NUMMER 98

MITTWOCH. 27. JUNI 1951

Wohnungsbauprogramm 1951. .

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bau fest, es fehle zurzeit nicht nur an Geld, sondern auch an Baumaterial. Er unterstützte den Antrag, verwies dazu auf die beträcht­lichen Mittel, die sich inzwischen im Sofort­hilfefond angesaijmelt haben, und forderte das Haus auf, bei der Etatberatung daran zu den­ken, daß mindestens noch weitere 8 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau zur Ver­fügung gestellt werden müßten.

Abg. Dr. Leuze (DVP) und Gen. hatten den Antrag gestellt, wegen der Freilassung des im interalliierten Gefängnis in Spandau in Haft gehaltenen Freiherr v. Neurath an die Bundes­regierung heranzutreten. Leuze begründete die­sen Antrag eingehend damit, daß v. Neurath heute 79 Jahre alt, herzkrank und fast ver­bündet sei und an den Folgen einer Operation leide. Wohl verstehe man heute nicht, wie v. Neurath auch 1939 noch im Amt habe blei­ben und später sogar das Protektorat Böhmen und Mähren übernehmen können, doch könne es sich nicht darum handeln, aus diesem An­trag eine Art von Gerichtsverhandlung zu ma­chen. Die drei Alliierten Hohen Kommissare hätten erklärt, daß sie gegen eine Haftentlas­sung nichts einzuwenden hätten, wenn auch die russische Besatzungsmacht zustimme. Dr. Leuze appellierte an das Haus, sich für die Entlassung v. Neuraths einzusetzen, bevor der Inhaftierte sterbe. Das sei eine elementare For­derung der Menschlichkeit.

Abg. Prof. Dr. Karl S c h m i d rief dem Red­ner zum Schluß seiner Darlegungen zu:Das war ein falscher Tonfall. Minister Renner ergänzte diesen Zuruf:Das ist doch auch eine Frage der Propaganda. Abg. Gog (CDU) stellte den Gegenantrag, eine Intervention nicht zu beschließen. Die CDU stehe auf dem Standpunkt, daß, so bedauerücfa die Aufrecht­erhaltung der Haft bei Haftunfähigkeit auch sei, im Falle von Neurath genug geschehen sei, da der Landtag von Württemberg-Baden, in dessen Gebiet v. Neurath geboren sei und sei­nen Wohnsitz habe, bereits interveniert habe. Man müsse auch daran denken, daß noch zahl­reiche andere Personen und viele Tausende von Kriegsgefangenen wegen geringfügigerer An­schuldigungen in Haft gehalten werden. Abg. Prof. S c h m i d sprach sich gegen den Antrag aus, nicht, weil er, Schmid,unmenschlicher sei als Dr. Leuze und den 79jährigen v. Neurath nicht aus der Haft entlassen sehen möchte, sondern weil viele Tausend von Dienstverpflich­teten, die im Dritten Reich automatisch schul­dig werden mußten, noch in den Zuchthäusern der Welt schmachteten. Innenminister Ren­ner war der Auffassung, daß auch die Parla­mente sich an die Zuständigkeit halten sollten. Die Frage, ob die Parlamente im Falle v. Neu­rath Einfluß nehmen könnten, sei eine Frage des Bundes. Es möge noch hingehen, daß Würt­temberg-Baden Einfluß genommen habe, weil v. Neurath im Lande geboren sei und auch dort seinen Wohnsitz habe. Die Abstimmung ergab eine Mehrheit für den Antrag Gog, den

Antrag Dr. Leuze von der Tagesordnung ab­zusetzen.

Weiter hatten Abg. Leuze und Genossen eine kleine Anfrage über den Prozentsatz der mit Flüchtlingsbeamten besetzten Planstellen und der auf Flüchtlinge entfallenden Summe der Beamtengehälter gestellt. Das Finanzministe­rium beantwortete durch seinen Sprecher die Anfrage dahingehend, daß sich nach einer im Sommer 1950 angestellten Erhebung ein Plan­stellenanteil von 5,19 Prozent und ein Anteil an Besoldungsaufwand yon 11,41 Prozent für die Unterbringungspflichtigen ergeben habe. Diese Zahlen seien aber inzwischen überholt. Eine Neuberechnung der Pflichtanteile auf Grund des endgültigen Gesetzestextes sei noch nicht durchgeführt. Sie solle einheitlich für den 1. 7. 1951 im gesamten Bundesgebiet nach be­sonderen vom Bundesministerium des Innern bekanntgegebenen Richtlinien erfolgen.

Dem Hause lag dann noch die erste, zweite und dritte Beratung eines Gesetzes über den Abschluß eines Staatsvertrages zwischen den Ländern Baden und Württemberg-Hohenzol- lem über die Behandlung land- und forstwirt­schaftlicher Grenzgrundstücke ob, das einstim­mig angenommen wurde; ferner in erster, zwei­ter und dritter Beratung ein Landesgesetz

über Personalausweise, das ebenfalls einstim­mig angenommen wurde. Eine erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Einwohnersteuerordnung wurde dem Finanz­ausschuß zur Weiterberatung zugewiesen. Schließlich wurde die erste, zweite und dritte Beratung eines zweiten Gesetzes über den Ab­schluß der politischen Säuberung fortgeführt und das Gesetz angenommen. Es bezweckt eine weitere Vereinfachung der Organe und des Verfahrens der politischen Säuberung. Nach ihm wird der Untersuchungsausschuß durch den Untersuchungsführer ersetzt. Die Beset­zung der Spruchkammer wird verringert; der politische Beirat wird aufgehoben. Anträge auf Einleitung oder Wiederaufnahme eines Säube­rungsverfahrens können nur noch innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten des Gesetzes gestellt werden. Daraus ergibt sich, daß etwa drei Monate nach dem Inkrafttreten dieses Ge­setzes die Aufgaben des Staatskommissars für die politische Säuberung im wesentlichen be­endet sein werden. Die noch verbleibenden Aufgaben können von einem Ministerium über­nommen werden, wozu das Gesetz das Innen­ministerium vorschlägt.

Die für die 106. Sitzung des Landtags vor­gesehene Berichterstattung des parlamentari­schen Untersuchungsausschusses zur Klärung der Angelegenheit Kiehn. Trossingen. wurde zurückgestellt.

Amerikanische Waffenhilfe

Halbjahresbericht Trumans / Zensuren der Empfängerländer

WASHINGTON. In seinem letzten Halbjah­resbericht über das amerikanische Waffen- hilfsprogramm an den Kongreß stellt Präsi­dent Tr um an fest, daß die amerikanischen Lieferungen den Empfängervölkem den Rük- ken gegen jede Aggression gestärkt hätten.

Der Bericht bietet eine Übersicht über die Verteidigungsbemühungen der einzelnen Staa­ten. Es ergibt sich folgendes Bild: Frankreich erhält als Schlüsselland der europäischen Ver­teidigung die bedeutendsten Waffenlieferun­gen. Die Kapazität der Rüstungsindustrie ist noch nicht restlos ausgenützt. Die italienischen Streitkräfte haben beinahe ihr im Friedens­vertrag festgelegtes Maximum von 300 000 Mann erreicht, jedoch lassen Ausbildung und Ausrüstungen noch zu wünschen übrig.

Das umfangreiche Aufrüstungsprogramm

Großbritanniens findet volle Anerkennung. Bei Belgien und Luxemburg läßt die Ausnützung der Rüstungsindustrie zu wünschen übrig. Bei Dänemark werden Verzögerungen in der Ver­wendung des von den Vereinigten Staaten ge­lieferten Materials kritisiert, doch wachse das Vertrauen der Bevölkerung zum Atlantikpakt. Norwegen stehe voll hinter dem Atlantikpakt. Das Heer benutzt amerikanische Waffen und wird vergrößert. In Portugal befindet sich die amerikanische Waffenhilfe noch im Vorberei­tungsstadium.

Bei der Türkei macht die Modernisierung und Vergrößerung der Streitkräfte gute Fort­schritte. Das gleiche gilt für Griechenland. In Persien läuft die Waffenhilfe erst an. Das Land sei sehr stark der kommunistischen Propa­ganda ausgesetzt und fühle sich daher unsicher.

Kleine Weltchronik

Briten überprü-en Urteile

Gnadenakte für Werlgefangepe BONN. Die Überprüfung der Urteile, die gegen deutsche Staatsangehörige wegen Kriegsverbrechen von britischen Militärgerich­ten verhängt wurden, steht kurz vor dem Ab­schluß. Bei den Überprüfungen handelt es sich um eine Entscheidung über die von den Ver­teidigern eingereichten Gnadengesuche und nicht um ein Revisionsverfahren. Wie be­kannt wird, betreffen die Untersuchungen 200 Männer und 17 Frauen, die im Zuchthaus Werl ihre Strafen verbüßen.

Die prominentesten Gefangenen in Werl sind die ehemaligen Feldmarschälle Albert Kesselring und Erich v. Manstein, die ehemaligen Generalobersten Eberhard v. Mackensen und Nikolaus v. Falken- hörst, die alle noch eine Strafzeit von 6 bis 10 Jahren zu verbüßen haben.

MÜNCHEN. Vom Flugplatz München-Riem aus startete am Montag die 105 Jahre alte heimatlose aus Polen stammende Paulina Wilsdorf nach den USA. Sie hofft, dort eine neue Heimat zu finden.

ANSBACH. Hagelschläge haben am vergange­nen Wochenende in Mittelfranken durch strich­weise Vernichtung der ganzen Ernte Millionen­schäden angerichtet.

FRANKFURT. Unter dem Vorsitz des franzö­sischen Sozialisten Salomon Grumbach trat am Montagabend in Frankfurt eine internationale Kommission zusammen, um eine Prinzipien­erklärung des demokratischen Sozialismus vor­zubereiten. Der Entwurf soll der achten inter­nationalen sozialistischen Konferenz, die vom 30. Juni bis 3. Juli tagen wird, zur Annahme vor­gelegt werden.

FRANKFURT. Das amerikanische Hohe Kom­missariat gab in Frankfurt bekannt, daß die Zahl der ständigen Amerikahäuser auf 15 herab­gesetzt werden soll. Daneben sollen drei Ameri­kainstitute, die in deutschen Universitätsstädten den Amerikahäusern angegliedert sind, 35 Zweig­büchereien und 20 fahrbare Büchereien bestehen. Amerikahäuser werden künftig in München, Nürnberg, Stuttgart, Mannheim, Frankfurt, Kas­sel, Mainz, Fredburg, Bonn, Köln, Hannover, Hamburg, Essen, Bremen und Berlin unterhalten.

BONN. Die politische Öffentlichkeit Bonns be­schäftigt sich zurzeit mit der Frage, ob der ehe­malige Fallschirmjägergeneral Ramcke eine füh­rende Rolle in der Bundesrepublik übernehmen soll, da er als unbelasteter und sehr populärer General eine Art Gegengewicht zu dem nationa- Ustischen Einfluß der Remergruppe werden könnte. Nach Angabe des Bundesjustizministeri­

ums will Ramcke sich zunächst umnichts ande­res als um seine Familie kümmern.

HAMBURG. Der unter dem Namenlanger Heinrich bekannte deutsche 350-t-Schwimmkran ist vor der Westküste von Jütland gekentert und gesunken. Der Kran war von den Engländern als britische Kriegsbeute an Frankreich verkauft worden. Französische Buxierdampfer sollten ihn nach Frankreich bringen.

BERLIN. Nach Angaben der Sowjetzonen- Agentur ADN soll die deutsche Staatsoper unter den Linden in Ostberlin wieder aufgebaut wer­den.

PARIS. Der Bruder des Generals Charles de Gaulles, Pierre de Gaulle, wurde am Montag wie­derum zum Bürgermeister von Paris gewählt.

ROM. Der Interimsausschuß der sechs Schu- manplanländer trat am Montag in Rom zu seiner zweiten Sitzung zusammen, um in einigen unter­geordneten Fragen eine Übereinstimmung zu su­chen, die bei Unterzeichnung des Montanunion­vertrags noch offengeblieben waren. Die Bundes­republik ist durch Prof. Hallstein vertreten.

TOKIO. Ein Mitarbeiter des amerikanischen Sonderbotschafters John Foster Dulles erklärte in Tokio, der 1. September sei als äußerster Ter­min für die Unterzeichnung des japanischen Frie­densvertrags in Aussicht genommen. Der derzei­tige Entwurf sehe keine militärischen oder wirt­schaftlichen Einschränkungen für Japan vor. Die vorgesehenen Reparationssummen würden nicht sehr hoch sein. Alle Staaten, die sich noch im Kriegszustand mit Japan befänden, werde man einladen, den Vertrag zu unterzeichnen.

NEW YORK. Die erste farbige Fernsehauffüh­rung der Welt fand am Montag in New York statt.

Verewigung der Fdmki in ?.

cz. Vorige Woche befaßte sich der Bundes­tag einmal mehr mit der permanenten deut­schen Filmkrise. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Die Hilfestellung für un­sere Filmproduktion, wie sie in der Vergangen­heit in Form von Ausfallbürgschaften, also mit Hilfe von Steuergeldern, getätigt wurde, hat keinerlei genießbare Früchte eingebracht. Das Niveau blieb unter dem Erträglichen. Nun will man, um dienationale Filmproduktion zu unterstützen, den Filmtheatern auferlegen, im Vierteljahr an mindestens 21 und höchstens 35 Tagen deutsche Filme zu spielen, ohne Rück­sicht auf Verluste. Wir nehmen es den Kino- besitzem nicht übel, wenn sie sich dagegen wehren, zumal sie doch in der Mehrheit immer bereit waren und sind, dem deutschen Film den Vorzug zu geben. Einen Zwang hier auszu­üben, hieße aber, eines Tages auch noch die Theater mit Steuernachlässen subventionieren zu müssen, wenn es nicht gelingt, das Niveau der deutschen Filmproduktion zu heben und sie international konkurrenzfähig zu machen. 40 Millionen an Deviseneinnahmen erbrachten früher einmal im Jahr unsere Filme. Das war einmal!

Heute sind wir, den Kulturfilm ausgenom­men, in jeder Sparte dem Ausland hoffnungs­los unterlegen. Der künstlerische Film hat keine Heimat mehr bei uns. Mag auf anderen Gebie­ten die Hilfe des Staates, und sei es nur mit Gesetzen, gerechtfertigt sein, die Filmkrise, die zuallererst ein künstlerisches Problem ist, kann auf diese Weise nicht gelöst werden. Von dem Quotengesetz würden erneut nur die reinen Geschäftemacher profitieren. Da halten wir es für wesentlich klüger, begabte Drehbuch­autoren entsprechend zu unterstützen, die Kön­ner unter unseren Regisseuren zu fördern und auf den genannten Gebieten wie bei den Schau­spielern dem begabten Nachwuchs pflegliche Behandlung angedeihen zu lassen. Es ist nicht einzusehen, warum das Kinopublikum Talent- losigkeit und Geschäftstüchtigkeit finanzieren soll. Dann schon lieber eine sorgfältige Aus­wahl ausländischer Filme. Die Erhaltung einer nationalen Filmproduktion, unabhängig von dem was sie bietet, erscheint uns sinnlos, eben weil wir darauf warten, wieder gute deutsche Filme sehen zu können.

Oelproduktion wird sliiigelegt

ABADAN. Die Anglo-Iranian-Oil-Company hat gestern bekanntgegeben, daß sie gezwun­gen sei, die Ölproduktion in-Kürze einzustel­len. Das Bitumenwerk der Gesellschaft, das Asphalt- und Straßenteer herstellt, ist bereits am Montag geschlossen worden.

Gegenwärtig liegen 25 Tanker im Hafen von Abadan fest, die auf Grund der Verfügungen der neuen persischen nationalen Ölgesellschaft kein öl mehr bunkern können. Ihre Zahl ver­mehrt sich täglich um etwa fünf bis sechs wei­tere Schiffe. Nach Schätzungen der Anglo- Iranian kostet die Wartezeit bereits etwa 1000 Pfund pro Tag.

Alle Lager- und Vorratstanks der Anglo- Iranian sind bis zur äußersten Aufnahmefähig­keit gefüllt. Da die Tanker kein öl mehr la­den, muß die Produktion eingestellt werden.

Einer der drei vorläufigen Direktoren der neuen persischen Ölgesellschaft, D a f t e r 1, erklärte am Montag, daß Persien keinesfalls eine einstweilige Verfügung des internationa­len Gerichtshofes im Haag gegen die Ver­staatlichung anerkennen werde. In Angelegen­heiten der Souveränität Persiens sei der Ge­richtshof nicht zuständig.

Friedrich Wilhelm Lübke

KIEL. Der CDU-Landesvorsitzende Landrat Friedrich Wilhelm Lübke, wurde am Mon­tagnachmittag im dritten Wahlgang vom Kie­ler Landtag zum neuen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins gewählt. Die für die bei­den ersten Wahlgänge notwendige absolute Mehrheit konnte Lübke nicht erreichen.

Der bisherige schleswig-holsteinische Mini­sterpräsident, Dr. Walter B a r t r a m (CDU), war am Montag zurückgetreten.

A

Der verschlossene MUND

Roman von Doris Eicke

Alle Redite Verl&gskaus Reutlingen

Andrea tanzte leidenschaftlich gern, aber wie lange hatte sie dazu keine Gelegenheit mehr gehabt. Allein in ein solches Lokal zu gehen, fehlte ihr der Mut, und selbst ihre abendli­chen Spaziergänge mußte sie meistens abbre­chen, weil sie irgendein abenteuerlustiger Kurgast aufs Korn nahm. Sie schienen alle zu glauben, daß sie zu keinem anderen Zwecke, als Anschluß zu suchen, hier herumlief. Am Tage war es besser; so grotesk es klang, so war doch Detlev ein gewisser Schutz vor sol­chen unwillkommenen Annäherungen. Einmal hatte sie beim Platzkonzert Doktor Tillmann getroffen, und sie waren zusammen auf und ab gegangen und hatten sich über Musik un­terhalten. Seine anschließende Einladung zu einer Erfrischung hatte sie freundlich aber bestimmt abgelehnt.

An diesem Abend war Voümond und ein wenig kühl, da der Wind aufgefrischt hatte. Zeitiger als sonst verzogen sich die Kurgäste ln die licht- und wärmedurchfluteten Lokale, Andrea war ein paarmal langsam durch die Lindenallee geschlendert, die hinter der Strandhalle durchführte. Die alten Bäume waren so dicht belaubt und standen so nah beieinander, daß ihre Kronen sich berührten und es in ihrem Schatten trotz der Mondnacht dunkel war- Andrea wunderte sich, daß hier keine Bänke standen, es wäre ein Eldorado für Liebespaare gewesen; aber auch sie emp­fand die Geborgenheit dieses Dunkels ange­nehm. Zuweilen machte sie unwillkürlich ein paar tanzende Schritte zu den Rhythmen der Musik, es sah sie hier ja niemand, und ganz langsam gingen sie ihr ins Blut, daß sie

davon wie berauscht wurde. Ach, einmal wie­der tanzen, einmal wieder fröhlich sein dür­fen! Was Niels wohl heute abend machte? Er hatte ihn Berlin einige Kameraden getroffen und scheinbar angenehme und lustige Ge­sellschaft. Ach die Männer hatten es gut, die konnten hingehen, wohin sie wollten, kamen nicht so leicht in einen falschen Verdacht und hatten darum nicht diese dummen Hemmun­gen. Er schrieb ihr ziemlich häufig, manchmal auch nur Karten, mit zahlreichen fremden Unterschriften. Immer aber befand sich unter den manchmal wechselnden, manchmal glei­chen Namen ein wie mit Tusche hingemalter, zierlicher Gruß:Ergebenst Ihre Renate R. oderIn fröhlichem Gedenken grüßt Sie Re­nate R. Wer mochte das wohl sein? Aus ih­rer sonderbaren Gewohnheit, ihren Familien­namen niemals auszuschreiben, schloß Andrea scharfsinnig, daß es sich um ein ganz junges Mädchen handeln müsse, das noch gewohnt sei, mit dem Vornamen angeredet zu werden. Gestern schrieb Niels, daß er mit der reizen­den Renate einen langen Spaziergang durch den Grunewald gemacht habe. Er sei am Sonn­tag zu ihrer Mutter zum Mittagessen einge­laden und freue sich, häuslich wie er nun ein­mal sei, auf dieses unverhoffte Stück Fami­lienidyll.

Andrea war ein wenig neugierig aufdiese reizende Renate, eifersüchtig war sie dage­gen nicht. Wenn Niels zwei Monate allein in Berlin blieb, war es ihm zu gönnen, daß er nette Gesellschaft fand. Der gleiche Wunsch für sie selber fand sich auch in allen seinen Briefen:Genieße diese Wochen, Andry. Geh aus, wenn Du nette Gesellschaft findest, und sei einmal unbeschwert vergnügt, Du hast ein Anrecht darauf. Andrea seufzte, wenn sie daran dachte; Niels hatte gut reden. Wie sollte sie, eine alleinreisende Frau, es anstellen, die passenden, zugleich reizvollen und doch zu nichts verpflichtenden Bekanntschaften zu ma­chen? Männer kennen zu lernen, war leicht, aber was waren das für Männer? Sie suchten

einen leichtfertigen und möglichst weitgehen­den Flirt für ein paar Ferientage. Sie aber war eine verheiratete Frau, die ihren Mann liebte und ihm treu sein wollte, außerdem tagsüber durch die Bewachung ihres wilden, kleinen Buben in Anspruch genommen. Das verringerte ihren Anspruch wesentlich. Andrea wußte, daß sie eine hübsche Frau und gut ge­wachsen war, und daß es ihr leicht fiel, zu gefallen, wenn sie nur wollte; aber eben es lohnte nicht recht, das zu wollen.

Das Orchester in der Strandhalle spielte jetzt einen langsamen sehnsüchtigen Tango, der Andrea das Herz verwirrte. War sie nicht noch jung, noch hübsch, und war es nicht na­türlich, daß sie so gerne leben wollte? Nicht auf Unrechte Weise, nicht leichtsinnig, aber doch leben. Sie liebte Niels und sehnte sich nach seiner Liebe, nicht mehr so unbändig, so leidenschaftlich wie früher, nein, müder, matter und schon mit halber Gewöhnung an den Verzicht. Nein, sie wollte hier nicht län­ger herumschlendern und auf diese aufrei­zende Musik hören, die Sehnsüchte weckte, die unstillbar blieben. Sie wollte nach Hause gehen, schlafen und morgen früh wieder kühl und vernünftig aufwachen, dankbar, daß sie diese Wochen an der See mit ihrem Kinde ge­nießen durfte.

Mit diesem Entschluß trat Andrea aus dem Dunkel der Bäume wieder in den hellen Mond­schein hinaus, der sie fast blendete, so gleißte er auf der leichten Dünung des Meeres. Der Strand, an dem sie entlang schritt, war men­schenleer. Andrea spürte voller Schrecken, daß sie jetzt fähig wäre, etwas Törichtes zu be­gehen, vielleicht sogar etwas Ungeheuerliches; ja, daß sie unbedingt etwas tun mußte, irgend etwas, um sich von diesem wilden Verlangen nach dem Leben zu befreien, das sie wie ein Fieberschauer schüttelte. Eine Sekunde stand sie still und starrte über die See hin. Das gab es also, dieses fast wehrlose Aufgeschlossen­sein, diesen unbändigen Ruf nach einem Er­lebnis, und es war nur ein Zufall, ob dieser

Ruf im Nichts verhallte oder irgend etwas an sich zog, dem man vielleicht im Bann dieser verzauberten Stunde erlag.

Auf einmal trat Andrea vom gepflasterten Strandweg in den Sand der Düne, und kaum fühlte sie ihn weich unter den Sohlen, als sie auch schon wieder vorwärtsgeschnellt dahin­jagte, ans Wasser hinunter und an ihm ent­lang, bis sie zu ihrem Strandkorb gelangte. Sie zog aus dem Sitzkasten ihren Badeanzug hervor und riß sich wie im Fieber die Klei­der vom Leibe. Sie wollte hinein ins kühle Naß und weit, weit hinausschwimmen, bis sie müde und schlafsüchtig ans Land taumeln würde. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, die Badekappe überzuziehen, sondern lief ge­gen den Wind an zur Wasserlinie, und ihr dunkles Haar flatterte hinter ihr drein. Das Antlitz mit geschlossenen Augen dem Mond­licht zugewandt, watete sie wie eine Schlaf­wandlerin durch das seichte Wasser des Ufers, um sich dann mit einem kleinen Seufzer der Wollust in die tiefe Flut zu stürzen, die sie schmeichelhaft umschloß. Während sie mit gleichmäßigen, weit ausholenden Stößen hin­ausschwamm, wurde sie ruhiger, ihre Brust atmete gleichmäßiger, und der wilde Druck auf ihr sehnsüchtiges Herz ließ nach. Sie warf sich auf den Rücken und schaute zu, wie der Mond ihre schmale Gestalt versilberte und wie von den erhobenen Händen blinkende Tropfen niederfielen. Sie blinzelte hinauf zu dem milden Gestirn und lächelte ein wenig: Danke, guter Mond! Und gleich darauf:Ach Niels, wärst Du jetzt bei mir!

Plötzlich Andrea hatte schon an Rück­kehr gedacht, da sie die ersten Anzeichen von Müdigkeit spürte tauchte in ihrer Nähe mit keuchendem Atem der Kopf eine* Mannes auf und zerriß ihre glückliche Ein­samkeit. Andrea erschrak maßlos, ja ihre Glieder wurden einen Augenblick so schlaff, daß sie die Herrschaft über sie verlor und sich sinken fühlte. (Fortsetzung folgt)