NUMMER 120

SAMSTAG, 4. AUGUST 1951

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Keine volle Souveränität

Zwischenbilanz der Verhandlungen über die Ablösung des Besatzungsstatuts Drahtbericht von unserer Bonner Redaktion

BONN. Die deutsch-alliierten Verhandlun­gen über die Ablösung des Besatzungsstatuts durch mehrseitige Verträgecontractual agreements sind in diesen Tagen zu einem ersten Zwischenergebnis gekommen. In Be­sprechungen zwischen politischen und juristi­schen Fachleuten der Hochkommission und einer deutschen Delegation, unter Leitung von Prof. G r e w e, wird jetzt ein Bericht redigiert, der dann den Außenministern der drei West­mächte als Grundlage für eine weitere Kon­kretisierung der Brüsseler Beschlüsse dienen soll. Vermutlich im September, also etwa zum gleichen Zeitpunkt, an dem über den deutschen Verteidigungsbeitragauf höchster Ebene ent­schieden werden soll, werden die Außenmini­ster ihren Beschluß über die Umwandlung des Besatzungsstatuts fassen und es wird dann wieder deutsch-alliierten Besprechungen auf dem Petersberg zufallen, die Verträge zu for­mulieren, die an die Stelle des Besatzungs­statuts treten sollen.

Wie unsere Bonner Redaktion zuverlässig erfährt, bestand bei den Petersberger Bespre­chungen zwischen den Alliierten volle Überein­stimmung darüber, daß ihresupreme autho- rity bestehen bleiben und auch künftig die Rechtsgrundlage für die Besatzung bilden soll. Die drei Westmächte behalten sich damit das Recht vor, die volle Regierungsgewalt in Deutschland wieder zu übernehmen, wenn die­ser Schritt nach ihrer Ansicht notwendig ist. Hat bisher die Generalklausel des Besatzungs­statuts diese Möglichkeit festgelegt, so wird bei der Ablösung dieses Statuts der Inhalt der Klausel vermutlich in der Form einer gemein­samen einseitigen Erklärung der Westmächte bis auf weiteres erneuert werden.

Der Katalog der zu revidierenden Bestim­mungen umfaßt im Zwischenbericht 39 Punkte, die im wesentlichen die deutschen Stellung­nahmen wiedergeben. Diese sind zwar in ihren Einzelheiten noch nicht bekannt, es ist jedoch in Bonn zu erfahren, daß sie vor allem die juristischen und politischen Begründungen für das deutsche Verlangen enthalten, die der deutschen Wirtschaft und Politik auferlegten Beschränkungen zu beseitigen. Kreise, die der Bundesregierung nahestehen, betonen die Hoff­nung, daß die Erklärung der prinzipiellen Be-

NiditsDramatisches

Die Sperrung des Interzonenhandels BONN. Ein Sprecher des Bundeswirtschafts­ministeriums erklärte gestern in Bonn, die Sperrung des legalen Warenverkehrs über die innerdeutsche Zonengrenze sei keineswegs mit dramatischen Entwicklungen verbunden. Es werden keine Sperren errichtet und ähnliche Vorkehrungen getroffen.

Das Vorgriffsabkommen war im Februar zwi­schen Vertretern der Ostzone und der Bundes­republik in Berlin getroffen worden. Es wurde später noch zweimal verlängert und sah einen Vorgriff auf die im Vertrag vereinbarten jähr­lichen Lieferungen von etwa 500 Millionen Verrechnungseinheiten auf beiden Seiten vor. Das Abkommen war, ohne daß eine neue Ver­längerung zustande gekommen wäre, um Mit­ternacht am Donnerstag abgelaufen. Danach besteht keine Grundlage mehr für einen lega­len Warenverkehr über die Zonengrenze.

Die Westalliierten hatten in der vergangenen Woche die Haltung der Bundesregierung un­terstützt. Sie hatten erklärt, daß sie ihre Zu­stimmung zur Unterzeichnung des neuen Ver­trags nich teher geben würden, bis die Russen ihre Beschränkungen des Interzonenhandels aufgegeben hätten. Die Sowjets waren bisher nicht bereit, Garantien für den künftigen rei­bungslosen Verkehr auf der Eisenbahn, der Landstraße und dem Wasserwege zu geben.

Die Ostzone braucht aus Westdeutschland in der Hauptsache Stahl, Maschinen und Kohle, während sie an die Bundesrepublik vornehm­lich Lebensmittel und optische Geräte liefert.

reitschaft der Alliierten zur Aufhebung dieser Beschränkungen erfolgt, bevor die Außenmini­ster der drei Westmächte zu Entscheidungen über einen möglichen militärischen Verteidi­gungsbeitrag der Bundesrepublik kommen. Zu­mindest bei der Hochkommission scheint die­ser Hoffnung Verständnis entgegengfebracht zu werden.

Wenn es zu einer Ablösung des Besatzungs­statuts unter Beibehaltung einer Generalklau­sel kommt, wird die Lösung der juristischen, politischen und wirtschaftspolitischen Pro­bleme, die mit den zu schaffenden Verträgen Zusammenhängen, ohnehin sehr viel Zeit in

Anspruch nehmen, wird unserer Bonner Re­daktion von zuständiger deutscher Seite er­klärt. Zu dem wiederholt von den Bonner Re­gierungsparteien eingenommenen Standpunkt, wenn nach der Ablösung des Besatzungsstatuts die deutschen Souveränitätsverzichte nicht grö­ßer seien, als die der Atlantik-Pakt-Mächte, so könne durchaus von einer deutschen Gleich­berechtigung gesprochen werden, erklärt man in SPD-Kreisen: 1. gäbe es keine halbe oder Dreiviertel-Souveränität, sondern nur die volle Souveränität, die aber durch die Generalklau­sel ausgeschlossen werde und 2. könne die Bundesregierung nicht auf Souveränitätsrechte verzichten, die sie gar nicht habe. 3. die zu schaffenden Verträge würden sich auf einsei­tige Willenserklärungen der Besatzungsmächte stützen und das könne nicht als Grundlage einer deutschen Gleichberechtigung gewertet werden.

Sonderausschuß für Fall Kemritj

Deutsch-amerikanische Kommission / Berlin lehnt Eingriff in Rechtspflege ab

BONN. In den nächsten Tagen wird die Re­gierung einen dreiköpfigen Ausschuß ernen­nen, der mit einer amerikanischen Kommission über den Fall des Doppelagenten K e m r i t z entscheiden soll. Wie aus Bonn verlautet, soll je ein hoher Beamter aus dem Bundeskanzler­amt, dem Bundesjustizministerium und dem Auswärtigen Amt in den Ausschuß berufen werden.

Der Regierungssprecher lehnte es im An­schluß an die Donnerstagsitzung des Bundes­kabinetts zum Fall Kemritz ab, Einzelheiten bekanntzugeben, da dies im Augenblick nicht opportun erscheine. Zurzeit seien alle betei­ligten Parteien bemüht, einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation zu finden. Durch vorzeitige öffentliche Diskussion würde die Verhandlung nur erschwert werden.

Anlaß zu der Sitzung war. das Verlangen des amerikanischen Hohen Kommissars M c C1 o y, die vom Landgericht Berlin gegen Kemritz er­lassenen Urteile zu annulieren, weil Kemritz einBeauftragter der amerikanischen Militär­regierung sei. McCloy hatte den amerikani­schen Stadtkommandanten in Berlin angewie-

Kleine Weltchronik

MÜNCHEN. Der bayerische Ministerrat hat am Donnerstag in einer Sondersitzung die neue bayerische Gemeindeordnung verabschiedet. Nach dieser neuen Ordnung sollen Orte, die weniger als 20 000 Einwohner haben, einen ehrenamtlichen Bürgermeister erhalten, in Orten mit größerer Einwohnerschaft soll der Gemeinde­rat über die ehrenamtliche oder hauptamtliche Bestellung des Bürgermeisters entscheiden.

BONN. Die Bundesregierung hat die Alliierte Hohe Kommission in einer Note davon unter­richtet, daß der deutsche Exportkohlenpreis rück­wirkend vom 1. Mai an um 3.50 Dollar je t er­höht wird. Der deutsche Kohlenverkauf hatte bereits seit Anfang Mai alle Verkaufsverträge mit einer Vorbehaltsklausel versehen.

BONN. Seit heute nacht ist die Einreise nach Österreich erleichtert. Deutsche Staatsangehörige, die einen deutschen Reisepaß oder einen vom Combined Travel Board ausgestellten vorläufigen Reiseausweis haben, können eine Einreiseerlaub­nis der Alliierten in die drei Westzonen Öster­reichs bei bestimmten Kontrollposten entlang der jjeutsch-österreichlschen Grenze erhalten.

BONN. Das Bundeskabinett bewilligte am Donnerstag 50 Millionen DM zur Verbilligung von Phosphatdüngemitteln. Der Dünger soll da­mit soweit subventioniert werden, daß das Kilo Phosphorsäure für 62 Pfennig verkauft werden kann. Dies bedeutet trotzdem eine erhebliche Verteuerung gegenüber dem Vorjahr, wo Phos­phat 38 Pfennig pro Kilo kostete.

OPLADEN. Die Gesamtschäden durch die zwi­schen Köln und Düsseldorf Anfang der Woche niedergegangenen schweren Unwetter werden bisher auf 45 Millionen Mark geschätzt. Wie auf einer Sondersitzung des Kreistages Rhein- Wupper am Donnerstag mitgeteilt wurde, be­laufen sich allein die Schäden am Straßennetz dieses Gebietes auf rund 750 000 DM.

sen, ein entsprechendes Verlangen an das zu­ständige Berliner Landgericht und an den Ber­liner Oberbürgermeister Reuter zu stellen.

Vor Pressevertretern erklärte Bundesjustiz­minister Dehler unmittelbar nach der Ka­binettsitzung,niemand außer den amtieren­den Richtern kann entscheiden, ob der Fall an die amerikanischen Behörden abgegeben wer­den kann. Diese Entscheidung stehe auf Grund der deutschen Gestzgebung weder dem Ber­liner Justizsenator noch dem Berliner Senat als ganzem, geschweige denn einem Bundesmini­ster oder der Bundesregierung zu.

Oberbürgermeister Reuter hatte am Don­nerstag vor dem Berliner Abgeordnetenhaus das Schreiben des amerikanischen Stadtkom­mandanten verlesen, in dem er angewiesen wurde, beim Berliner Landgericht die Auf­hebung des Kemritz-Urteils zu veranlassen. Reuter erklärte:Ich muß es ablehnen, dem Gericht Weisungen zu erteilen. Nach den Vor­schriften der Verfassung, die der Senat be­schworen habe, könne der Senat auf die Rechtssprechung der Gerichte keinen Einfluß nehmen.

BERLIN. Der 19jährige Volkspolizist Klaus Grigutsch und seine 17jährige Freundin Roswitha Hofmann sind in einem Park in Weimar bei einem abendlichen Spaziergang von unbekannten Tätern in sowjetischer Uniform überfallen und ermordet worden. Die Unbekannten haben das Mädchen vergewaltigt und als sich der 19- jährige Vopo dagegen zur Wehr setzte beide erschossen.

UTRECHT. Vertreter der evangelischen Kir­chen aus 30 Ländern, darunter auch Deutschland und Österreich, werden von morgen ab bis zum 11. August in Utrecht zur Gründung einer Welt­organisation der evangelischen Kirchen Zusam­menkommen.

STOCKHOLM. Die 16 Matrosen des polnischen Minenschiffes, die Schweden als politische Flüchtlinge um Asyl bitten wollen, müssen zur Prüfung ihrer Gesuche in Schweden bleiben. Die Besatzung des polnischen Minensuchbootes (HG 11), die ihre Offiziere vor der schwedischen Küste gefangengesetzt hatte, erklärte, sie hätte das Terrorregime in Polen und die politischen Offiziere an Bord gründlich satt.

KOPENHAGEN. Große Eismassen haben die Siedlungen an der Nordostküste Grönlands völ­lig abgeschnitten. Selbst Eisbrecher können sich keinen Weg durch die Schollen bahnen. Die Siedlungen werden von isländischen Flugzeugen mit Lebensmitteln, Post und Bekleidung ver­sorgt.

KARATSCHI. Der Ministerpräsident Paki­stans, Liaquat Ali Khan, hat am Donnerstag die Gegeneinladung seines indischen Kollegen Nehru, zu Besprechungen über Kaschmir nach Neu-Delhi zu kommen, abgelehnt. Die Lage zwi­schen den beiden Staaten ist nach wie vor gespannt.

Bund will Rundfunkhoheit

Verankerung durch Bundesgesetz

BONN. Zwischen der Bundesregierung und Vertretern der Alliierten Hohen Kommission werden Verhandlungen mit dem Ziel geführt, die Funkhoheit im Bundesgebiet auf die Bun­desregierung zu übertragen. Die Bundesregie­rung wünscht, daß die für den Funk maß­gebenden besatzungsrechtlichen Vorschriften aufgehoben werden, damit der Bund seine Funkhoheit durch ein Bundesrundfunkgesetz verankern kann. Vorerst ist lediglich beab­sichtigt, ein vorläufiges Bundesrundfunkgesetz auszuarbeiten.

In den bisherigen Gesprächen haben die Alliierten die Bedingung gestellt, daß die Frei­heit des Rundfunks voll gewährleistet bleiben müsse. Außerdem müsse die Rundfunkordnung grundsätzlich auch künftig auf der Organisa­tionshoheit der Länder beruhen.

Mit allen Mitteln

Durchbruchsversuche der FDJ

HAMBURG. Durch Betätigen der Notbremse m einem D-Zug versuchten am Donnerstag 40 mitfahrende Angehörige der verbotenen kom­munistischen FDJ bei Oberrieden, Kreis Wit- zenhausen, die naheliegende Zonengrenze ille­gal zu überschreiten. 29 konnten vom Zoll­grenzdienst festgenommen werden, die übrigen entkamen in die Sowjetzone. Mit dem gleichen Trick war schon am Mittwoch 300 Jugendlichen bei Eigenberg der Sprung über die Zonen­grenze gelungen. Eine 14jährige Gruppenfüh­rerin, die mit ihren Mädchen bei Zasenbeck ge­stellt wurde, forderte ihre Gruppe auf, sich die Gesichter der Polizeibeamten zu merken. Die Polizisten würden gehängt, wenn es soweit sei.

Keine Versdiiebuni»

Volksabstimmung am 16. September

TÜBINGEN. Staatspräsident Dr. Gebhard Müller vertrat am Donnerstag vor dem Landesvorstand der CDU die Ansicht, daß eine Verschiebung der Volksabstimmung über den Südweststaat am 16. September auf Grund der Klagen Südbadens beim Bundesverfas­sungsgericht aus rechtlichen und sachlichen Gründen nicht erforderlich sei. Die Gesetze zur Verlängerung der Landtagsperioden in Württemberg-Hohenzollem und Südbaden und zur Neugliederung Südwestdeutschlands seien ordnungsgemäß zustande gekommen. Die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Verfügung erlassen solle, erledige sich dadurch von selbst, als mit der Konsti­tuierung des Bundesverfassungsgerichts nicht vor dem 16. September zu rechnen sei.

Das Staatsministerium von Württemberg- Hohenzollem veröffentlicht im laufenden Re­gierungsblatt eine Bekanntmachung, mit der die Einzelheiten zur Durchführung der Volks­abstimmung am 16. September festgelegt wer­den.

Immer wieder Fall Kiehn

Stellungnahmen der SPD und der CDU TÜBINGEN. Die Landesvorstände der SPD und der CDU von Württemberg-Hohenzollem haben sich im Laufe dieser Woche nochmals mit dem Fall Kiehn befaßt und erneut ihre voneinander abweichenden Stellungnahmen präzisiert. Von seiten der SPD wurde insbesondere bedauert, daß das politische Wirken Kiehns in der Ver­gangenheit nicht in die Untersuchungen einbe­zogen wurde, und in Frage gestellt, inwieweit die Arbeitsplätze bei den Chironwerken in Tuttlin­gen gefährdet gewesen seien, während die CDU darauf verweist, daß der Kredit an Kiehn im Einvernehmen sämtlicher Mitglieder der Regie­rung gewährt worden sei, die Entnazifizierung Kiehns kraft Gesetz Angelegenheit eines Säube­rungsverfahrens war, die Gewerkschaftsvertre­ter sich geschlossen für die Kredithergabe an Kiehn einsetzten und keine andere Möglichkeit bestanden habe, die Chironwerke vor dem Kon­kurs zu bewahren. (Mit der Behandlung des Fal­les Kiehn im Landtag sehen wir zumindest vor­läufig diese Angelegenheit für uns als erledigt an und verzichten daher darauf, nochmals aus­führlich die zumeist längst bekannten Argumente zu wiederholen. Die Red.)

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EITE RES s3pIEL

IM NECKARTAL

Bin fröhlicher Roman von Else Jung

S] Copyrighc by Verlag Bechthold

Ich konnte Ihnen doch auf die Dauer nicht zumuten, mit einem Mädchen in Shorts her­umzulaufen, lieber Thilo.

Das war wieder reizend von Imma gewe­sen.

Sie war überhaupt ganz entzückend, und je länger sie zusammen waren, um so ver­liebter wurde Thilo Er fand es bezaubernd, daß sie sich überall, wo sie übernachteten und aßen, nach den Preisen erkundigte und diese sorgfältig in ihr Notizbüchlein einschrieb.

Warum tun Sie das, Imma?

Damit ich Ihnen alle Unkosten, die Sie für mich mit übernommen haben, auf Heller und Pfennig ersetzen kann

So stolz ist Imma von Homeck?

Stolz? Nein, ich finde das nur ganz in der Ordnung, und Sie werden sehen, daß ich Wort halte.

Thilo zweifelte keinen Augenblick daran, aber es war ihm noch nicht klar, wie Imma ihr Vorhaben in die Tat umsetzen wolle, denn sie kannte ja bis jetzt so glaubte er nur seinen Vornamen. Er ahnte nicht, wie leicht es Imma gefallen war, sein Inkognito zu lüften, und er kam nicht auf den Gedan­ken, daß Fremdenbuch und Anmeldeformulare schon im ersten Gasthof, in dem sie abge­stiegen waren, ihr seinen vollen Namen mit allem Zubehör verraten hatten.

Im Fremdenbuch hatte Imma eine Eintra­gung gefunden, die ihr ein leises Lächeln entlockte.

Thilo Falck, Kunstgewerbler. Berlin-W,

Traunsteier Straße, mit Schwester Imma Falck hatte da gestanden.

Schwester?

Der gute Thilo gab sich alle Mühe, sie un­ter den Augen des Portiers, des bedienenden Kellners und der anwesenden Gäste wie seine kleine Schwester zu behandeln.

Unter vier Augen war es jedoch ganz an­ders.

Daß Thilo verliebt war und es von Tag zu Tag weniger verheimlichen konnte, gab ihrer gemeinsamen Reise etwas Beschwingtes, des­sen Reiz sich Imma weder entziehen konnte, noch mochte.

Es bereitete ihr Vergnügen, die einmal ent­zündete Flamme im Herzen ihres Begleiters durch kleine frauliche Künste und Lockungen noch stärker anzufachen. Aber sehr bald merkte sie, daß das Spiel mit dem Feuer auch für ihr eigenes Herz nicht gefahrlos ge­blieben war.

Gestern, beim Abstieg vom Drachenfels, als sie gestolpert war und Thilo sie aufgefangen hatte mein Gott, wenn sie nur daran dachte, durchrieselte sie es wieder vom Kopf bis zu den Füßen, da war ein junges Mädchen, das bisher noch kein männliches Wesen zu küssen gewagt hatte, ganz selbstvergessen an der Brust eines jungen Mannes gelegen und hatte sich widerstandslos von ihm küssen lassen.

Nicht lange, aber die kurzen Sekunden hat­ten ausgereicht, um zu zünden.

Seit gestern sprangen die knisternden Fun­ken zwischen Imma und Thilo hin und her. Sie brauchten sich gar nicht mehr zu küssen. Schon wenn sie sich bei den Händen faßten, wenn ihre Schultern sich beim Nebeneinan­dergehen leicht berührten, blitzte es.

Unbeschwerlich süß war das, weil Imma es zum erstenmal erlebte. Sie konnte, wenn sie allein war, die Augen zumachen und davon träumen. Sie konnte sogar beim Waschen und Zähneputzen an Thilo denken, um so­gleich zu spüren, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Alles konnte sie dabei vergessen, auch

das Unerquickliche, das sie vor einer Woche von Hause fortgetrieben hatte.

Was ihre Leute wohl daheim gesagt haben mochten, als sie ihr Zimmer leer gefunden hatten?

Ob sie ihr nachspürten, in Weinsberg an­fragten, weü es nahe lag, daß sie zu Onkel Theo geflüchtet war? Ob sie sich ängstigten?

Als Imma sich über diese Fragen Gedanken machte, saß sie im Zimmer eines kleinen Gasthofes in Godesberg vor einem etwas wackligen Toilettentisch und bürstete sich die Haare.

Es war ein Regentag, der zweite, den sie auf ihrer Fahrt erlebten. Grau war der Him­mel und trübe der Rhein.

Unterdessen wartete Thilo vor dem gedeck­ten Frühstückstisch in der Glasveranda, und weil er sich langweilte, ließ er sich vom Kell­ner die Zeitungen bringen. Das größte und umfangreichste Blatt schlug er auf, las flüch­tig die Überschriften und landete schließlich bei den Stellungsgesuchen und -angeboten des Arbeitsmarktes, die ihn eine Weile beschäf­tigen.

Leider ohne Erfolg. Eine Arbeitskraft seines Faches wurde nirgends verlangt.

Plötzlich stutzte er.

Im Anzeigenteil stand etwas: Ein Aufruf.

Schwarzumrändert.

Ganz dick und auffallend.

Ein Name war Thilo förmlich in die Augen gesprungen, ein Name, der ihm bis vor kur­zem noch niemals als einem Mädchen zuge­hörig begegnet war.

Imma stand da!

Imma!

Von meiner Reise zurückkehrend, er­fahre ich, was sich während meiner Ab­wesenheit ereignet hat. Können dich nir­gends finden. Gib Nachricht oder komme sofort heim.

In großer Sorge Großmama

Thilo las die wenigen Zeilen mehrere Male. Dabei arbeiteten seine Gedanken wie toll.

Da war jemand ausgekniffen, und Groß­mama wußte sich nicht anders zu helfen als durch einen Zeitungsaufruf.

Imma!

Welche? Seine oder eine andere?

Es gab gewiß nicht so viele Immen im deut­schen Vaterlande, die wie Thilos Imma eine* schönen Sommertages in kurzen Höschen auf einen Baum flüchten mußten, weil eine sitten­strenge Kuh an dieser sonderbaren Bekleidung vermutlich Anstoß genommen hatte.

Wenn er es recht bedachte, gab es gar kei­nen Zweifel, wem diese Anzeige galt.

Voller Ungeduld schaute Thilo zur Tür, ob Imma noch nicht käme, und als sie fünf Mi­nuten später erschien, war er von ihrem An­blick so beglückt, daß er für die nächsten fünf Minuten alles andere vergaß.

Trotz des grauen Regenwetters strahlte Imma taufrisch und morgenschön.

Zeitungen am Frühstückstisch sind ge- schmacklos, Thilo, tadelte sie und biß mit weißen Zähnen in ihr Brötchen.

Aber so lies doch erst, vielleicht bist du dann anderer Meinung, drängte er und hielt ihr hartnäckig das Blatt unter die Augen,da was sagts du zu diesem Aufruf? Hast du eine Großmama, Imma?

Die angebissene Semmel fiel auf den Teller. Imma wurde ein wenig blaß.

Moment mal! Sie nahm ihm die Zei­tung aus der Hand, begann zu lesen und sank sichtbar auf ihrem Stuhl in sich zusammen.

Thilo ließ kein Auge von ihr.

Er bemerkte eine verdächtige Röte, die m ihr Gesicht stieg, und sah, daß die zierlich ge­schwungenen Nasenflügel zuckten.

Jetzt legte sie die Zeitung beiseite, biß wie­der in ihre Semmel und sagte mit gespielter Gleichgültigkeit:Honig schmeckt sehr gut, nur bekleckert man sich eklig damit die Fin­ger. (Fortsetzung folgt)