NUMMER TO

MinWOOH, 9 . MAI 1851

Bemerkungen zum Tage

Warnzeichen

cz. Wie nicht anders zu erwarten, befaßte sich die ganze westeuropäische Presse mit dem Ergebnis der Landtagswahlen in Niedersach­sen. Mögen auch manche Schlußfolgerungen, die angesichts des Phänomens, daß die neona­zistischeSozialistische Reichspartei (RPS) elf Prozent aller Wähler hinter sich bringen konnte, in ihrer Verallgemeinerung zu weit ge­hen, grundsätzlich sind wir nicht weniger er­schrocken über das Ausmaß der Rechtsradi­kalisierung in einem Bundesland. Gewiß, es wurden Erscheinungen dieser Art sonst noch nirgends in der Bundesrepublik beobachtet und wir hoffen, daß das niedersächsische Bei­spiel keine Schule macht. Was uns aber er­schüttert ist, daß bereits sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des vieler Verbrechen über­führten NS-Regimes eine Partei, diedas Gute des Nationalsozialismus zu ihrem Programm erhebt, überhaupt Anhänger findet. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, daß die Entwicklung in den Jahren nach der Kapitula­tion unter alliierter Hoheit in Deutschland ei­nen Verlauf nahm, der der Radikalisierung mitunter geradezu Vorschub leistete. Insoweit haben die Besatzungsmächte allen Grund, nicht zu laut von der Unbelehrbarkeit der Deutschen zu sprechen. Von der Ent- bis zur Renaziflzie- rung so könnte man sagen ist der Weg gar nicht allzuweit. Vorschub leistet, wie wie­derholt festgestellt, dem Neonazismus auch die maßlose Polemik Schumachers, der un­gewollt den Neonazisten fortgesetzt die nationalistischen Parolen liefert. Wir können uns aber trotzdem nicht vorstellen, daß die ideologischen Plattheiten eines Exgenerals von Hitlers Gnaden, Remer, ausreichen, um den Zulauf zu der SRP zu erklären.

Vielmehr möchten wir annehmen, daß nur eine Wirtschaftspolitik der Regierung, die den gefährdeten sozialen Frieden sichert, und ein fortgesetztes Bemühen um die Senkung der Besatzungslasten bzw. des vorgesehenen Ver­teidigungsbeitrags, der den Bundeshaushalt übermäßig belastet, eine weitere Ausbreitung der Rechtsradikalisierung verhindern können. Insoweit werden auch die Westmächte etwas zur Abwehr neonazistischer Strömungen bei­tragen können, als sie die Bundesrepublik von Belastungen verschonen, denen sie nicht ge­wachsen ist. Von den an sich zu begrüßenden Verboten rechtsradikaler Organisationen al­lein ist nicht viel zu erhoffen.

Koalition SPD-BHE in Niedersachsen?

Wahlsieger bei Landtagswahl BHE und SRP / SPD bleibt stärkste Partei

HANNOVER. Nach dem nunmehr vorliegen­den Endergebnis der Landtagswahl in Nieder­sachsen haben alle alten Parteien einen Teil ihrer Stimmen an die neueren Parteien, vor al­lem den BHE, der auch in Niedersachsen zum erstenmal Kandidaten für die Wahl aufgestellt hat, abgeben müssen. Bemerkenswert ist die hohe Stimmenzahl von 11 Prozent, die die Sozialistische Reichspartei auf sich vereinen konnte.

Von den 4,5 Millionen Wahlberechtigten ha­ben 76 Prozent ihre Stimmen abgegeben. Die SPD ist mit 33,7 Prozent der Stimmen nach wie vor die stärkste Partei im neuen Landtag. Alle bisherigen Minister der SPD einschließ­lich Ministerpräsident Hinrich Kopf wurden in ihren Wahlkreisen wiedergewählt. Die übri­gen Stimmen verteilen sich wie folgt: Nieder­deutsche Union (CDU/DP) 23,8 Prozent, FDP 8,4 Prozent, KPD 1,8 Prozent, Zentrum 3,3 Pro­zeit, SRP 11 Prozent und DRP 2,2 Prozent. Von den 158 Sitzen im neuen Landtag entfal­len auf die SPD 64, die Niederdeutsche Union 35, den BHE 21, die Sozialistische Reichspartei 16, die FDP 12, das Zentrum 4, die Deutsche

Reichspartei 3, die KPD 2 und die Deutsche Soziale Partei 1 Sitz

In politischen Kreisen der Landeshauptstadt wird angenommen, daß sich der BHE zusam­men mit dem Zentrum zu einer Koalition mit der stärksten Partei, der SPD, bereitfinden wird. Die Nachricht über das unerwartet gute Abschneiden der SRP hat in alliierten Kreisen eine gewisse Bestürzung hervorgerufen. In pri­vaten Gesprächen gaben einflußreiche alliierte Beobachter ihrer Enttäuschung darüber Aus­druck, daß eine Partei so viele Stimmen mit einem Programm gewinnen konnte, dasdem­jenigen Hitlers so ähnlich ist. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, daß an ein Verbot der Partei durch die Alliierten gegenwärtig nicht gedacht sei. '

Gleichzeitig mit der Landtagswahl wurde in Hannover die durch den Tod des SPD-Bundes- tagsabgeordneten Bruno Leddin notwendig ge­wordene Nachwahl für den Bundestag durch­geführt. Mit 67 854 von 134 000 gültigen Stim­men wurde der SPD-Kandidat Egon Franke als Leddins Nachfolger in den Bundestag ge­wählt.

Straßburg geht an die Arbeit

Westeuropäische Bürgermeister und Gemeinderäte bei Spaak

STRASSBURG. In Straßburg begann diese Woche das eigentliche Arbeitsprogramm der Beratenden Versammlung des Europarates, die den Willen erkennen läßt, sich auf we­sentliche Dinge zu konzentrieren und sich nicht wieder in endlose Debatten zu verlieren. Im Mittelpunkt stand die Erklärung des hol­ländischen Außenministers S t i k k e r, die in folgenden Gedanken gipfelte: Der Europarat muß mit der atlantischen Gemeinschaft Füh­lung nehmen; Verfassungs- und Verfahrens­fragen müßten zurücktreten; die praktischen Aufgaben, für die der Schumanplan und die Arbeit der OEEC Beispiele sind, müssen rasch angefaßt werden.

Wir haben das Gefühl, daß man uns jetzt wirklich in jeder Beziehung als gleichwertigen Freund betrachtet, den man achten soll, er­

klärte der CDU-Abgeordnete P ü n d e r am Ende der Montagsitzung. Bundeskanzler Dr, Adenauer vertrat in einem Interview die Ansicht, daß die europäische Gemeinschaft für Kohlen und Stahl nur auf dem Hinter­grund des allgemeinen politischen Willens denkbar gewesen sei, der seinen Ausdruck in der Straßburger Versammlung gefunden habe. Mit der Zeit müsse man die verschiedenen europäischen Einrichtungen vereinfachen Eine Delegation westeuropäischer Bürger­meister und Gemeinderäte, darunter auch der Oberbürgermeister von Ravensburg, Dr. Sauer, versicherten bei einem Besuch in Straßburg dem Präsidenten der Beratenden Versamm­lung, Paul Henry Spaak, ihre volle Un­terstützung bei der Verwirklichung eines Ver­einigten Europas.

Kleine Weltchronik

Landtagsitjung am 17. Mai

BEBENHAUSEN. Der Landtag von Würt- temberg-Hohenzollem wird sich in seiner 105. Sitzung am 17. Mai zweimal mit der Frage der Remilitarisierung befassen müssen. Die KPD-Fraktion hat neben einer großen An­frage wegen des Verbots einer Versammlung gegen die Remilitarisierung in Schwenningen einen Initiativ-Gesetzentwurf eingebracht, der eine Volksbefragung über die Remilitarisie­rung im Lande Württemberg-Hohenzollem vorsieht. Auf der Tagesordnung stehen ferner große Anfragen wegen der Versorgung mit Baustoffen, der steuerlichen Behandlung der Kindergärten und der Besatzungsschäden der Stadt Freudenstadt, sowie zwei Gesetzent­würfe über den Haushaltsnachtrag und über den Abschluß eines Staatsvertrags mit Würt­temberg-Baden zur Errichtung "eines gemein­samen Landesversorgungsamtes.

Regentage werden nicht berechnet

KOPENHAGEN. Ein Hotel in einem Seebad bei Kopenhagen ist auf eine originelle Idee ge­kommen, seinen Gästen den Urlaub im Früh­ling und Frühsommer besonders anziehend zu machen. An Regentagen brauchen die Besu­cher weder für ihre Mahlzeiten noch für ihre Unterkunft zu bezahlen. Voraussetzung für diese Regelung, die für die Zeit vom 15. ]Mai bis 15. Juni gilt, ist allerdings, daß der Regen an den betreffenden Tagen mindestens vier Stunden lang fällt.

FREIBURG. Der badische Landtagspräsident Karl Person hat gesprächsweise angedeutet, daß er das sog. Bonner Blitzgesetz zum Anlaß neh­men wolle, von seinem Amt im Landtag zurück­zutreten.

MAINZ. Noch in dieser Woche werden die of­fiziellen Verhandlungen über die Regierungs­bildung ln Rheinland-Pfalz zwischen CDU und FDP und zwischen CDU und SPD aufgenommen.

FRANKFURT. Der Bundesvorstand des Deut­schen Gewerkschaftsbundes forderte auf einer Sitzung in Frankfurt in einer Entschließung, daß die zugesagte Aufbesserung der Beamtengehäl­ter um mehr als 15 Prozentumgehend verwirk­licht werde.

WAHN. Der Oberbefehlshaber der Atlantik­paktstaaten, General Dwight D. Eisenhower, be­fand sich am Montag zu einer Besichtigung der in Westdeutschland stationierten belgischen Trup­pen für einige Stunden in der Bundesrepublik. Anschließend flog er nach Brüssel weiter.

DUISBURG. Der Generalbevollmächtigte für das Vermögen des kürzlich in Argentinien ge­storbenen deutschen Großindustriellen Fritz Thyssen, Dr. Ellscheid, teilte am Montag mit, daß das gesamte Thyssen-Vermögen der deut­schen Wirtschaft und dem Wiederaufbau der Au- gust-Thyssen-Hütte zugeführt werden solle.

AURICH. Die Regierung des Regierungsbe­zirks Aurlch dementiert eine durch die deut­sche Presse gelaufene Meldung, wonach sie vom niedersächsischen Innenministerium eine straf­rechtliche Verfolgung des SPD-Vorsitzenden Dr. Schumacher wegen beleidigender Ausdrücke in seinen Wahlreden gefordert habe.

HANNOVER. Die Bundesgartenschau in Han­nover, die vor einer Woche eröffnet wurde, ist bisher von über 100 000 Personen besucht worden.

KOPENHAGEN. König Frederik und Königin Ingrid von Dänemark sind am Dienstagnachmit­tag zu einem viertägigen Staatsbesuch in Eng­land eingetroffen.

PORTSMOUTH. Von dem seit dem 17. April vermißten britischen UnterseebootAffray, das vermutlich mit 75 Mann an Bord bei einer Tauch­übung vor der englischen Südküste gesunken ist, wurde trotz umfangreicher Suchaktionen noch immer keine Spip- entdeckt.

WASHINGTON Das frühere deutsche Bot­schaftsgebäude in Washington, das beim Kriegs­eintritt Amerikas alsfeindliches Eigentum be­schlagnahmt worden war, wird jetzt für 165 200 Dollar (etwa 694 000 DM) an einen Autohändler aus Philadelphia verkauft.

WASHINGTON. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben am Montag ihre Verhand­lungen über eine Regelung der sowjetischen Schulden aus dem Leih- und Pachtabkonsmen in Höhe von 10,8 Miliarden Dollar abgebrochen.

ALBUQUERQUE (New Mexiko). Ein sechsmo­toriger Großbomber der amerikanischen Luft­waffe vom Typ B 36 ist bei der Landung auf dem Militärflugplatz Klrtland verunglückt. 23 von den 25 Besatzungsmitgliedern haben dabei den Tod gefunden. Eis war dies der fünfte Un­fall "einer B 36, seit dieser Typ bei der amerika­nischen Luftwaffe verwendet wird.

SAN SALVADOR. Von der zur Bahma-Gruppe gehörenden Insel Salvador wurden am Dienstag neue Erdstöße gemeldet, nachdem erst am Sonn­tagabend bei einem vernichtenden Erdbeben al­lein in der Stadt Jucuapa schätzungsweise 1000 Menschen ums Leben gekommen sind. Das neue Erdbeben wird als das schwerste in der Ge­schichte der Insel angesehen.

Kampfpause hält an

Begrenzte Vorstöße nach Norden

TOKIO- Die Kampfpause an der Korea­front, die in der vergangenen Woche begann, als die kommunistische Frühjahrsoffensive zum Stehen kam, hält immer noch an. Süd- koreanische Truppen unternahmen am Diens­tag nordwestlich von Seoul begrenzte Vor­stöße. Die alliierten Truppen, die langsam wieder nach Norden vorrücken, haben bereits wieder annähernd die Hälfte des bei der kom­munistischen GroßofEensive verlorengegange­nen Geländes nördlich von Seoul zurückge­wonnen.

Nach Meldungen aus Washington erklärte der Minister für die amerikanischen Luft­streitkräfte, F i n 1 e 11 e r , die alliierte Luft­überlegenheit sei bedroht durchsehr wesent­liche Verbesserungen der kommunistischen Luftstreitkräfte. Aus Korea war gemeldet worden, daß die Kommunisten zweimotorige Düsenjäger eines neuen Typs eingesetzt hät­ten.

Großbritannien und Frankreich haben nach Meldungen aus Lake Success den UN-Sank- tionsausschuß davon verständigt, daß ihre Re­gierungen dem amerikanischen Plan für ein Ausfuhrverbot von Waffen, Munition und Kriegsmaterial nach Rotchina zustimmen wer­den. Der Ausschuß wird Anfang nächster Wo­che über den amerikanischen Antrag abstim­men.

Wahlgesetz angenommen

Französische Wahlen am 17. Juni?

PARIS. Die französische Nationalversamm­lung hat das neugefaßte Wahlreformgesetz der Regierung Queuille am Montagabend mit 332:248 Stimmen angenommen. Damit ist ein fast einjähriger Kampf um die Wahlreform zu Ende, die die parlamentarische Vertretung der Kommunisten in der Nationalversamm­lung wesentlich schmälern soll. Das neue Ge­setz behält für den Bezirk Paris das alte Ver­hältniswahlsystem bei. Außerhalb von Paris wird in Wahlbezirken gewählt. Jede Partei kann für alle zur Verfügung stehenden Sitze Kandidaten aufstellen und gewinnt alle Sitze, wenn sie die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen kann. Die Parteien können Wahl­koalitionen eingehen. Sollte die Wahlkoalition die Mehrheit gewinnen, verteilen sich die Sitze anteilmäßig auf die Bündnisparteien. Wenn keine Einzelpartei oder Parteiengruppe die Mehrheit erhält, werden die Sitze nach dem Verhältniswahlsystem aufgeteilt.

Die französische Regierung setzte den 17. Juni als Termin für die Neuwahlen fest. Die Ent­scheidung des Kabinetts muß jedoch noch von der Nationalversammlung gebilligt werden.

Sowjetnote über Japan-Frieden

Außenministerratstagung vorgeschlagen

MOSKAU. Die Sowjetunion hat am Montag in einer Note, die der amerikanischen Bot­schaft übergeben wurde, eine Tagung des Au­ßenministerrats zur Ausarbeitung eines Frie­densvertrags für Japan im Juni oder Juli vor­geschlagen. Nach diesem Vorschlag sollen an dieser Konferenz die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Rotchinas und Großbritanni­ens teilnehmen. Den USA wurde vorgeworfen, sie rissen unrechtmäßig die Vorbereitung des Friedensvertrags mit Japan an sich und ver­hinderten damit unter Umständen sogar den Abschluß des Vertrags.

Nach Meldungen aus Washington hat sich das amerikanische Außenministerium erneut dagegen ausgesprochen, Rotchina zu den Ver­tragsverhandlungen hinzuzuziehen. In Lon­doner politischen Kreisen sieht man in dem sowjetischen Vorschlag einen Versuch, die von den USA und Großbritannien geleisteten Vor­arbeiten zunichte zu machen. Auch die fran­zösische Regierung wandte sich gegen die Note Moskaus.

MÜNCHEN. Der ehemalige Staatsminister Otto Meißner ist von der Hauptspruchkammer München in die Gruppe 2 als Belasteter einge­stuft worden. Das Urteil lautet auf ein Jahr Sonderarbeit und 30prozentigen Vermögensein­zug.

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Der verschlossene MUND

Roman von Doris Eicke

Alle Hechte Verltgihaut Ueutlingtn

Der Spaziergang mit Detlev füllt kaum zwei Stunden aus. Früher las ich, aber auch das kann ich nicht mehr. In jedem Roman ist von Liebe die Rede und dieses Wort, gerade dieses, ertrag ich nicht mehr. Ich las auch philosophische Bücher, Nietzsche, Schopenhauer, aber sie vermehrten nur meine Verwirrung. Diese Erkenntnisse eines eiskal­ten Intellekts können ein frierendes Herz nicht wärmen.

Niels, als ich Dich lieben lernte, bezwang mich Deine grenzenlose Güte. Ich fühlte, daß Du ein Mann bist, den man nicht zu belügen braucht, vor dem man mit all seinen Fehlern und Irrtümem unverstellt dastehen darf. Auch heute möchte ich nicht lügen. Niels, ich habe mich krank gesehnt nach Deiner Liebe, Jetzt aber sehne ich mich nach Liebe schlecht­hin. Ich bin dreißig Jahre alt und will leben.

Du allein kannst mir helfen. Komm zurück, laß mich nicht im Stiehl Tue mir und Dir das Leid nicht an, daß ich aus Verzweiflung und Einsamkeit einen Weg gehe, von dem es Kein Zurück mehr gibt. Andry.

Mereks Hand krampfte sich über diesem Brief zusammen. Er besaß ihn erst seit weni-

S en Tagen, man hatte ihn ihm erst ausge- ändagt, als der ärztliche Befund sein länge­res Bleiben nicht wünschenswert machte. An­dry aber hatte nicht mehr geschrieben, als dieser Brief ohne Antwort geblieben war. Seine seitherigen Mitteilungen, die diesen er­schütternden Hilfeschrei anscheinend kalt übergingen, mußten die Empfindsame bis ins ' tiefste Herz getroffen haben. Auch er hatte schlimme Wochen der Sorge, des quälenden

Wartens hinter sich, aber daran dachte er jetzt nicht; er dachte an Andry, deren see- liche Widerstandskraft am Zusammenbrechen war. Was nützte ihn nun das wohlbestallte Bankkonto, auf das seit fast drei Jahren Mo­nat für Monat eine runde Summe in deut­scher Währung eingezahlt worden war, was nützten ihn die hohen Prämien, die er als Einflieger der fabrikneuen Maschinen be­zogen und für die er immer wieder sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte? Dieser Ge­winn verlor jede Bedeutung für ihn, wenn er ihn Andry nicht in den Schoß schütten konnte. Wo war sie, sein geliebtes, kleines Mädchen, wie er sie bei sich selber zu nen­nen pflegte? Immer hatte sie seine Sehn­sucht in ihren bescheidenen vier Wänden ge­sucht, den kleinen Haushalt betreuend, das Kind wartend, und nun waren alle seine Vor­stellungen ins Leere gegangen. Um dieses letzten Briefes willen hatte er es nicht ge­wagt, ihr seine verfrühte Rückkehr direkt mitzuteilen. Er mußte erst mit Syamken sprechen, er würde wissen, wo Andry zu finden war.

Ein später Wintermorgen graute herauf. Bleiern lag die Erschöpfung auf Merck, und kleine Schweißperlen netzten seine hohe, schön gezeichnete Stirn. Er hustete wieder und führte das Taschentuch zum Munde. Das Bewußtsein seiner Hinfälligkeit schwächte seinen Mut, das Einzige, woran er sich klam­merte, war sein Glaube an Andry. Mochte sie auch tausendmal meinen, die Verzweiflung sei stark genug, sie auf einen Unrechten Weg zu treiben, sie war nicht imstande, etwas Schlechtes zu tun etwas tief Notwendiges vielleicht, aber etwas Schlechtes nie.

II.

Die Dreizimmerwohnung in Hamburg war auf Einschreiten der Wohnungskommission seinerzeit von einem der großen Landhäuser an der Alster, die das vornehme Hamburg

repräsentierten, abgezweigt worden. Nach­träglich mit einem separaten Eingang ver­sehen, genoß sie alle Vorzüge ihrer Lage, den Blick auf den in englischem Stil gehaltenen Park mit jahrhundertealtem Baumbestand und auf die stillen grünen Wasser der Au­ßenalster, auf dem sich im Sommer die fröh­lichen Boote tummelten.

Das große, helltapezierte Herrenzimmer mit den schweren Eichenmöbeln mutete Merck fürstlich an. Seit Jahren hatte er kein Privat- zimmer mit so ausgeprochener Wohnkultur zu Gesicht bekommen. In dem Sessel, den ihm Will anbot, schien sich seine überschlanke Ge­stalt verlieren zu wollen.

Syamken saß ihm gegenüber und bediente die Kaffeemaschine. Seine großen, weißen, nicht ungeschickten Hände fielen Merck auf, sie waren ein wenig aufgeschwemmt und machten einen unangenehm weichlichen Ein­druck, so daß er sofort wieder von ihnen wegschaute. Er kannte Syamken seit seinen Knabenjahren, aber seine Hände sah er jetzt bewußt zum erstenmal. Das Gespräch zwi­schen den alten Freunden tröpfelte langsam und schwer, auch hier wollte sich die Fremd­heit dieser drei russischen Jahre breitmachen. Syamken, der mitten im deutschen Export­geschäft stak, staunte über die Weltfremd­heit des anderen. Dinge, die die ganze eu­ropäische Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt hatten, waren überhaupt nicht zu ihm ge­drungen, andere hatte er völlig entstellt er­fahren. Alle Fragen, die Rußland betrafen, beantwortete Merck mit einer fast verletzen­den Zurückhaltung. Er hatte schweigen ge­lernt, um so leichter, da er nie redselig ge­wesen war. Syamken fühlte sich durch Mereks Einsilbigkeit enttäuscht und um ein gut Teil seiner Erwartungen betrogen- Überhaupt spürte er bei Niels eine Hem­mung, die er nicht begriff, eine Art Geistes­abwesenheit, so als dächte der andere un­ablässig an etwas Bestimmtes und könne sich

doch nicht entschließen, es zur Sprache zu bringen. Syamken ahnte, daß diese verbor­gene Sorge Andrea galt, wenn er aber das Gespräch vorsichtig auf sie hinüberlenkte, ergriff Merck stets seine Zuflucht zu einem hastigen Ablenkungsmanöver. Es sah fast so aus, als wollte er das Thema Andrea über­haupt nicht berührt wissen. Syamken fand, daß er ein wenig sonderbar geworden sei.

Die Schwierigkeit, die es ihm bereitete, den altvertrauten Ton mit seinem Freunde wie- derzuflnden, verursachte Merck einen fast körperlichen Schmerz. Es war ein Schock, auf den er nicht gefaßt gewesen, und ein böses Omen für sein Wiedersehen, mit An­dry, das seine Stimmung immer mehr in lähmende Mutlosigkeit absinken ließ. Er hatte an die paar Menschen, die ihm lieb waren, all die Jahre so treulich gedacht und sich in seiner Einsamkeit so viel mit ihnen beschäftigt, daß sie ihm näher geblieben wa­ren als er ihnen. Mit Syamken war er jahre­lang zur Schule gegangen und ihre gemein­samen Erinnerungen waren so mannigfach, daß dieses Band unzerreißbar schien. Den­noch stammelte er jetzt wie ein verlegener Knabe vor ihm und konnte sich nicht ent­schließen, sein Inneres vor ihm aufzutun. Was früher selbstverständlich gewesen wäre, er­schien jetzt als eine Bloßstellung. Dieser selbst­sichere, elegante und sichtlich sorglos lebende SyarSken schien ihm das Gesicht gewechselt zu haben, vielleicht hatte sich aber auch nur seine Art geändert, ihn zu sehen. Merck zog zum soundsovielten Male das Taschentuch hervor und wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirn. Mitten in dieser Bewegung begegnete er Syamkens forschendem Blick und steckte es verlegen wieder ein.

Was ist los mit Dir, Niels? fragte der lange Hamburger vorsichtig.Du gefällst mir nicht. Hast Du Dich übernommen dort drü­ben?

Merck zuckte die Achseln. (Forts, folgt)