NUMMER TO
MinWOOH, 9 . MAI 1851
Bemerkungen zum Tage
Warnzeichen
cz. Wie nicht anders zu erwarten, befaßte sich die ganze westeuropäische Presse mit dem Ergebnis der Landtagswahlen in Niedersachsen. Mögen auch manche Schlußfolgerungen, die angesichts des Phänomens, daß die neonazistische „Sozialistische Reichspartei“ (RPS) elf Prozent aller Wähler hinter sich bringen konnte, in ihrer Verallgemeinerung zu weit gehen, grundsätzlich sind wir nicht weniger erschrocken über das Ausmaß der Rechtsradikalisierung in einem Bundesland. Gewiß, es wurden Erscheinungen dieser Art sonst noch nirgends in der Bundesrepublik beobachtet und wir hoffen, daß das niedersächsische Beispiel keine Schule macht. Was uns aber erschüttert ist, daß bereits sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des vieler Verbrechen überführten NS-Regimes eine Partei, die „das Gute des Nationalsozialismus“ zu ihrem Programm erhebt, überhaupt Anhänger findet. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, daß die Entwicklung in den Jahren nach der Kapitulation unter alliierter Hoheit in Deutschland einen Verlauf nahm, der der Radikalisierung mitunter geradezu Vorschub leistete. Insoweit haben die Besatzungsmächte allen Grund, nicht zu laut von der Unbelehrbarkeit der Deutschen zu sprechen. Von der Ent- bis zur Renaziflzie- rung — so könnte man sagen — ist der Weg gar nicht allzuweit. Vorschub leistet, wie wiederholt festgestellt, dem Neonazismus auch die maßlose Polemik Schumachers, der — ungewollt — den Neonazisten fortgesetzt die nationalistischen Parolen liefert. Wir können uns aber trotzdem nicht vorstellen, daß die ideologischen Plattheiten eines Exgenerals von Hitlers Gnaden, Remer, ausreichen, um den Zulauf zu der SRP zu erklären.
Vielmehr möchten wir annehmen, daß nur eine Wirtschaftspolitik der Regierung, die den gefährdeten sozialen Frieden sichert, und ein fortgesetztes Bemühen um die Senkung der Besatzungslasten bzw. des vorgesehenen Verteidigungsbeitrags, der den Bundeshaushalt übermäßig belastet, eine weitere Ausbreitung der Rechtsradikalisierung verhindern können. Insoweit werden auch die Westmächte etwas zur Abwehr neonazistischer Strömungen beitragen können, als sie die Bundesrepublik von Belastungen verschonen, denen sie nicht gewachsen ist. Von den an sich zu begrüßenden Verboten rechtsradikaler Organisationen allein ist nicht viel zu erhoffen.
Koalition SPD-BHE in Niedersachsen?
Wahlsieger bei Landtagswahl BHE und SRP / SPD bleibt stärkste Partei
HANNOVER. Nach dem nunmehr vorliegenden Endergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen haben alle alten Parteien einen Teil ihrer Stimmen an die neueren Parteien, vor allem den BHE, der auch in Niedersachsen zum erstenmal Kandidaten für die Wahl aufgestellt hat, abgeben müssen. Bemerkenswert ist die hohe Stimmenzahl von 11 Prozent, die die Sozialistische Reichspartei auf sich vereinen konnte.
Von den 4,5 Millionen Wahlberechtigten haben 76 Prozent ihre Stimmen abgegeben. Die SPD ist mit 33,7 Prozent der Stimmen nach wie vor die stärkste Partei im neuen Landtag. Alle bisherigen Minister der SPD einschließlich Ministerpräsident Hinrich Kopf wurden in ihren Wahlkreisen wiedergewählt. Die übrigen Stimmen verteilen sich wie folgt: Niederdeutsche Union (CDU/DP) 23,8 Prozent, FDP 8,4 Prozent, KPD 1,8 Prozent, Zentrum 3,3 Prozeit, SRP 11 Prozent und DRP 2,2 Prozent. Von den 158 Sitzen im neuen Landtag entfallen auf die SPD 64, die Niederdeutsche Union 35, den BHE 21, die Sozialistische Reichspartei 16, die FDP 12, das Zentrum 4, die Deutsche
Reichspartei 3, die KPD 2 und die Deutsche Soziale Partei 1 Sitz
In politischen Kreisen der Landeshauptstadt wird angenommen, daß sich der BHE zusammen mit dem Zentrum zu einer Koalition mit der stärksten Partei, der SPD, bereitfinden wird. Die Nachricht über das unerwartet gute Abschneiden der SRP hat in alliierten Kreisen eine gewisse Bestürzung hervorgerufen. In privaten Gesprächen gaben einflußreiche alliierte Beobachter ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck, daß eine Partei so viele Stimmen mit einem Programm gewinnen konnte, das „demjenigen Hitlers so ähnlich ist“. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, daß an ein Verbot der Partei durch die Alliierten gegenwärtig nicht gedacht sei. '
Gleichzeitig mit der Landtagswahl wurde in Hannover die durch den Tod des SPD-Bundes- tagsabgeordneten Bruno Leddin notwendig gewordene Nachwahl für den Bundestag durchgeführt. Mit 67 854 von 134 000 gültigen Stimmen wurde der SPD-Kandidat Egon Franke als Leddins Nachfolger in den Bundestag gewählt.
Straßburg geht an die Arbeit
Westeuropäische Bürgermeister und Gemeinderäte bei Spaak
STRASSBURG. In Straßburg begann diese Woche das eigentliche Arbeitsprogramm der Beratenden Versammlung des Europarates, die den Willen erkennen läßt, sich auf wesentliche Dinge zu konzentrieren und sich nicht wieder in endlose Debatten zu verlieren. Im Mittelpunkt stand die Erklärung des holländischen Außenministers S t i k k e r, die in folgenden Gedanken gipfelte: Der Europarat muß mit der atlantischen Gemeinschaft Fühlung nehmen; Verfassungs- und Verfahrensfragen müßten zurücktreten; die praktischen Aufgaben, für die der Schumanplan und die Arbeit der OEEC Beispiele sind, müssen rasch angefaßt werden.
„Wir haben das Gefühl, daß man uns jetzt wirklich in jeder Beziehung als gleichwertigen Freund betrachtet, den man achten soll“, er
klärte der CDU-Abgeordnete P ü n d e r am Ende der Montagsitzung. Bundeskanzler Dr, Adenauer vertrat in einem Interview die Ansicht, daß die europäische Gemeinschaft für Kohlen und Stahl nur auf dem Hintergrund des allgemeinen politischen Willens denkbar gewesen sei, der seinen Ausdruck in der Straßburger Versammlung gefunden habe. Mit der Zeit müsse man die verschiedenen europäischen Einrichtungen vereinfachen Eine Delegation westeuropäischer Bürgermeister und Gemeinderäte, darunter auch der Oberbürgermeister von Ravensburg, Dr. Sauer, versicherten bei einem Besuch in Straßburg dem Präsidenten der Beratenden Versammlung, Paul Henry Spaak, ihre volle Unterstützung bei der Verwirklichung eines Vereinigten Europas.
Kleine Weltchronik
Landtagsitjung am 17. Mai
BEBENHAUSEN. Der Landtag von Würt- temberg-Hohenzollem wird sich in seiner 105. Sitzung am 17. Mai zweimal mit der Frage der Remilitarisierung befassen müssen. Die KPD-Fraktion hat neben einer großen Anfrage wegen des Verbots einer Versammlung gegen die Remilitarisierung in Schwenningen einen Initiativ-Gesetzentwurf eingebracht, der eine Volksbefragung über die Remilitarisierung im Lande Württemberg-Hohenzollem vorsieht. Auf der Tagesordnung stehen ferner große Anfragen wegen der Versorgung mit Baustoffen, der steuerlichen Behandlung der Kindergärten und der Besatzungsschäden der Stadt Freudenstadt, sowie zwei Gesetzentwürfe über den Haushaltsnachtrag und über den Abschluß eines Staatsvertrags mit Württemberg-Baden zur Errichtung "eines gemeinsamen Landesversorgungsamtes.
Regentage werden nicht berechnet
KOPENHAGEN. Ein Hotel in einem Seebad bei Kopenhagen ist auf eine originelle Idee gekommen, seinen Gästen den Urlaub im Frühling und Frühsommer besonders anziehend zu machen. An Regentagen brauchen die Besucher weder für ihre Mahlzeiten noch für ihre Unterkunft zu bezahlen. Voraussetzung für diese Regelung, die für die Zeit vom 15. ]Mai bis 15. Juni gilt, ist allerdings, daß der Regen an den betreffenden Tagen mindestens vier Stunden lang fällt.
FREIBURG. Der badische Landtagspräsident Karl Person hat gesprächsweise angedeutet, daß er das sog. Bonner Blitzgesetz zum Anlaß nehmen wolle, von seinem Amt im Landtag zurückzutreten.
MAINZ. Noch in dieser Woche werden die offiziellen Verhandlungen über die Regierungsbildung ln Rheinland-Pfalz zwischen CDU und FDP und zwischen CDU und SPD aufgenommen.
FRANKFURT. Der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes forderte auf einer Sitzung in Frankfurt in einer Entschließung, daß die zugesagte Aufbesserung der Beamtengehälter um mehr als 15 Prozent „umgehend verwirklicht“ werde.
WAHN. Der Oberbefehlshaber der Atlantikpaktstaaten, General Dwight D. Eisenhower, befand sich am Montag zu einer Besichtigung der in Westdeutschland stationierten belgischen Truppen für einige Stunden in der Bundesrepublik. Anschließend flog er nach Brüssel weiter.
DUISBURG. Der Generalbevollmächtigte für das Vermögen des kürzlich in Argentinien gestorbenen deutschen Großindustriellen Fritz Thyssen, Dr. Ellscheid, teilte am Montag mit, daß das gesamte Thyssen-Vermögen der deutschen Wirtschaft und dem Wiederaufbau der Au- gust-Thyssen-Hütte zugeführt werden solle.
AURICH. Die Regierung des Regierungsbezirks Aurlch dementiert eine durch die deutsche Presse gelaufene Meldung, wonach sie vom niedersächsischen Innenministerium eine strafrechtliche Verfolgung des SPD-Vorsitzenden Dr. Schumacher wegen beleidigender Ausdrücke in seinen Wahlreden gefordert habe.
HANNOVER. Die Bundesgartenschau in Hannover, die vor einer Woche eröffnet wurde, ist bisher von über 100 000 Personen besucht worden.
KOPENHAGEN. König Frederik und Königin Ingrid von Dänemark sind am Dienstagnachmittag zu einem viertägigen Staatsbesuch in England eingetroffen.
PORTSMOUTH. Von dem seit dem 17. April vermißten britischen Unterseeboot „Affray“, das vermutlich mit 75 Mann an Bord bei einer Tauchübung vor der englischen Südküste gesunken ist, wurde trotz umfangreicher Suchaktionen noch immer keine Spip- entdeckt.
WASHINGTON Das frühere deutsche Botschaftsgebäude in Washington, das beim Kriegseintritt Amerikas als „feindliches Eigentum“ beschlagnahmt worden war, wird jetzt für 165 200 Dollar (etwa 694 000 DM) an einen Autohändler aus Philadelphia verkauft.
WASHINGTON. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben am Montag ihre Verhandlungen über eine Regelung der sowjetischen Schulden aus dem Leih- und Pachtabkonsmen in Höhe von 10,8 Miliarden Dollar abgebrochen.
ALBUQUERQUE (New Mexiko). Ein sechsmotoriger Großbomber der amerikanischen Luftwaffe vom Typ B 36 ist bei der Landung auf dem Militärflugplatz Klrtland verunglückt. 23 von den 25 Besatzungsmitgliedern haben dabei den Tod gefunden. Eis war dies der fünfte Unfall "einer B 36, seit dieser Typ bei der amerikanischen Luftwaffe verwendet wird.
SAN SALVADOR. Von der zur Bahma-Gruppe gehörenden Insel Salvador wurden am Dienstag neue Erdstöße gemeldet, nachdem erst am Sonntagabend bei einem vernichtenden Erdbeben allein in der Stadt Jucuapa schätzungsweise 1000 Menschen ums Leben gekommen sind. Das neue Erdbeben wird als das schwerste in der Geschichte der Insel angesehen.
Kampfpause hält an
Begrenzte Vorstöße nach Norden
TOKIO- Die Kampfpause an der Koreafront, die in der vergangenen Woche begann, als die kommunistische Frühjahrsoffensive zum Stehen kam, hält immer noch an. Süd- koreanische Truppen unternahmen am Dienstag nordwestlich von Seoul begrenzte Vorstöße. Die alliierten Truppen, die langsam wieder nach Norden vorrücken, haben bereits wieder annähernd die Hälfte des bei der kommunistischen GroßofEensive verlorengegangenen Geländes nördlich von Seoul zurückgewonnen.
Nach Meldungen aus Washington erklärte der Minister für die amerikanischen Luftstreitkräfte, F i n 1 e 11 e r , die alliierte Luftüberlegenheit sei bedroht durch „sehr wesentliche“ Verbesserungen der kommunistischen Luftstreitkräfte. Aus Korea war gemeldet worden, daß die Kommunisten zweimotorige Düsenjäger eines neuen Typs eingesetzt hätten.
Großbritannien und Frankreich haben nach Meldungen aus Lake Success den UN-Sank- tionsausschuß davon verständigt, daß ihre Regierungen dem amerikanischen Plan für ein Ausfuhrverbot von Waffen, Munition und Kriegsmaterial nach Rotchina zustimmen werden. Der Ausschuß wird Anfang nächster Woche über den amerikanischen Antrag abstimmen.
Wahlgesetz angenommen
Französische Wahlen am 17. Juni?
PARIS. Die französische Nationalversammlung hat das neugefaßte Wahlreformgesetz der Regierung Queuille am Montagabend mit 332:248 Stimmen angenommen. Damit ist ein fast einjähriger Kampf um die Wahlreform zu Ende, die die parlamentarische Vertretung der Kommunisten in der Nationalversammlung wesentlich schmälern soll. Das neue Gesetz behält für den Bezirk Paris das alte Verhältniswahlsystem bei. Außerhalb von Paris wird in Wahlbezirken gewählt. Jede Partei kann für alle zur Verfügung stehenden Sitze Kandidaten aufstellen und gewinnt alle Sitze, wenn sie die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen kann. Die Parteien können Wahlkoalitionen eingehen. Sollte die Wahlkoalition die Mehrheit gewinnen, verteilen sich die Sitze anteilmäßig auf die Bündnisparteien. Wenn keine Einzelpartei oder Parteiengruppe die Mehrheit erhält, werden die Sitze nach dem Verhältniswahlsystem aufgeteilt.
Die französische Regierung setzte den 17. Juni als Termin für die Neuwahlen fest. Die Entscheidung des Kabinetts muß jedoch noch von der Nationalversammlung gebilligt werden.
Sowjetnote über Japan-Frieden
Außenministerratstagung vorgeschlagen
MOSKAU. Die Sowjetunion hat am Montag in einer Note, die der amerikanischen Botschaft übergeben wurde, eine Tagung des Außenministerrats zur Ausarbeitung eines Friedensvertrags für Japan im Juni oder Juli vorgeschlagen. Nach diesem Vorschlag sollen an dieser Konferenz die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Rotchinas und Großbritanniens teilnehmen. Den USA wurde vorgeworfen, sie rissen unrechtmäßig die Vorbereitung des Friedensvertrags mit Japan an sich und verhinderten damit unter Umständen sogar den Abschluß des Vertrags.
Nach Meldungen aus Washington hat sich das amerikanische Außenministerium erneut dagegen ausgesprochen, Rotchina zu den Vertragsverhandlungen hinzuzuziehen. In Londoner politischen Kreisen sieht man in dem sowjetischen Vorschlag einen Versuch, die von den USA und Großbritannien geleisteten Vorarbeiten zunichte zu machen. Auch die französische Regierung wandte sich gegen die Note Moskaus.
MÜNCHEN. Der ehemalige Staatsminister Otto Meißner ist von der Hauptspruchkammer München in die Gruppe 2 als Belasteter eingestuft worden. Das Urteil lautet auf ein Jahr Sonderarbeit und 30prozentigen Vermögenseinzug.
4 ;
Der verschlossene MUND
Roman von Doris Eicke
Alle Hechte Verltgihaut Ueutlingtn
Der Spaziergang mit Detlev füllt kaum zwei Stunden aus. Früher las ich, aber auch das kann ich nicht mehr. In jedem Roman ist von Liebe die Rede — und dieses Wort, gerade dieses, ertrag ich nicht mehr. Ich las auch philosophische Bücher, Nietzsche, Schopenhauer, aber sie vermehrten nur meine Verwirrung. Diese Erkenntnisse eines eiskalten Intellekts können ein frierendes Herz nicht wärmen.
Niels, als ich Dich lieben lernte, bezwang mich Deine grenzenlose Güte. Ich fühlte, daß Du ein Mann bist, den man nicht zu belügen braucht, vor dem man mit all seinen Fehlern und Irrtümem unverstellt dastehen darf. Auch heute möchte ich nicht lügen. Niels, ich habe mich krank gesehnt nach Deiner Liebe, Jetzt aber sehne ich mich nach Liebe schlechthin. Ich bin dreißig Jahre alt und will leben.
Du allein kannst mir helfen. Komm zurück, laß mich nicht im Stiehl Tue mir und Dir das Leid nicht an, daß ich aus Verzweiflung und Einsamkeit einen Weg gehe, von dem es Kein Zurück mehr gibt. Andry.“
Mereks Hand krampfte sich über diesem Brief zusammen. Er besaß ihn erst seit weni-
S en Tagen, man hatte ihn ihm erst ausge- ändagt, als der ärztliche Befund sein längeres Bleiben nicht wünschenswert machte. Andry aber hatte nicht mehr geschrieben, als dieser Brief ohne Antwort geblieben war. Seine seitherigen Mitteilungen, die diesen erschütternden Hilfeschrei anscheinend kalt übergingen, mußten die Empfindsame bis ins ' tiefste Herz getroffen haben. Auch er hatte schlimme Wochen der Sorge, des quälenden
Wartens hinter sich, aber daran dachte er jetzt nicht; er dachte an Andry, deren see- liche Widerstandskraft am Zusammenbrechen war. Was nützte ihn nun das wohlbestallte Bankkonto, auf das seit fast drei Jahren Monat für Monat eine runde Summe in deutscher Währung eingezahlt worden war, was nützten ihn die hohen Prämien, die er als Einflieger der fabrikneuen Maschinen bezogen und für die er immer wieder sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte? Dieser Gewinn verlor jede Bedeutung für ihn, wenn er ihn Andry nicht in den Schoß schütten konnte. Wo war sie, sein geliebtes, kleines Mädchen, wie er sie bei sich selber zu nennen pflegte? Immer hatte sie seine Sehnsucht in ihren bescheidenen vier Wänden gesucht, den kleinen Haushalt betreuend, das Kind wartend, und nun waren alle seine Vorstellungen ins Leere gegangen. Um dieses letzten Briefes willen hatte er es nicht gewagt, ihr seine verfrühte Rückkehr direkt mitzuteilen. Er mußte erst mit Syamken sprechen, er würde wissen, wo Andry zu finden war.
Ein später Wintermorgen graute herauf. Bleiern lag die Erschöpfung auf Merck, und kleine Schweißperlen netzten seine hohe, schön gezeichnete Stirn. Er hustete wieder und führte das Taschentuch zum Munde. Das Bewußtsein seiner Hinfälligkeit schwächte seinen Mut, das Einzige, woran er sich klammerte, war sein Glaube an Andry. Mochte sie auch tausendmal meinen, die Verzweiflung sei stark genug, sie auf einen Unrechten Weg zu treiben, sie war nicht imstande, etwas Schlechtes zu tun — etwas tief Notwendiges vielleicht, aber etwas Schlechtes nie.
II.
Die Dreizimmerwohnung in Hamburg war auf Einschreiten der Wohnungskommission seinerzeit von einem der großen Landhäuser an der Alster, die das vornehme Hamburg
repräsentierten, abgezweigt worden. Nachträglich mit einem separaten Eingang versehen, genoß sie alle Vorzüge ihrer Lage, den Blick auf den in englischem Stil gehaltenen Park mit jahrhundertealtem Baumbestand und auf die stillen grünen Wasser der Außenalster, auf dem sich im Sommer die fröhlichen Boote tummelten.
Das große, helltapezierte Herrenzimmer mit den schweren Eichenmöbeln mutete Merck fürstlich an. Seit Jahren hatte er kein Privat- zimmer mit so ausgeprochener Wohnkultur zu Gesicht bekommen. In dem Sessel, den ihm Will anbot, schien sich seine überschlanke Gestalt verlieren zu wollen.
Syamken saß ihm gegenüber und bediente die Kaffeemaschine. Seine großen, weißen, nicht ungeschickten Hände fielen Merck auf, sie waren ein wenig aufgeschwemmt und machten einen unangenehm weichlichen Eindruck, so daß er sofort wieder von ihnen wegschaute. Er kannte Syamken seit seinen Knabenjahren, aber seine Hände sah er jetzt bewußt zum erstenmal. Das Gespräch zwischen den alten Freunden tröpfelte langsam und schwer, auch hier wollte sich die Fremdheit dieser drei russischen Jahre breitmachen. Syamken, der mitten im deutschen Exportgeschäft stak, staunte über die Weltfremdheit des anderen. Dinge, die die ganze europäische Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt hatten, waren überhaupt nicht zu ihm gedrungen, andere hatte er völlig entstellt erfahren. Alle Fragen, die Rußland betrafen, beantwortete Merck mit einer fast verletzenden Zurückhaltung. Er hatte schweigen gelernt, um so leichter, da er nie redselig gewesen war. Syamken fühlte sich durch Mereks Einsilbigkeit enttäuscht und um ein gut Teil seiner Erwartungen betrogen- Überhaupt spürte er bei Niels eine Hemmung, die er nicht begriff, eine Art Geistesabwesenheit, so als dächte der andere unablässig an etwas Bestimmtes und könne sich
doch nicht entschließen, es zur Sprache zu bringen. Syamken ahnte, daß diese verborgene Sorge Andrea galt, wenn er aber das Gespräch vorsichtig auf sie hinüberlenkte, ergriff Merck stets seine Zuflucht zu einem hastigen Ablenkungsmanöver. Es sah fast so aus, als wollte er das Thema Andrea überhaupt nicht berührt wissen. Syamken fand, daß er ein wenig sonderbar geworden sei.
Die Schwierigkeit, die es ihm bereitete, den altvertrauten Ton mit seinem Freunde wie- derzuflnden, verursachte Merck einen fast körperlichen Schmerz. Es war ein Schock, auf den er nicht gefaßt gewesen, und ein böses Omen für sein Wiedersehen, mit Andry, das seine Stimmung immer mehr in lähmende Mutlosigkeit absinken ließ. Er hatte an die paar Menschen, die ihm lieb waren, all die Jahre so treulich gedacht und sich in seiner Einsamkeit so viel mit ihnen beschäftigt, daß sie ihm näher geblieben waren als er ihnen. Mit Syamken war er jahrelang zur Schule gegangen und ihre gemeinsamen Erinnerungen waren so mannigfach, daß dieses Band unzerreißbar schien. Dennoch stammelte er jetzt wie ein verlegener Knabe vor ihm und konnte sich nicht entschließen, sein Inneres vor ihm aufzutun. Was früher selbstverständlich gewesen wäre, erschien jetzt als eine Bloßstellung. Dieser selbstsichere, elegante und sichtlich sorglos lebende SyarSken schien ihm das Gesicht gewechselt zu haben, vielleicht hatte sich aber auch nur seine Art geändert, ihn zu sehen. Merck zog zum soundsovielten Male das Taschentuch hervor und wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirn. Mitten in dieser Bewegung begegnete er Syamkens forschendem Blick und steckte es verlegen wieder ein.
„Was ist los mit Dir, Niels?“ fragte der lange Hamburger vorsichtig. „Du gefällst mir nicht. Hast Du Dich übernommen dort drüben?“
Merck zuckte die Achseln. (Forts, folgt)