung
TÜBINGEN. Nach dem Stand der Verhandlungen ist damit zu rechnen, daß am 1. Oktober durch Rechtsverordnung des Bundes eine Reihe von Tarifen bei der Bundesbahn in Kraft treten werden. Der Bundesrat wird zu dieser Frage abschließend Anfang September Stellung nehmen. In den Vorberatungen wurde bisher Einigkeit darüber erzielt, daß die Expreßguttarife um 20 Prozent, die Stückguttarife der Klassen I, II und III um 30, 25 und 20 Prozent erhöht werden. Für die Gütertarife der Wagenladungsklassen hat die ständige Tarifkommission eine lineare Erhöhung um 12,5 Prozent mit Bruch der Entfernungsstaffel bei 400 km vorgeschlagen, wogegen der wissenschaftliche Beirat des Bundesverkehrsministeriums empfohlen hat, eine gestaffelte Erhöhung zwischen 15 und 25 Prozent einzuführen. Diesem Vorschlag hat sich der Beirat der deutschen Bundesbahn mehrheitlich angeschlossen und außerdem eine Erhöhung der Tarife im Personenverkehr (mit Ausnahme der Fahrpreise im Berufsverkehr) um 15 Prozent, sowie die Aufstockung der Tarife für den Schülerverkehr bis zur Höhe der bisherigen Tarife für den Berufsverkehr beschlossen.
Da die Tariferhöhungen ohne Stellungnahme des Bundestages durch Rechtsverordnung des Bundes erlassen werden, kommt der Entscheidung des Bundesrates besondere Bedeutung zu. Die Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft haben in Schreiben an die Bundesminister für Wirtschaft und Ernährung schwerwiegende Bedenken gegen die von der deutschen Bundesbahn vorgeschlagenen Gütertariferhöhungen geltend gemacht. Die differenzierte Erhöhung der Wagenladungsfrächten liefe den Bestrebungen der Sozialpartner zuwider, die Preise zu stabilisieren oder wenn möglich zu senken.
Uneinheitlicher Sommerschlußverkauf
TÜBINGEN. Zum Sommerschlußverkauf in Württemberg-Hohenzollern erklären die großen Firmen des Textil-Einzelhandels einheitlich, daß ihre Erwartungen weit übertroffen worden seien. Vom Inhaber eines großen Hauses wurde versichert, daß in den vielen Jahrzehnten seit Bestehen der Firma ein Verkauf wie 1951 zum Sommerschluß noch nie verzeichnet worden sei. Die Räumung der Lager könne als ideal bezeichnet werden. — Auch aus Freiburg wird gemeldet, daß im diesjährigen Sommerschlußverkauf in Südbaden mengen- und wertmäßig zum Teil wesentlich mehr umgesetzt wurde als im vergangenen Jahr, wobei Konfektionswaren den stärksten Anteil gehabt hätten, von denen etwa 30 bis 40 Prozent mehr als im vergangenen Jahr verkauft worden seien. — Aus München meldet das IFO-Institut dagegen in seinem neuesten Schnelldienst, daß die Mehrheit der Einzelhandelsfirmen im Bundesgebiet beim Sommerschlußverkauf 1951 dem Vorjahresumsatz nur mehr oder weniger knapp erreicht habe. Der Einzelhandel habe sich aber von seinen überhöhten Lagern teilweise befreien können.
EITE RES^5pIEL
IM NECKARTAL
Ein fi öhlicher Roman von Else Jang
18] Copyright by Verlag Bechthold
Hatte er der bereits alternden Frau, die — er mußte es zugestehen — noch immer anziehend war, deshalb den Hof gemacht, damit er jetzt beiseite geschoben wurde, weil die Angst der Mutter um ihr Kind letzten Endes doch stärker war als das Glück der liebenden Frau?
Schreyer legte die Füllfeder fort und zündete sich eine Zigarette an. Er, als der einzige im Betrieb, durfte es sich erlauben, bei der Arbeit zu rauchen. Angelika hatte stets mit einem nachsichtigen Lächeln darüber hinweggesehen. Bei den Angestellten galt er als der Bevorzugte, und Schreyer wußte sehr wohl von dem Gerücht, das ihn zum zukünftigen Herrn und Gebieter der Kunsthandwerstät- ten und seiner Besitzerin machte. Es hatte Seinem Ehrgeiz und seiner Eitelkeit geschmeichelt, und gleichmütig nahm er die zunehmende Unbeliebtheit in Kauf, die ihm die älteren Betriebsangehörigen deutlich zeigten. Die jungen Mädchen dagegen schwärmten ihn tm. Jeder Gang durch die Abteilungen Hand- Weberei, Buchbinderei, Goldschmiede und Holzschnitzerei bewiesen es ihm aufs neue.
Richard Schreyer blies einen blauen Rauchring in die Luft und lächelte.
Es war nicht schwer, mit Frauen umzugehen. Er hatte noch jede von ihnen gewonnen, nach der ihn verlangte. Auch Angelika Lorentzen, die stolzeste und eigenwilligste, die ihm bisher begegnete, war nahe daran gewesen, ihm zu erliegen, hätte ihm Imma nicht
einen so unerwarteten Strich durch die Rechnung gemacht.
Verstimmt warf er den Zigarettenrest in die Aschenschale und drückte ihn aus.
Wo das lauenhafte Ding nur gesteckt haben mochte?
O ja, sie kannte ihre Mutter, und was sie gewollt hatte, war ihr nun auch gelungen. Angelika war ihm entglitten.
Sie dachte nur noch an ihr Kind. Kaum sah sie ihn an, wenn sie mit ihm sprach. In diesen wenigen Tagen war sie erschreckend gealtert, und auch die Nachricht, daß Imma gefunden worden sei und zurückkomme, hatte ihr die frühere Frische und Spannkraft noch nicht wiedergegeben.
Schreyer seufzte und nahm die unterbrochene Arbeit von neuem auf.
Zwei Reklamationen waren eingelaufen, die Angelikas zerstreutes Wesen verschuldet hatte. Sie war vor einer halben Stunde bei ihm gewesen und hatte ihm die Briefe auf den Tisch gelegt.
„Sie bringen die Angelegenheit wohl wieder in Ordnung, nicht wahr?“
Kein Wort sonst. Kein Blick vertrauten Einverständnisses. Nur kurze, geschäftliche Sachlichkeit.
Verärgert las er die beiden Schreiben durch, nahm den Hörer vom Apparat und fragte in allen Abteilungen nach Fräulein Klentze, der Sekretärin, die ihm und Angelika gemeinsam zur Verfügung stand.
Aus dem Lager der Handweberei meldete Sich Angelikas Stimme.
„Fräulein Klentze ist bei mir, ich kann sie jetzt nicht entbehren.“
Wütend schmiß Schreyer den Hörer in die Gabel.
Dann mußte eben Fräulein Rothe einsprin- gen.
Schreyer stand auf und öffnete die Tür zum Karteizimmer. Hier bearbeiteten zwei Mädchen den täglich einlaufenden Stoß der Aufträge. V
„Fräulein Rothe, bitte —“, wollte er rufen, aber mitten im Satz blieb er stecken.
Auf der Schreibtischplatte saß Imma und sah ihn spöttisch an. Schreyer raffte sich zusammen und entschloß sich zu einer Verbeugung.
„Gottlob, daß Sie wieder da sind!“ sagte er.
Imma hörte die Scheinheiligkeit aus seinen Worten sehr deutlich heraus.
„Ich kann mir kaum vorstellen, daß Sie den lieben Gott dafür loben“, antwortete sie mit aufreizendem Hohn. „Sie hätten es doch bestimmt lieber gesehen, wenn ich unterwegs verdorben und gestorben wäre.“
Die Mädchen begannen zu kichern, und Schreyer wurde nervös.
Er beeilte sich, zu versichern, daß er in der Tat von Herzen froh sei. Die Frau Mama habe sich ernste Sorgen um ihre Tochter gemacht, und er freue sich, ihr endlich die frohe Botschaft von der Rückkehr ihres verlorengeglaubten Kindes bringen zu können.
Imma sprang von ihrem erhöhten Sitz hinunter.
„Bemühen Sie sich nicht, Herr Schreyer, die Überbringung dieser frohen Botschaft besorge ich selbst“, sagte sie schroff und lief aus dem Zimmer.
Schreyer kam sich vor wie ein gemaßregel- ter Schuljunge.
In seinem Ärger vergaß er, daß er die Rothe zum Diktat hatte holen wollen, und der stark Beschäftigten fiel es nicht ein, ihn daran zu erinnern.
„Donnerwetter“, sagte sie, als er hinausgegangen war und die Tür so krachend ins Schloß geworfen hatte, daß die Wände zitterten, „der muß aber eine schöne Wut im Bauch haben.“
„Und ob!“ — Ihre Arbeitskameradin Trude Beck, die vor dem geöffneten Karteischrank stand, lachte. — „Er spürt doch ganz genau, daß es Imma ist, die ihm die gute Suppe versalzen will.“
„Versalzen nat, liebe Trude!“ — Erna Rothe
unterstrich diese Behauptung mit einem kräftigen Schlag ihrer Hand auf die Schreibtischplatte. — „Das sieht doch ein Blinder, daß Muschi den schönen Richard merklich kaltgestellt hat.“
Wenn sie unter sich waren, nannten die Angestellten die Betriebsinhaberin nur mit dem Kosenamen, den Imma ihrer Mutter gegeben hatte, wie auch Frau Thilde von Losch auf Rabeneck nicht anders hieß als Großmama.
Daß es so war, daran trug Imma die Schuld, die nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf seit einem Jahr zur Betriebsgemeinschaft der Kunsthandwerkstätten gehörte. Sie arbeitete am Webstuhl in der Handweberei und war eine sehr geschickte Musterin.
Die Angestellten aller Abteilungen mochten sie gern, und als sie eines Tages am Webstuhl' fehlte, hatte jeder einzelne nach ihr gefragt^ bis es allmählich durchgesickert war, daß Imma nach einem Streit mit ihrer Mutter heimlich die Burg Rabeneck verlassen hatte. Diese Flucht wäre ihr wahrscheinlich nicht so unbemerkt geglückt, wenn sich Großmama nicht gerade auf einer Verwandtenreise befunden hätte, und Großmamas Energie war es auch zu verdanken, daß die Ausreißerin wieder heimgekehrt war.
*
Mit Thilo war nichts mehr anzufangen.
Isa und Kersten hatten vergeblich versucht, den verdrossenen und ein wenig sentimental angehauchten jungen Mann aufzuheitem, der den Silbergrauen nicht mehr leiden konnte, weil Imma nicht mehr neben ihm saß.
Den Besuch in den Neckartaler Kunsthandwerkstätten hatte er von einem Tag auf den andern verschoben, weniger aus Mangel an Tatkraft als aus dem Gefühl des Widerstrebens, seine zukünftige Stellung der Fürsprache eines jungen Mädchens verdanken zu sollen.
(Fortsetzung folgt)