NUMMER 64

FREITAG, 3 7. APRIL 1951

Bemerkungen zum Tage

Wir atmeten aut

hr. Die nordwürttembergisch-badischen Me­tallarbeiter haben ihre Streikdrohung jetzt doch nicht wahr gemacht. Man traf sich mit den Unternehmern auf einer mittleren Linie und erhöhte die Löhne nur soweit, als die Be­triebe glaubten nach ihren Preiskalkulationen vertreten zu können. Wir sind die letzten, die der Metallarbeiterschaft eine noch stärkere Lohnerhöhung mißgönnen. Trotzdem haben wir aufgeatmet, als bekannt wurde, daß es ohne Streik abgehen werde. Und mit uns ver­mutlich die Angehörigen der 200 000 Arbeiter, die den Streik hätten durchführen müssen. Es macht für sie doch einen erheblichen Unter­schied, ob die Ernährer der Familie Wochen­löhne oder kümmerliche Streikunterstützungen nach Hause bringen. Letzten Endes leidet unter dieser äußersten Form des sozialen Kampfes immer die Allgemeinheit. Die Pro­duktion der bestreikten Betriebe fällt aus: In dem großen allgemeinen Topf den man als Sozialprodukt bezeichnet ist entsprechend weniger drin. Man sollte mehr daran denken, daß der Klassenkampf nicht Selbstzweck, son­dern nur Mittel zum Zweck sein kann. Zweck Ist und bleibt die Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards. Diese Erhöhung wiederum wird allein durch eine Steigerung des Real­lohnes erreicht. Solange erzwungene Lohner­höhungen nur die Lohn-Preis-Schraube in Gang setzen, verfehlen sie daher ihr wahres Ziel. Im Gegenteil: Durch die Lohnerhöhungen für eine Gruppe werden zahlreiche andere Gruppen, die nicht streiken können die breite Schicht der Rentner, Kriegsopfer und Unterstützungsempfänger wirtschaftlich noch weiter geschwächt. Man sollte aus dem Beispiel Frankreichs, in dem wahrlich fleißig gestreikt wird, einige Lehren ziehen. In die­sem Sinne ist die Erklärung der Sozialpartner, daß man gemeinsam auf eine gesunde Lohn- Preis-Politik hinarbeiten wolle, ein wahrer Trost. Die soziale Vernunft zwingt uns zum Ausgleich. Das bedeutet aber auch, daß die Gewerkschaften ihre Schlüsselstellung nicht dazu benützen, eine neue privilegierte Klasse auf Kosten der wirklich Ärmsten zu bilden,.

Niederlaoe Bevans

Labour Party hinter der Regierung LONDON. Der Vorstand der britischen Labour Party stellte sich am Mittwoch voll hinter das Verteidigungsprogramm und die Politik der Regierung. Damit erlitt der zurück­getretene britische Arbeitsminister Bevan eine Niederlage. Der Parteivorstand wies die Ar­gumente zurück, mit denen er die Finanz­politik der Regierung angegriffen hatte und betonte, daß er die Regierung und das neue Budget ohne Einschränkung unterstütze. Die Mitglieder der Partei wurden auf gefordert, sich der Haltung ihres Parteivorstandes anzu­schließen und das Verteidigungsprogramm als einen notwendigen Beitrag zur kollektiven Sicherheit zu unterstützen.

RuhikonfroHe-BesDrerbungen

Vorverhandlungen in Paris LONDON. Die britische Regierung Ist zu baldigen Besprechungen mit den anderen in­teressierten Ländern über die Frage der Zu­kunft der internationalen Kontrolle der deut­schen Stahl- und Kohlenindustrie bereit. Ein­zelheiten und Termin der vorgesehenen Kon­ferenz sind allerdings noch nicht bekannt. Von der britischen Regierung wurde erklärt, daß formelle Beratungen über eine etwaige Asso­ziierung Großbritanniens mit den im Schu- manplan vorgesehenen Organen erst nach Ra­tifizierung des Vertrages erwogen werden kön­nen.

Der britische Außenminister Morrison trifft am Freitag zur Teilnahme an der Sitzung des Ministerrates der OEEC in Paris ein. Man rechnet damit, daß er mit Außenminister Schuman eine Vorbesprechung über die Montanunion und damit im Zusammenhang über die Ruhrbehörde führen wird.

McCloy: Ohne Sdiumanplan Isolierung

Deutsche Teilnahme an der Verteidigung wird nicht erkauft oder erzwungen

MÜNCHEN. Der amerikanische Hohe Kom­missar McCloy. betonte in einer Ansprache im bayerischen Rundfunk, daß die USA den Schumanplan als einen Prüfstein für den auf­richtigen Willen und die Fähigkeiten der eu­ropäischen Länder zu wirklicher Zusammen­arbeit betrachten. Eine Ablehnung des Schu- manplans würde den Hoffnungen, die als Er­gebnis jahrelanger Bemühungen entstanden sind, einen schweren, ja vielleicht tödlichen Schlag versetzen und die Gefahr eines uneini­gen Europas und eines isolierten Deutschlands heraufbeschwören. Die Aufgaben der Bundes­republik für die nächste Zukunft umriß Mc­Cloy folgendermaßen: Im eigenen Lande das bisher Erreichte zu erhalten und auszubauen, insbesondere die wirtschaftliche Struktur zu 3tärken.

McCloy wies darauf hin, daß die USA das

Recht Deutschlands anerkennen, innerhalb ei­nes europäischen Verteidigungssystems in vol­ler Gleichberechtigung an den gemeinsamen Aufgaben teilzunehmen. Der Entschluß zur Teilnahme an einer Verteidigungsarmee müsse von der deutschen Regierung und der Bevöl­kerung der Bundesrepublik selbst gefaßt und solle nicht erkauft oder erzwungen werden. Das deutsche Volk habe dem Kommunismus in allen freien Wahlen eine derartige Absage erteilt, daß dieser nunmehr seine Zuflucht zu falschen Fronten wie Neutralismus, Pazi­fismus und Friedensumfragen nehmen müsse. Er forderte die Bevölkerung auf, die erstaun­lichen Fortschritte anzuerkennen, statt nur zu klagen und zu kritisieren. Die große Mehrheit der Deutschen in der Sowjetzone würde gern am Fortschritt der Bundesrepublik teilneh­men, wenn es ihr nur möglich wäre.

Wirtschaft legt Investitionsprogramm vor

Selbstveranlagung der Betriebe / 10 Prozent für Grundstoffindustrie

BONN. Der Gemeinschaftsausschuß der ge­werblichen Wirtschaft hat am Dienstag dem Bundeskanzler ein Investitionsprogramm über 1,2 Milliarden DM für die Grundstoffindustrie zugeleitet, das eine freiwillige Aufbringung der Mittel zur Überwindung von Rohstoffeng­pässen vorsieht. Geplant ist, daß jeder ein­zelne Betrieb sich selbständig veranlagen soll, wobei der Umsatz und die Anzahl der Be­schäftigten als Besprechungsgrundlage dienen sollen.

Es wurde eine Meßzahl errechnet, die pro Kopf und Arbeitstag zwischen 2.80 DM und 3.50 DM liegt. Hieraus ergibt sich bei 300 Ar­

beitstagen in der gesamten Wirtschaft eine freiwillige Ihvestitionsquote, die für das Jahr 1951/52 auf 1213 Milliarden DM veranschlagt wird.

Im Jahr 1950 waren für Investitionen durch Eigenfinanzierung rund 16 Milliarden DM aufgebracht worden Von der im Jahr 1951/52 zu erwartenden Mindestsumme werden zehn Prozent für den Ausbau und die Kapazitäts­ausweitungen der Grundstoffindustrien zur Verfügung gestellt, werden. Die Betriebe selbst sollen die Beträge der Kreditanstalt für Wie­deraufbau in Frankfurt zuleiten, die ihnen entsprechende Obligationen ausstellt.

Kleine Weltchronik

BAMBERG. Die Stadt Bamberg wird jetzt die Baupläne der Bamberger Brüchen herausgeben. Die Stadträte sprachen sich dafür aus,der Ge­walt zu weichen" und die Pläne auszuliefern, um mögliche Repressalien der Besatzungsmacht zu vermeiden. Wie gemeldet, war die Herausgabe der Pläne von den Amerikanern verlangt wor­den. Der Stadtrat wollte ursprünglich versuchen, durch die Verweigerung der Hergabe den Einbau von Sprengkammern zu verhindern.

FRANKFURT. 1,6 Milliarden Mark hat der Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe als In­vestitionsbedarf der ihm angeschlossenen 160 Un­ternehmen im Bundesgebiet Straßenbahnen, Stadtschnellbahnen, Obus- und Omnibusbetriebe errechnet.

KOBLENZ. Die Friedensfackelstafette des Bundes Deutscher Katholischer Jugend beginnt in der Nacht zum 1. Mai im Altenberger Dom, wo Kardinal Frings vor dem Madonnenbild die erste Fackel entzünden wird. Die jungen Männer des Bundes tragen in Stafettenläufen die Fak- keln bis an die Grenzen der Bundesrepublik und übergeben sie dort an Läufer der katholischen Jugend Österreichs, der Schweiz, Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens, der Niederlande und Dä­nemarks.

BREMEN. Eine überraschende Preiskontrolle in 2000 Bremer Einzelhandelsgeschäften hat er­geben, daß sich die Händler bis auf ganz geringe Ausnahmen an die Preisfestsetzungen hielten. Es sind nur 14 Anzeigen wegen Verletzung der Preisgesetze und rund 150 Anzeigen wegen man­gelnder Preisauszeichnung notwendig gewesen.

BERLIN. Der Flugplatz Tempelhof wird vor­aussichtlich wieder ab 1. Juli Berliner Zentral­flughafen werden. In Tempelhof wird auch eine besondere Stelle zur Ausgabe von Interzonen­pässen eingerichtet.

AURICH. Die Regierung des Regierungsbezirks Aurich hat vom niedersächsischen Innenministe­rium eine strafrechtliche Verfolgung des SPD- Vorsitzenden Dr. Schumacher verlangt. Das Ver­langen gründet sich auf Äußerungen Dr. Schu­machers in seinen Wahlreden in Ostfriesland, wo er Redner der CDU, FDP und DP alsRinn­steinpolitiker undLumpenpack beschimpft habe.

AIROLO (Schweiz). Zwei Todesopfer forderten die Lawinenstürze am Dienstag in der Schweiz. Ein Steinbrucharbeiter und der Speisewagen­koch eines D-Zuges der Strecke MailandZürich kamen ums Leben. Südlich des St.-Gotthard- Tunnels wurde der Zug von einer durch die Sommerhitze gelösten Lawine verschüttet.

BERN. Die Schweizer Bundesregierung hat dem deutschen Generalkonsul Wilhelm Stoller das Exequatur mit der Amtsbefugnis für die Kan­tone Basel, Luzern, Solothurn und Aargau und dem Generalkonsul Albrecht Wehl das Exequa­tur mit der Amtsbefugnis für Zürich und die übrigen Kantone der Schweiz erteilt. Damit steht der Errichtung deutscher Generalkonsulate In Basel und Zürich nichts mehr im Wege,

BERN. Der schweizerische Nationalrat das Parlament hat am Mittwochabend die Erhe­bung neuer Steuern zur Aufbringung der Mittel für das sich über fünf Jahre erstreckende Wie­deraufrüstungsprogramm abgelehnt und die Vor­schläge zur Revision an die Regierung zurück­verwiesen.

BRÜSSEL. Die Verluste des in Korea einge­setzten belgischen Bataillons belaufen sich bis jetzt auf 20 Tote und 60 Verwundete, geht aus der ersten Verlustliste hervor.

TEHERAN. Der sowjetische Botschafter Iwan Sadschikow hat dem persischen Außenminister am Mittwoch 600 t Giftstoffe zur Bekämpfung der Heuschreckenplage angeboten.

KARATSCHI. Der frühere britische Oberbe­fehlshaber in Indien, Feldmarschall Sir Claude Auchinleck, will jetzt im Innern Pakistans eine Teppichfabrik eröffnen.

WASHINGTON. Die jugoslawische Regierung hat die Vereinigten Staaten um zusätzlicheSon­derunterstützung gebeten, um ein für die kom­menden zwei Jahre erwartetes Defizit von 180 Millionen Dollar überbrücken zu können. Die USA wollen die jugoslawische Bittewohlwol­lend prüfen.

KEY WEST (Florida). Ein Verkehrsflugzeug mit wahrscheinlich 34 Passagieren an Bord und ein Übungsflugzeug der USA-Marine stießen über Key West zusammen und stürzten ins Meer. Bis­her konnten zwei,Tote geborgen werden,

Gromyko und die Kannibalen

di. Man kann nicht gerade behaupten, daß die Pariser Vorkonferenz der Außenminister noch die Aufmerksamkeit der Welt erweckt, die ihr der Bedeutung des Gegenstandes und der Auf­gabe entsprechend eigentlich zukommt. 37 Sit­zungen bisher, ohne daß man zu erkennen in der Lage wäre, wie die Sache zu einem guten Ende gebracht werden könnte. Aber keiner sage, die Sitzungen im Palais de Marbre Rose seien deshalb immer langweilig, weil Moskaus Vertreter die gleichen Argumente ein dut­zendmal hintereinander vorbringt. Er sorgt zum mindesten für Abwechslung in der Form, und sei es auch nur durch mehrstündige Dauerreden, in denen er, das Vokabularium des sowjetischen Agitationslexikons variierend, der westlichen Welt den Spiegel ihrer Schlech­tigkeit und Verworfenheit vorhält. Weder Ehre noch Gewissen hätten dieAggressoren und Kriegstreiber wie Churchill und andere Kannibalen, so unterhielt er in der letzten Sitzung seine schockierten Zuhörer, selbst Kleopatra wäre errötet, wenn sie den Reden Churchills und seiner kannibalischen Vertei­diger worunter Englands Delegierter Davies zu verstehen war zugehört hätte. Nun, man kann gespannt sein, was Gromyko weiterhin zu bieten haben wird. Die Pariser Presse mel­det. er habe sich für 30 Dollar englische Sprach- bücher eingekauft, worunter sich vor allem Synonymen-Lexikons befinden. Eröffnet das nicht großartige Perspektiven auf neue Ab­wechslung in der Konferenz? Wenn Gromyko erst auf Englisch kommt, mit welchen Verba­lien werden da die ,Kannibalen bedacht werden?

IG-Metal! streikt nicht

Lohnkonflikt endgültig beigelegt

STUTTGART. Der Lohnkonflikt in der würt- tembergisch-badischen Metallindustrie ist end­gültig beigelegt worden. Die für gestern vor­gesehene zweite Urabstimmung wurde von der Industriegewerkschaft Metall abgesagt, nach­dem die zentrale Streikleitung und die große Tarifkommission am Mittwochnachmittag be­schlossen hatten, dem Kompromißvorschlag Arbeitsminister Stetters anzunehmen, : der eine Erhöhung des Ecklohnes um 13 Pfennig und Überbrückungsbeihilfen je nach Orts­klasse von 11, 13 und 16 DM vorsieht. Die Un- temehmervertreter haben dem Kompromiß­vorschlag ebenfalls zugestimmt. Obwohl die Gewerkschaft die Metallarbeiter aufgefordert hatte, am Mittwoch nicht, wie ursprünglich vorgesehen, zu streiken, blieben, vor allem in Nordbaden, mehrere 1000 Arbeiter den Betrie­ben fern. Die Gewerkschaft nimmt an, daß die Benachrichtigung diese Arbeiter nicht mehr rechtzeitig erreicht hat. Von den Unterneh­merverbänden wurde dagegen mitgeteilt, daß die Arbeiter durch radikale Elemente aufge­fordert worden seien, unter allen Umständen zu streiken.

Für Verteidigung Formosas

Geheime Vereinbarung der USA

WASHINGTON. Der amerikanische Außen­minister Acheso'n gab am Mittwoch eine bisher geheimgehaltene Vereinbarung zwi­schen der amerikanischen und der national­chinesischen Regierung bekannt, wonach Tschiangkaischek in Formosa für dieinnere Sicherheit und berechtigte Selbstverteidigung mit amerikanischem Kriegsmaterial versorgt wird. Amerika hat in der Vereinbarung aus­drücklich festgelegt, daß die Lieferungen ein­gestellt würden, wenn die Nationalchinesen sie zu anderen als defensiven Zwecken ver­wendeten.

Auf die Vorwürfe des ausgeschiedenen bri­tischen Ministers Bevan, daß die amerika­nische Rüstungsindustrie den größten Teil der Weltrohstoffe aufsauge, erwiderte Acheson, die USA drängten weiterhin auf Erhöhung der Produktion von wichtigen Rohstoffen und auf internationale Abkommen zur gleichmäßigen und vorteilhaften Nutzung der vorhandenen Vorräte,

Der verschlossene M UND

i]

Roman von Doris kicke

Alle liechte V erittgiheut Reutlingen

I.

Der Nachtportier des Hotels Berliner Hof in Königsberg hatte seinen Kollegen, der in der lichteren Hälfte des Tages Dienst tat, vor ein paar Stunden abgelöst. Das Haus wurde still, die Halle leer. Gähnend stand er an der Dreh­türe und schaute in den dicht fallenden Schnee hinaus, dessen große Flocken von Zeit zu Zeit von einem jähen Windstoß durcheinan­dergewirbelt wurden.

Durch den dichten Vorhang des Schneege­stöbers näherte sich langsam eine Taxe und hielt vor dem Hoteleingang. Der Portier erwachte zu plötzlicher Beflissenheit. Auf­merksam, die Hand am Griff der Drehtüre wartete er.

Aus der Taxe stieg ein Herr. Er wechselte ein 5 ge Worte mit dem Fahrer und wandte sich dann, ohne zu bezahlen, dem Hotelein­gang zu, wo er zuvorkommend hereinge­schleust wurde.

Guten Abend! Die Stimme, die den Gruß des Hotelangestellten erwiderte, klang gepreßt, als sei ihr Besitzer verlegen oder auf eine besondere Art bewegt. Er schickte einen lan­gen, fast andächtigen Blick durch die matt erhellte Halle, nahm die gemütlichen Sessel, den sattroten Buchara und sogar die Bilder in sorgfältigen Augenschein, als hätte er den seiner Wünsche gewärtigen Portier vergessen.

Bevor dieser sich mit einer Frage in Erin­nerung bringen konnte, setzte sich die Dreh­tür erneut ln Bewegung und beförderte den Chauffeur in die Halle. Ein einziger Blick auf sein unzufriedenes Gesicht und seine heraus­fordernde Haltung klärte den erfahrenen Por­

tier über sein Anliegen auf. Der Ausdruck seines Gesichtes verlor sofort etwas von seiner gewerbsmäßigen Ehrerbietung.

Ach ja, Sie warten auf ihr Geld, sagte der Fremde und lächelte entschuldigend über seine eigene Vergeßlichkeit.Bitte erledigen Sie das, Portier, und schreiben Sie es mir auf die Rechnung. Indem er sprach, hatte er in die Manteltasche gegriffen und eine Handvoll kleiner, fremdländischer Geldscheine zum Vor­schein gebracht, auf die er gedankenvoll nie­derstarrte. , Ich habe im Moment nichts in deutscher Währung bei mir.

Hat der Herr ein Zimmer bestellt und auf welchen Namen bitte? fragte der Portier vor­sichtig.

Merck. Ich war bereits für gestern ange­meldet, aber das spielt keine Rolle. Ich über­nehme das Zimmer wie bestellt. Sehen Sie doch bitte gleich nach, ob Post für mich da ist.

Der Portier verschwand hinter seiner Loge.

Herr, murrte der Chauffeur unzufrieden, ich kann nicht die halbe Nacht warten. Er verstummte unwillkürlich unter dem ruhigen Blick des Fremden.

Herr Merck, Nummer siebzehn, wenn ich bitten darf! Hier ist außerdem ein Abhol­schein von der Post für eine Geldüberweisung.

Na also, sagte der Fremde ein wenig spöt­tisch und begann, das Anmeldeformular aus­zufüllen.Vielleicht haben Sie jetzt die Güte, den Chauffeur endlich auszubezahlen. Was be­kommen Sie?

Drei Mark fünfzig, Herr, Nachttaxe."

Geben Sie ihm fünf. Gute Nacht!

Ihr Gepäck, Herr Merck?

Ich ließ es am Bahnhot Lassen Sie nur, ich finde mein Zimmer allein."

Eine alte Aktenmappe unter den Arm ge­klemmt stieg der Fremde unter Verschmähung des Lifts die Treppen hinauf, während der Portier mit dem Chauffeur abrechnete.

Komischer Kauz, sagte der Taxifahrer

vertraulich zu dem anderen.Ich dachte schon, er wolle mir durch die Lappen gehen.

In unserem Hotel verkehren keine Hoch­stapler, verwahrte sich der Portier würdevoll.

Na, so ganz sicher waren Sie zuerst auch nicht.

Stimmt, aber da wußte ich auch nicht, daß er aus Rußland kommt, da ist es nicht weiter verwunderlich, daß er kein deutsches Geld bei sich hat.

Und woher wissen Sie es jetzt?

Erstens war es russisches Geld, das er bei sich hatte, und zweitens steht es in der An­meldung.

Unterdessen hatte Merck im ersten Stock sein Zimmer gefunden. Es war gediegen-wohn­lich eingerichtet, wie das ganze mittelgroße Hotel, in dem gewöhnlich die ostpreußischen Rittergutsbesitzer abstiegen, wenn sie in die Stadt kamen. Syamken hatte es einmal emp­fohlen, und ohne daß es ihm bewußt gewor­den, war ihm der Name über all die Jahre hin­durch im Gedächtnis geblieben, so daß er sich jetzt seiner bedienen konnte. Syamken war der einzige, der wußte, daß er unterwegs war, unterwegs nach Hause.

Nachdem Merck sich seiner Kleider entledigt hatte, hängte er sie sorgsam über zwei Bügel, erst den Mantel, dann den Anzug und klemmte die Hose in einen Spanner, den er im Schrank vorfand. Alles geschah mechanisch und mit den geübten Griffen' eines peinlich ordent­lichen Menschen. Während er sich die Zähne putzte, begegnete er seinem Spiegelbild. Er erstarrte in der Bewegung und schaute sich an, als hätte er sich noch nie gesehen. Das Neue, Beängstigende in seinem Anblick war, daß er sich zum erstenmal nicht mit seinen, sondern mit Andrys Augen betrachtete. Was würde sie zu der Veränderung sagen, die mit ihm vor sich gegangen war? Andry war eine Aesthetin, sie hatte eine ausgesprochene, fast überbetonte Vorliebe für alles Schöne und fühlte sich leicht von einem häßlichen Anblick

abgestoßen. Er hatte sie wegen ihrer Ab­hängigkeit von diesen äußerlichen Dingen oft geneckt. Auch in ihn hatte sie sich nach Ih­ren eigenen Worten nur deshalb so schnell und so gründlich verliebt, weil er ein unge­wöhnlich gut aussehender Mann war ge­wesen war, setzte Merck in Gedanken hinzu. Spöttisch verzog er den Mund. In den Jah­ren, die hinter ihm lagen, hatte er anderes zu denken gehabt, als auf sein Aussehen zu ach­ten. Jetzt wurde ihm zum erstenmal voll be­wußt, wie stark er sich verändert hatte. Die drei Jahre Rußland hatten ihm zugesetzt, als zählten sie doppelt. Seine Schläfen waren grau, eigentlich weiß, um ganz die Wahrheit zu sagen, und seine Magerkeit erschreckend. Am ganzen Körper besaß er nicht ein Quent­chen überschüssigen Fettes, dadurch erschie­nen seine Züge schärfer als früher. Seine Gesichtsfarbe war gut, vielleicht hatte er wie gewöhnlich wieder erhöhte Temperatur. Er hüstelte ein wenig, unterdrückte es aber so­fort. Er war nun in Deutschland, und seine Rolle hatte begonnen, die Rolle eines gesunden Mannes, Andrys Mann.

Trotz seiner Müdigkeit gelang es ihm lange nicht einzuschlafen. Als klarer und ehrlicher Mensch litt er unter der chaotischen Unord­nung seiner Gefühle und Gedanken. Seit er die Röntgenaufnahme gesehen und die Dia­gnose des Arztes kannte, hatte er nur noch eine bestimmte Art von Gedanken bewußt zu Ende gedacht, sehr vieles aber, was sich ihm gewaltsam aufdrängen wollte, beiseite gescho­ben, und seine Klärung einem späteren Zeit­punkt überlassen. Alle seine Handlungen ent­sprangen von jenem Augenblick an nur noch einem blinden Selbsterhaltungstrieb. Er war sechsunddreißig Jahre alt und wollte leben. Er wollte Andry Wiedersehen, ihre Wärme spüren, sich an ihrem Frohsinn erheitern- Er mußte endlich den kleinen Detlev in den Ar­men halten, diesen blonden Jungen, der sein Sohn war und dessen erste Kindheitsjahre ihm verlorengegangen waren. (Fortsetzung folgt)