MONTAG, 6. AUGUST 1951
ln Westberlin Sonntagsruhe ...
... während im Ostsektor die „Weltjugendfestspiele“ begannen
BERLIN. Während in Ostberlin mit einem riesigen Aufwand an Stalinbildern, Fahnen, Transparenten und Reden die kommunistischen Weltjugendfestspiele eröffnet wurden, herrschte in Westberlin Sonntagsruhe. Schon in den frühen Morgenstunden fuhren die Berliner an die Seen, zur Havel und in die Wälder Westberlins. Manche Ostberliner, die dem Rummel entgehen wollten, waren unter ihnen. Der offizielle Beginn der Festspiele fand am Sonntagnachmittag im Walter-Ulbricht-Sta- dion statt. Unter den Klängen der Weltjugendhymne wurde die weiße Fahne des kommunistischen Weltjugendbundes gehißt. Anschließend überprachten Stafettenläufer aus 16 Ländern sogenannte Friedensbotschaften, während Tausende von lebenden Friedenstauben in der Mitte des Stadions hochgelassen wurden.
Weltkampf für die friedliche Zukunft der Völker, Josef Wissarionowitsch Stalin!“.
„Je stärker wir uns mit Europa und dem Westen verbünden, um so sicherer werden wir für unseren deutschen Osten arbeiten, der einst im Frieden wieder mit uns vereint sein wird.“ Mit diesen Worten wandte sich Bundeskanzler Dr. Adenauer am Vorabend der Eröffnung der Weltjugendfestspiele in einer Rundfunkansprache an die Bevölkerung der Sowjetzone. Adenauer führte aus, daß der Kommunismus Europa und „alles, was wir als lebenswert erkennen“, in den Abgrund stürzen wolle. Er versicherte der ostdeutschen Jugend, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik in den Tagen der kommunistischen Weltfestspiele mit besonderer Anteilnahme auf sie
schaue. „Liebe Landsleute“, fuhr Adenauer fort, „das Treffen in Ostberlin ist kein Treffen Ostdeutschlands, sondern es ist ein kommunistischer Zwangsaufmarsch, der Euch gegen uns auf wiegeln soll.“
An der Grenze der Bundesrepublik zur Sowjetzone, wo am Samstag, einem Tag vor Beginn der Spiele, noch einmal ein größerer Ansturm der FDJ-Angehörigen erwartet wurde, blieb es nach den letzten Meldungen verhältnismäßig ruhig. Insgesamt wurden in den vergangenen Wochen etwa 11 000 illegale jugendliche Grenzgänger festgenommen und in ihre Heimatorte zurücktransportiert. Unter den Festgenommenen befanden sich 6—8jährige Kinder, die teilweise nicht einmal ihren Wohnort angeben konnten. Das Bundesinnenministerium warnte in diesem Zusammenhang nochmals die Eltern, die die Teilnahme ihrer Kinder an der kommunistischen Veranstaltung in Berlin dulden, weil sie sich der Verhetzung junger Menschen mitschuldig machen.
Unter Marschmusik einer in Weiß gekleideten Volkspolizeikapelle marschierten von der Mittagsstunde an die ausländischen Teilnehmer in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Länder ein Minutenlanges rhythmisches Händeklatschen grüßte jede Delegation, bei deren Aufmarsch neben überlebensgroßen Bildern von Stalin, Pieck, Grotewohl und führenden Kommunisten vor allem blaue FDJ- und sowjetische Fahnen wiederkehrten. Die auffallend starke chinesische Delegation führte etwa 100 große Flaggen mit eingewirkten Köpfen von Mao Tse-tung mit sich. Auch die Nordkoreaner waren unter Führung von etwa 20 Offizieren der kommunistischen koreanischen Armee mit einer Delegation vertreten.
Während der Massenversammlung im Walter-Ulbricht-Stadion, setzte von Westberlin aus eine Flugblattaktion zur Aufklärung der jugendlichen Demonstranten ein. In schneller Folge explodierten über den Köpfen der zum Stadion marschierenden Demonstrationszüge Flugblattraketen, die Tausende von Flugzetteln auf dem Kundgebungsplatz und den umliegenden Straßen verstreuten.
Der Staatspräsident der Sowjetzonenrepublik, Wilhelm Pieck, erklärte in seiner Eröffnungsrede, die anglo-amerikanischen Kriegstreiber hätten trotz aller Niederlagen ihre Kriegspläne noch nicht aufgegeben. Pieck forderte zur „äußersten Verstärkung des Kampfes um den Frieden“ auf und nannte warnend die „amerikanische Aggression in Korea“. Pieck schloß seine Rede mit dem Ruf: „Es lebe die Sowjetunion! Es lebe der große Führer im
Atlantikpaktrat einberufen
Deutschlandproblem auf dem Programm
LONDON. Der Rat der Außenminister und der Verteidigungsminister der Atlantikpaktstaaten ist jetzt offiziell für September und Oktober zu zwei Sitzungen einberufen worden. U. a. wird dabei auch der Umfang und die Gliederung des deutschen Verteidigungsbeitrages und die Aufnahme Griechenlands und der Türkei in den Atlantikpakt zur Debatte stehen.
Die erste Sitzung wird am 15. September in Ottawa und die zweite gegen Ende Oktober in Rom stattfinden. Voraussichtlich werden auch die Finanzminister der zwölf Nationen auf beiden Sitzungen vertreten sein, um die Verteilung der Rüstungslasten und die weitere Finanzierung der Rüstung zu beraten. Die deutsche Frage soll erst auf der zweiten Sitzung im Oktober zur Sprache kommen.
Für die zweite Sitzung rechnen unterrichtete Kreise unter Umständen mit der Diskussion eines Mittelmeerpaktes, die durch die eventuelle Aufnahme Griechenlands und der Türkei in Gang kommen könnte. In Rom spricht man bereits von der Möglichkeit einer Revision des italienischen Friedensvertrags durch den Atlantikrat. In Instanbul wird das nachdrückliche Eintreten der USA für die Eingliederung der Türkei in den Atlantikpakt lebhaft begrüßt.
„Einmalige Chance durch Südweststaat“
Stuttgarter FDP-Erklärung zur Neuordnung im südwestdeutschen Raum
Stuttgart. Der erweiterte Landesvorstand und die Landtagsfraktion der DVP Württemberg-Badens haben sich am Samstag in Stuttgart eingehend mit der Vorbereitung der Südweststaatabstimmung befaßt. Der Landesvorsitzende der DVP Württemberg-Badens, Dr. Wolfgang Haußmann, legte die Ansicht der Partei zur Südweststaatbildung dar. Er erklärte, die Verwirklichung des Südweststaates sei für die Geschichte und für das politische Gesicht des südwestdeutschen Raumes eine einmalige Chance für eine grundlegende Neuordnung. Es dürfe nicht übersehen werden, daß es allein diese Neuordnung ermögliche, allen bisherigen verwaltungsmäßigen Ballast abzustreifen und ein vorbildliches Bundesland von Grund auf zu schaffen. „Unser oberstes Ziel im Interesse unserer Bürger muß sein“, sagte Dr. Haußmann wörtlich, „daß wir im Südwestraum einen vereinfachten Verwaltungsaufbau schaffen, der den seit 1945 angewachsenen Verwaltungsaufbau vermin
dert und einer gesunden Selbstverwaltung der Gemeinden den Weg ebnet.
Führende Persönlichkeiten der CDU aus Baden und Württemberg trafen sich zum Wochenende in Überlingen. In Fortsetzung der vor wenigen Wochen stattgefundenen Konferenzen von Villingen und Säckingen wurden auf der außerordentlich stark besuchten Tagung politische Anliegen der CDU vor und nach dem Abstimmungskampf um den Südweststaat besprochen. Die Teilnehmer faßten einstimmig eine Entschließung zur bevorstehenden Volksabstimmung, die rechtzeitig veröffentlicht werden soll.
Die badische Landesregierung hat dem Bundesverfassungsgericht mit einer ausführlichen Begründung die Anträge auf Nichtigkeitserklärung des „Blitzgesetzes“ und des „Neugliederungsgesetzes“ zugeleitet. Den Anträgen wurden ferner je ein Gutachten des Bonner Professors Ulrich Scheuner und des Schweizer Prof. N a w a s k i beigefügt.
Kleine Weltdironik
TÜBINGEN. Der kommunistische Landtagsabgeordnete von Württemberg - Hohenzollern, Ludwig Becker, ist von seiner Partei ausgeschlossen worden, da er die Beschlüsse des Münchener KPD-Parteitages nicht als für sich verbindlich angesehen habe.
STUTTGART. Der Verbindung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wurde jede Betätigung mit Ausnahme der wirtschaftlichen Betreuung ihrer Mitglieder vom Innenministerium des Landes Württemberg-Baden untersagt. Die Polizei hat die Anweisung erhalten, alle Versammlungen mit den polizeilich zulässigen Mitteln zu verhindern. Verboten ist damit die WN, wie in anderen deutschen Ländern, nicht.
BONN. Das Bundespresseamt forderte am Samstag nochmals die Angehörigen Vermißter auf, sich bei den Nachforschungen nach dem Schicksal Vermißter einzuschalten. Jeder Heimkehrer solle seine Anschrift der „Nachforschungszentrale für Wehrmachtvermißte“, München 13, Infanteriestraße 7 a, einsenden.
BONN. Kardinal Frings und Vizekanzler Franz Blücher sprachen am Samstag zum Abschluß der 65. Jahresversammlung des Kartellverbandes katholischer deutscher Studentenverbindungen (CV) im Bonner Metropoltheater. Nach einem Marsch durch die Straßen Bonns hatten sich die Fahnenabordnungen von fast 100 angeschlossenen Korporationen im Wichs im Saal aufgestellt. Unter den Ehrengästen befanden sich Ministerpräsident Arnold, Äbte, Bundesminister, Staatssekretäre, Abgeordnete und Professoren.
BERLIN. In der Westberliner Waldbühne trafen sich am Sonntag beim „Tag der Heimat" 25 000 Heimatvertriebene aus Berlin und der Sowjetzone. Die Fahnen von Königsberg und Danzig, von Schlesien und den anderen deutschen Landschaften des Ostens schmückten die Waldbühne, während der Oberbürgermeister von Berlin, Prof. Ernst Reuter, vor den Versammel
ten erklärte: „Die Liebe zur Heimat ist ein göttliches und menschliches Recht.“ Zur gleichen Zeit trafen sich in Lübeck 25 000 frühere Dan- ziger.
SAARBRÜCKEN. Das Ausmaß der Spinalen Kinderlähmung im Saarland komme einer Epidemie gleich, erklärte der Direktor des Staatlichen Gesundheitsamts in Saarbrücken, Dr. Altmayer. Vier Fälle verliefen bisher tödlich.
BRUSSEL. Der frühere Gestapochef von Belgien, Karl Constantin Canaris, ein Neffe des Chefs der deutschen Abwehr im zweiten Weltkrieg, Admiral Canaris, ist am Samstag von einem 'belgischen Militärtribunal zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
HELSINKI. Die finnische Kriegsgräberfürsorge hat einen künstlerischen Wettbewerb für einen Gedenkstein für deutsche gefallene Soldaten ausgeschrieben, die auf dem Soldatenfriedhof Sandudden bei Helsinki begraben liegen. San- dudden ist auch die Beisetzungsstätte Marschall Mannerheims. Die dort befindlichen 125 deutschen Gräher sollen die gleiche Ausschmückung erhalten wie die finnischen Gräber.
ROLLE (SCHWEIZ). Der Zentralausschuß des Weltkirchenrats hat. am Samstag in Rolle am Genfer See eine einwöchige Tagung eröffnet. An der Konferenz nehmen 120 führende Persönlichkeiten der protestantischen Kirchen teil, darunter der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland, Bischof D. Dibelius.
BUENOS AIRES. Der allgemeine argentinische Gewerkschaftsbund hat den Staatspräsidenten Peron aufgefordert, bei den Wahlen am 11. November erneut zu kandidieren und seine Frau, Eva Peron, als Kandidatin für den Posten des Vizepräsidenten zu nominieren. Die 29jährige Eva Peron ist die erste Frau Argentiniens, die für eine Präsidentschaftswahl vorgeschlagen wird.
Hinter verschlossenen Türen
KonferenzschluS in Straßburg
STRASSBURG. Der Ministerrat des Europarates hat am Freitag seine zweitägige Zusammenkunft mit einer dreistündigen Geheimsitzung beendet, über deren Inhalt fast absolutes Stillschweigen bewahrt wurde. Nicht einmal die Gesprächsthemen wurden mitgeteilt — ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Europarates.
In einer vorausgegangenen „offenen“ Sitzung haben die Minister eine Reihe von Ergänzungen zur Erklärung des Europarates über die Menschenrechte angenommen, u. a. solche über das Recht auf Eigentum, das Recht der Eltern, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen, und über die Verpflichtung zur Abhaltung freier und geheimer Wahlen in angemessenen Zeitabständen und unter Gewährleistung freien Meinungsausdrucks zur Bildung gesetzgebender Körperschaften. Zum Schluß trafen sich die Außenminister am Freitagabend zu einer zwanglosen Aussprache, an der auch Bundeskanzler Dr. Adenauer teilnahm.
Rückgang der Arbeitslosigkeit
DÜSSELDORF. In den meisten westdeutschen Landern ging die Arbeitslosigkeit im Juli geringfügig zurück oder sie blieb sich gleich Nur in Württemberg-Hohenzollern ist eine geringe Zunahme um 470 auf 7023 Arbeitslose zu verzeichnen. Nordrhein-Westfalen meldet einen Rückgang, ebenso Rheinland-Pfalz und Hessen. Bayern und Bremen blieben unverändert.
Kontrolle über VIAG aufgehoben
hat mit Wirkung vom 31. August die „Veret- mgten Industrieunternehmungen AG. (VIAG)“ einen zu dem ehemaligen Reichsvermögen gehörenden Konzern, aus der Kontrolle freigegeben Lediglich die Ilseder Hütte und die Braunschweigischen Kohlenbergwerke, Helmstedt, die beide zu dem Konzern gehören, bleiben unter der Kontrolle der Kohlenkontrollgruppe. Die Kontrolle über die Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerkindustrie wurde ebenfalls beendet.
Zur VIAG gehören zahlreiche Energieversorgungsunternehmen (z. B. Inn-Werke, Bayernwerk, Energie-Versorgung Schwaben, RWE-Es- sen), ferner die süddeutsche Kalkstickstoff-AG., die Vereinigten Aluminium werke und die deutsche Revisions- und Treuhand-AG.
Schutzvereinigung zum Aktientausch
DÜSSELDORF. Zur Diskussion um den Aktientausch der in Entflechtung befindlichen Werke der Grundstoffindustrie erklärte der Vorsitzende der Schutzvereinigung der Wertpapierbesitzer, Staatssekretär a. D. Schmidt, die Gewerkschaften dürften bei ihrem Vorgehen nicht vergessen, daß sich das Privateigentum der Grundstoffindustrien heute überwiegend in den Händen von Kleinaktionären befinde. Diese gehörten allen Volksschichten an und verkörperten eine auch für die Zukunft unentbehrliche Sparerschicht.
Die Kleinsparer lehnten es nachdrücklich ab, sich mit mehr oder weniger fraglichen Zwischenobligationen abspeisen zu lassen. Die Kleinak- tlonäre seien der Ansicht, daß das Eigentum der Grundstoffindustrien am besten bet einer möglichst großen Gruppe von Privatleuten aufgehoben sei.
Notenwechsel zur Schrottausfuhr
BONN. Die Bundesregierung wird bereits in den nächsten Tagen die britischen Vorschläge zur Steigerung des deutschen Schrottexportes nach England mit Gegenvorschlägen beantworten. Die deutschen Vorschläge sollen in wesentlichen Punkten dem britischen Plan ähneln. Danach würde die Bundesrepublik die ersten 300 0001 der monatlichen Schrottproduktion für sich verwenden können, während alles, was darüber hinauf produziert wird, nach dem System einer gleitenden Skala zwischen dem deutschen Inlandsverbrauch und dem Export geteilt werden soll.
Zurzeit ist die deutsche Schrottgewinnung auf etwa 400 000 t monatlich gefallen. Doch will dl* Bundesregierung durch Bereitstellung von Krediten die Gewinnung steigern. Ein britischer Sprecher erklärte kürzlich, England werde der Auflösung der Ruhrbehörde nur dann zustimmen, wenn Deutschland die vereinbarte Schrottmenge an Großbritannien liefere.
EITE RES w>PIEL
IM NECKARTAL
Ein fröhlicher Roman von Else Jung
9] Copyright by Verlag Bechchold
Vorwurfsvoll schüttelte Thilo den Kopf.
„Nun gib schon zu, daß du die gesuchte Imma bist, und habe Vertrauen zu mir. Ich will dir doch nur helfen“, sagte er bittend.
Imma zuckte die Achseln.
Sie könne beim besten Willen nichts zugeben, was mit ihrer Person in gar keinem Zusammenhang stehe, nicht im geringsten. Außerdem wolle sie in Ruhe frühstücken.
Gekränkt schwieg Thilo und widmete sich seiner Tasse Kaffee und einem weichgekochten Ei.
Später wanderten sie in Regenmänteln durch die Stadt. Imma trug ein hübsches, seidengummiertes Cape mit Kapuze und sah aus wie ein Heinzelmännchen.
Die leise Verstimmung zwischen ihnen war immer noch nicht gewichen. Sie äußerte sich durch ein Gespräch, das spärlich tropfte und von einer leichten Gereiztheit nicht weit entfernt war.
Beim Mittagessen wurde es ganz schlimm.
Imma hatte keinen Appetit. Sie aß wie ein Spatz, und mit einem Male saßen ein paar blanke Tränen in ihren Augenwinkeln.
Thilo sah es und war erschrocken.
Weil er nichts sagte und nur ein rührend ängstliches Gesicht machte, tat Imma sich selber leid, drückte die Augenlider zusammen und ließ die Tränen laufen.
Da stand Thilo auch schon neben ihr, nahm Ihre Hand und zwang sie mit sanftem Druck, aufzustehen und mit ihm zu gehen.
„Komm, w i r fahren ein Stück den Rhein entlang“, sagte er fürsorglich.
Sie folgte ihm ohne Widerspruch, kletterte schluchzend in den Silbergrauen, und als sie die Stadt hinter sich hatten, lehnte sie ihren Kopf an Thilos Schulter.
Thilo war dieses Mal klug genug, sie nicht mit Fragen zu quälen. Um sie abzulenken, begann er von sich selbst zu erzählen. Sprach von seiner Schwester Isa, der Bildhauerin, und von seinem Beruf, der ihn nicht mehr gefreut habe, weil er es satt geworden sei, ein ganzes Leben lang nichts als Tapeten zu entwerfen. Ja, und jetzt sei er stellungslos, und die Herren, denen er sich und seine Entwürfe an- geboten habe, hätten ein solches Mindestmaß von Verstand und Unternehmungsgeist gezeigt, daß er für seine Zukunft schwarz sehe. Aber das täte nichts, er werde schon eine passende Stellung finden und wolle jetzt an nichts anderes denken als an Imma.
Sie sah ihn zärtlich an.
Ihre Augen waren wieder hell, und weil Thilos Erzählung sie neugierig gemacht hatte, bat sie ihn, ihr doch einmal einige Proben seiner Kunst zu zeigen.
In einem Waldstreifen hinter Neuenahr war es. als Thilo den Wagen in eine Schneise hineinfuhr und stoppte. Aus dem Kofferraum angelte er seine Mappen heraus, breitete eine Decke über das Moos, und dann lagen sie beide bäuchlings nebeneinander, die blonden Köpfe über die aufgeschlagenen Blätter geneigt.
Endlich richtete sich Imma auf.
„Begabt, ohne Zweifel begabt!“ sagte sie. „Muschi würde sich darüber freuen.“
„Wer ist Muschi?“ fragte er leicht beunruhigt, denn er mußte bei Nennung dieses Namens an Isas Angorakater denken, der vor einem Vierteljahr auf seiner Brautschaureise abhanden gekommen war. „Bitte, Imma, wer ist Muschi?“
„Eine Freundin von mir, meine beste, bis vor kurzem.“
Auf Immas Stirn standen wieder Wolken, als sie hinzufügte, daß sie mit Muschi im Augenblick regelrecht verkracht sei, weshalb es ihr leider unmöglich wäre, Thilo mit ihr bekannt zu machen.
Schade!
Thilo bedauerte es ehrlich und meinte, es wäre ihm ein großer Trost gewesen, eine Frau kennenzulernen, die sich über seine Zeichnungen freuen würde. Die Erlebnisse seiner mißglückten Stellungsuche hätten ihn ein wenig entmutigt und an seinem Können irregemacht.
„Sehr dumm von dir“, schalt Imma, „du kannst nämlich allerhand, nur fehlt dir, wie Muschi sagen würde, die Materialerfahrung.“
Thilo war baff.
„Bitte — was?“
Imma versuchte, ihm zu erklären, was sie damit habe sagen wollen. Es kam etwas Ähnliches dabei heraus, was auch schon Scheidei junior, die Herren in Pforzheim und Schrenk in Stuttgart geäußert hatten.
„Und was „verehrtes Fräulein Professor, soll ich jetzt tun? Soll ich etwa bei einem Tischler, Goldschmied oder Weber in die Lehre gehen?“
Imma nickte. — „Es würde dir auf jeden Fall nützlich sein“, sagte sie ungerührt von seinem Zorn.
„Weißt du, was ich glaube, Thilo?“ — Imma war nahe an ihn herangerückt, und ihre Finger drehten eine seiner Haarsträhnen spielerisch zu einer Locke auf. — „Soweit ich es feststellen kann, liegt deine stärkste Begabung auf dem Gebiet von Form und Farbe. Spezialisiere dich doch auf Handwebmuster und Drucke. Deine Jacquardentwürfe sind herrlich. Muschi würde darüber in Entzücken geraten.“
Schon wieder diese rätselhafte Muschi.
Wer ist sie, wo wohnt sie? Könnte man nicht ein Empfehlung an sie bekommen?
Imma lächelte, ließ die aufgerollte Locke los
und stützte das Kinn auf ihre hochgezogenen Knie. Nachdenklich und abwesend schaute sie ihre Schuhspitzen an.
„Wenn ich nur nicht mit ihr verkracht wäre!“ sagte sie nach einer Weile und seufzte. „Muschi könnte dir tatsächlich helfen.“ „Wirklich?“ — Thilo sprang auf. — „Dann versöhne dich doch wieder mit ihr.“
Imma machte ein undurchdringliches Gesicht und begann die Decke zusammenzulegen. Thilo nahm sie ihr aus den Händen.
„Du hast einen Kummer“, sagte er vorsichtig, denn es schien ihm, als ob sie jetzt in der rechten Stimmung sei, zu beichten. Aber Imma dachte nicht daran, ihn zum Vertrauten ihrer Nöte zu machen. Rundheraus und ein wenig kratzbürstig erklärte sie, daß sie sich bei bester Laune befinde und gern weiterfahren würde, wenn er nichts dagegen habe.
Thilo hatte nichts dagegen und schlug eine Besichtigung des Klosters Maria Laach vor. „Sehr schön.“ — Imma war einverstanden. Auf der Westseite des Laacher Sees, eingebettet in einen Kranz hoher Berge, lag der stattliche, sechstürmige Bau des Klosters im stillen Frieden einer romantischen Landschaft. Die Stille ringsum war so groß, daß Thilo und Imma, die eben die hohe, gewölbte Pfeilerbasilika betraten, verstummten und sich nur durch Zeichen auf diese und jene Sehenswürdigkeit aufmerksam machten.
Als sie von einem Spaziergang am Ufer des Sees zum Parkplatz des Silbergrauen zurückkehrten, hatte sich ihm ein zweiter Wagen zugesellt. Seine Insassen stiegen gerade aus.
„Du“, sagte Imma und stieß Thilo an, der mit einem Ruck stehengeblieben war, „das Gesicht kenne ich doch? — Ist das nicht der Filmschauspieler Walter Kersten?“
Eine Antwort bekam sie nicht, und was i 11 den nächsten Sekunden geschah, versetzte Imma in einen Taumel widerstreitender Gefühle. (Fortsetzung folgt)