NUMMER 64
FREITAG, 3 7. APRIL 1951
Bemerkungen zum Tage
Wir atmeten aut
hr. Die nordwürttembergisch-badischen Metallarbeiter haben ihre Streikdrohung jetzt doch nicht wahr gemacht. Man traf sich mit den Unternehmern auf einer mittleren Linie und erhöhte die Löhne nur soweit, als die Betriebe glaubten nach ihren Preiskalkulationen vertreten zu können. Wir sind die letzten, die der Metallarbeiterschaft eine noch stärkere Lohnerhöhung mißgönnen. Trotzdem haben wir aufgeatmet, als bekannt wurde, daß es ohne Streik abgehen werde. Und mit uns vermutlich die Angehörigen der 200 000 Arbeiter, die den Streik hätten durchführen müssen. Es macht für sie doch einen erheblichen Unterschied, ob die Ernährer der Familie Wochenlöhne oder kümmerliche Streikunterstützungen nach Hause bringen. Letzten Endes leidet unter dieser äußersten Form des sozialen Kampfes immer die Allgemeinheit. Die Produktion der bestreikten Betriebe fällt aus: In dem großen allgemeinen Topf — den man als Sozialprodukt bezeichnet — ist entsprechend weniger drin. Man sollte mehr daran denken, daß der Klassenkampf nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck sein kann. Zweck Ist und bleibt die Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards. Diese Erhöhung wiederum wird allein durch eine Steigerung des Reallohnes erreicht. Solange erzwungene Lohnerhöhungen nur die Lohn-Preis-Schraube in Gang setzen, verfehlen sie daher ihr wahres Ziel. Im Gegenteil: Durch die Lohnerhöhungen für eine Gruppe werden zahlreiche andere Gruppen, die nicht streiken können — die breite Schicht der Rentner, Kriegsopfer und Unterstützungsempfänger — wirtschaftlich noch weiter geschwächt. Man sollte aus dem Beispiel Frankreichs, in dem wahrlich fleißig gestreikt wird, einige Lehren ziehen. In diesem Sinne ist die Erklärung der Sozialpartner, daß man gemeinsam auf eine gesunde Lohn- Preis-Politik hinarbeiten wolle, ein wahrer Trost. Die soziale Vernunft zwingt uns zum Ausgleich. Das bedeutet aber auch, daß die Gewerkschaften ihre Schlüsselstellung nicht dazu benützen, eine neue privilegierte Klasse auf Kosten der wirklich Ärmsten zu bilden,.
Niederlaoe Bevans
Labour Party hinter der Regierung LONDON. Der Vorstand der britischen Labour Party stellte sich am Mittwoch voll hinter das Verteidigungsprogramm und die Politik der Regierung. Damit erlitt der zurückgetretene britische Arbeitsminister Bevan eine Niederlage. Der Parteivorstand wies die Argumente zurück, mit denen er die Finanzpolitik der Regierung angegriffen hatte und betonte, daß er die Regierung und das neue Budget ohne Einschränkung unterstütze. Die Mitglieder der Partei wurden auf gefordert, sich der Haltung ihres Parteivorstandes anzuschließen und das Verteidigungsprogramm als einen notwendigen Beitrag zur kollektiven Sicherheit zu unterstützen.
RuhikonfroHe-BesDrerbungen
Vorverhandlungen in Paris LONDON. Die britische Regierung Ist zu baldigen Besprechungen mit den anderen interessierten Ländern über die Frage der Zukunft der internationalen Kontrolle der deutschen Stahl- und Kohlenindustrie bereit. Einzelheiten und Termin der vorgesehenen Konferenz sind allerdings noch nicht bekannt. Von der britischen Regierung wurde erklärt, daß formelle Beratungen über eine etwaige Assoziierung Großbritanniens mit den im Schu- manplan vorgesehenen Organen erst nach Ratifizierung des Vertrages erwogen werden können.
Der britische Außenminister Morrison trifft am Freitag zur Teilnahme an der Sitzung des Ministerrates der OEEC in Paris ein. Man rechnet damit, daß er mit Außenminister Schuman eine Vorbesprechung über die Montanunion und damit im Zusammenhang über die Ruhrbehörde führen wird.
McCloy: Ohne Sdiumanplan Isolierung
Deutsche Teilnahme an der Verteidigung wird nicht erkauft oder erzwungen
MÜNCHEN. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy. betonte in einer Ansprache im bayerischen Rundfunk, daß die USA den Schumanplan als einen Prüfstein für den aufrichtigen Willen und die Fähigkeiten der europäischen Länder zu wirklicher Zusammenarbeit betrachten. Eine Ablehnung des Schu- manplans würde den Hoffnungen, die als Ergebnis jahrelanger Bemühungen entstanden sind, einen schweren, ja vielleicht tödlichen Schlag versetzen und die Gefahr eines uneinigen Europas und eines isolierten Deutschlands heraufbeschwören. Die Aufgaben der Bundesrepublik für die nächste Zukunft umriß McCloy folgendermaßen: Im eigenen Lande das bisher Erreichte zu erhalten und auszubauen, insbesondere die wirtschaftliche Struktur zu 3tärken.
McCloy wies darauf hin, daß die USA das
Recht Deutschlands anerkennen, innerhalb eines europäischen Verteidigungssystems in voller Gleichberechtigung an den gemeinsamen Aufgaben teilzunehmen. Der Entschluß zur Teilnahme an einer Verteidigungsarmee müsse von der deutschen Regierung und der Bevölkerung der Bundesrepublik selbst gefaßt und solle nicht erkauft oder erzwungen werden. Das deutsche Volk habe dem Kommunismus in allen freien Wahlen eine derartige Absage erteilt, daß dieser nunmehr seine Zuflucht zu falschen Fronten wie Neutralismus, Pazifismus und Friedensumfragen nehmen müsse. Er forderte die Bevölkerung auf, die erstaunlichen Fortschritte anzuerkennen, statt nur zu klagen und zu kritisieren. Die große Mehrheit der Deutschen in der Sowjetzone würde gern am Fortschritt der Bundesrepublik teilnehmen, wenn es ihr nur möglich wäre.
Wirtschaft legt Investitionsprogramm vor
Selbstveranlagung der Betriebe / 10 Prozent für Grundstoffindustrie
BONN. Der Gemeinschaftsausschuß der gewerblichen Wirtschaft hat am Dienstag dem Bundeskanzler ein Investitionsprogramm über 1,2 Milliarden DM für die Grundstoffindustrie zugeleitet, das eine freiwillige Aufbringung der Mittel zur Überwindung von Rohstoffengpässen vorsieht. Geplant ist, daß jeder einzelne Betrieb sich selbständig veranlagen soll, wobei der Umsatz und die Anzahl der Beschäftigten als Besprechungsgrundlage dienen sollen.
Es wurde eine Meßzahl errechnet, die pro Kopf und Arbeitstag zwischen 2.80 DM und 3.50 DM liegt. Hieraus ergibt sich bei 300 Ar
beitstagen in der gesamten Wirtschaft eine freiwillige Ihvestitionsquote, die für das Jahr 1951/52 auf 12—13 Milliarden DM veranschlagt wird.
Im Jahr 1950 waren für Investitionen durch Eigenfinanzierung rund 16 Milliarden DM aufgebracht worden Von der im Jahr 1951/52 zu erwartenden Mindestsumme werden zehn Prozent für den Ausbau und die Kapazitätsausweitungen der Grundstoffindustrien zur Verfügung gestellt, werden. Die Betriebe selbst sollen die Beträge der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Frankfurt zuleiten, die ihnen entsprechende Obligationen ausstellt.
Kleine Weltchronik
BAMBERG. Die Stadt Bamberg wird jetzt die Baupläne der Bamberger Brüchen herausgeben. Die Stadträte sprachen sich dafür aus, „der Gewalt zu weichen" und die Pläne auszuliefern, um mögliche Repressalien der Besatzungsmacht zu vermeiden. Wie gemeldet, war die Herausgabe der Pläne von den Amerikanern verlangt worden. Der Stadtrat wollte ursprünglich versuchen, durch die Verweigerung der Hergabe den Einbau von Sprengkammern zu verhindern.
FRANKFURT. 1,6 Milliarden Mark hat der „Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe“ als Investitionsbedarf der ihm angeschlossenen 160 Unternehmen im Bundesgebiet — Straßenbahnen, Stadtschnellbahnen, Obus- und Omnibusbetriebe — errechnet.
KOBLENZ. Die Friedensfackelstafette des Bundes Deutscher Katholischer Jugend beginnt in der Nacht zum 1. Mai im Altenberger Dom, wo Kardinal Frings vor dem Madonnenbild die erste Fackel entzünden wird. Die jungen Männer des Bundes tragen in Stafettenläufen die Fak- keln bis an die Grenzen der Bundesrepublik und übergeben sie dort an Läufer der katholischen Jugend Österreichs, der Schweiz, Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens, der Niederlande und Dänemarks.
BREMEN. Eine überraschende Preiskontrolle in 2000 Bremer Einzelhandelsgeschäften hat ergeben, daß sich die Händler bis auf ganz geringe Ausnahmen an die Preisfestsetzungen hielten. Es sind nur 14 Anzeigen wegen Verletzung der Preisgesetze und rund 150 Anzeigen wegen mangelnder Preisauszeichnung notwendig gewesen.
BERLIN. Der Flugplatz Tempelhof wird voraussichtlich wieder ab 1. Juli Berliner Zentralflughafen werden. In Tempelhof wird auch eine besondere Stelle zur Ausgabe von Interzonenpässen eingerichtet.
AURICH. Die Regierung des Regierungsbezirks Aurich hat vom niedersächsischen Innenministerium eine strafrechtliche Verfolgung des SPD- Vorsitzenden Dr. Schumacher verlangt. Das Verlangen gründet sich auf Äußerungen Dr. Schumachers in seinen Wahlreden in Ostfriesland, wo er Redner der CDU, FDP und DP als „Rinnsteinpolitiker“ und „Lumpenpack“ beschimpft habe.
AIROLO (Schweiz). Zwei Todesopfer forderten die Lawinenstürze am Dienstag in der Schweiz. Ein Steinbrucharbeiter und der Speisewagenkoch eines D-Zuges der Strecke Mailand—Zürich kamen ums Leben. Südlich des St.-Gotthard- Tunnels wurde der Zug von einer durch die Sommerhitze gelösten Lawine verschüttet.
BERN. Die Schweizer Bundesregierung hat dem deutschen Generalkonsul Wilhelm Stoller das Exequatur mit der Amtsbefugnis für die Kantone Basel, Luzern, Solothurn und Aargau und dem Generalkonsul Albrecht Wehl das Exequatur mit der Amtsbefugnis für Zürich und die übrigen Kantone der Schweiz erteilt. Damit steht der Errichtung deutscher Generalkonsulate In Basel und Zürich nichts mehr im Wege,
BERN. Der schweizerische Nationalrat — das Parlament — hat am Mittwochabend die Erhebung neuer Steuern zur Aufbringung der Mittel für das sich über fünf Jahre erstreckende Wiederaufrüstungsprogramm abgelehnt und die Vorschläge zur Revision an die Regierung zurückverwiesen.
BRÜSSEL. Die Verluste des in Korea eingesetzten belgischen Bataillons belaufen sich bis jetzt auf 20 Tote und 60 Verwundete, geht aus der ersten Verlustliste hervor.
TEHERAN. Der sowjetische Botschafter Iwan Sadschikow hat dem persischen Außenminister am Mittwoch 600 t Giftstoffe zur Bekämpfung der Heuschreckenplage angeboten.
KARATSCHI. Der frühere britische Oberbefehlshaber in Indien, Feldmarschall Sir Claude Auchinleck, will jetzt im Innern Pakistans eine Teppichfabrik eröffnen.
WASHINGTON. Die jugoslawische Regierung hat die Vereinigten Staaten um zusätzliche „Sonderunterstützung“ gebeten, um ein für die kommenden zwei Jahre erwartetes Defizit von 180 Millionen Dollar überbrücken zu können. Die USA wollen die jugoslawische Bitte „wohlwollend“ prüfen.
KEY WEST (Florida). Ein Verkehrsflugzeug mit wahrscheinlich 34 Passagieren an Bord und ein Übungsflugzeug der USA-Marine stießen über Key West zusammen und stürzten ins Meer. Bisher konnten zwei,Tote geborgen werden,
Gromyko und die Kannibalen
di. Man kann nicht gerade behaupten, daß die Pariser Vorkonferenz der Außenminister noch die Aufmerksamkeit der Welt erweckt, die ihr der Bedeutung des Gegenstandes und der Aufgabe entsprechend eigentlich zukommt. 37 Sitzungen bisher, ohne daß man zu erkennen in der Lage wäre, wie die Sache zu einem guten Ende gebracht werden könnte. Aber keiner sage, die Sitzungen im Palais de Marbre Rose seien deshalb immer langweilig, weil Moskaus Vertreter die gleichen Argumente ein dutzendmal hintereinander vorbringt. Er sorgt zum mindesten für Abwechslung in der Form, und sei es auch nur durch mehrstündige Dauerreden, in denen er, das Vokabularium des sowjetischen Agitationslexikons variierend, der westlichen Welt den Spiegel ihrer Schlechtigkeit und Verworfenheit vorhält. Weder Ehre noch Gewissen hätten die „Aggressoren“ und „Kriegstreiber“ wie Churchill und andere „Kannibalen“, so unterhielt er in der letzten Sitzung seine schockierten Zuhörer, selbst Kleopatra wäre errötet, wenn sie den Reden Churchills und seiner kannibalischen Verteidiger — worunter Englands Delegierter Davies zu verstehen war — zugehört hätte. Nun, man kann gespannt sein, was Gromyko weiterhin zu bieten haben wird. Die Pariser Presse meldet. er habe sich für 30 Dollar englische Sprach- bücher eingekauft, worunter sich vor allem Synonymen-Lexikons befinden. Eröffnet das nicht großartige Perspektiven auf neue Abwechslung in der Konferenz? Wenn Gromyko erst auf Englisch kommt, mit welchen Verbalien werden da die ,Kannibalen“ bedacht werden?
IG-Metal! streikt nicht
Lohnkonflikt endgültig beigelegt
STUTTGART. Der Lohnkonflikt in der würt- tembergisch-badischen Metallindustrie ist endgültig beigelegt worden. Die für gestern vorgesehene zweite Urabstimmung wurde von der Industriegewerkschaft Metall abgesagt, nachdem die zentrale Streikleitung und die große Tarifkommission am Mittwochnachmittag beschlossen hatten, dem Kompromißvorschlag Arbeitsminister Stetters anzunehmen, : der eine Erhöhung des Ecklohnes um 13 Pfennig und Überbrückungsbeihilfen je nach Ortsklasse von 11, 13 und 16 DM vorsieht. Die Un- temehmervertreter haben dem Kompromißvorschlag ebenfalls zugestimmt. Obwohl die Gewerkschaft die Metallarbeiter aufgefordert hatte, am Mittwoch nicht, wie ursprünglich vorgesehen, zu streiken, blieben, vor allem in Nordbaden, mehrere 1000 Arbeiter den Betrieben fern. Die Gewerkschaft nimmt an, daß die Benachrichtigung diese Arbeiter nicht mehr rechtzeitig erreicht hat. Von den Unternehmerverbänden wurde dagegen mitgeteilt, daß die Arbeiter durch radikale Elemente aufgefordert worden seien, unter allen Umständen zu streiken.
Für Verteidigung Formosas
Geheime Vereinbarung der USA
WASHINGTON. Der amerikanische Außenminister Acheso'n gab am Mittwoch eine bisher geheimgehaltene Vereinbarung zwischen der amerikanischen und der nationalchinesischen Regierung bekannt, wonach Tschiangkaischek in Formosa für die „innere Sicherheit und berechtigte Selbstverteidigung“ mit amerikanischem Kriegsmaterial versorgt wird. Amerika hat in der Vereinbarung ausdrücklich festgelegt, daß die Lieferungen eingestellt würden, wenn die Nationalchinesen sie zu anderen als defensiven Zwecken verwendeten.
Auf die Vorwürfe des ausgeschiedenen britischen Ministers Bevan, daß die amerikanische Rüstungsindustrie den größten Teil der Weltrohstoffe aufsauge, erwiderte Acheson, die USA drängten weiterhin auf Erhöhung der Produktion von wichtigen Rohstoffen und auf internationale Abkommen zur gleichmäßigen und vorteilhaften Nutzung der vorhandenen Vorräte,
Der verschlossene M UND
i]
Roman von Doris kicke
Alle liechte V erittgiheut Reutlingen
I.
Der Nachtportier des Hotels Berliner Hof in Königsberg hatte seinen Kollegen, der in der lichteren Hälfte des Tages Dienst tat, vor ein paar Stunden abgelöst. Das Haus wurde still, die Halle leer. Gähnend stand er an der Drehtüre und schaute in den dicht fallenden Schnee hinaus, dessen große Flocken von Zeit zu Zeit von einem jähen Windstoß durcheinandergewirbelt wurden.
Durch den dichten Vorhang des Schneegestöbers näherte sich langsam eine Taxe und hielt vor dem Hoteleingang. Der Portier erwachte zu plötzlicher Beflissenheit. Aufmerksam, die Hand am Griff der Drehtüre wartete er.
Aus der Taxe stieg ein Herr. Er wechselte ein 5 ge Worte mit dem Fahrer und wandte sich dann, ohne zu bezahlen, dem Hoteleingang zu, wo er zuvorkommend hereingeschleust wurde.
„Guten Abend!“ Die Stimme, die den Gruß des Hotelangestellten erwiderte, klang gepreßt, als sei ihr Besitzer verlegen oder auf eine besondere Art bewegt. Er schickte einen langen, fast andächtigen Blick durch die matt erhellte Halle, nahm die gemütlichen Sessel, den sattroten Buchara und sogar die Bilder in sorgfältigen Augenschein, als hätte er den seiner Wünsche gewärtigen Portier vergessen.
Bevor dieser sich mit einer Frage in Erinnerung bringen konnte, setzte sich die Drehtür erneut ln Bewegung und beförderte den Chauffeur in die Halle. Ein einziger Blick auf sein unzufriedenes Gesicht und seine herausfordernde Haltung klärte den erfahrenen Por
tier über sein Anliegen auf. Der Ausdruck seines Gesichtes verlor sofort etwas von seiner gewerbsmäßigen Ehrerbietung.
„Ach ja, Sie warten auf ihr Geld“, sagte der Fremde und lächelte entschuldigend über seine eigene Vergeßlichkeit. „Bitte erledigen Sie das, Portier, und schreiben Sie es mir auf die Rechnung.“ Indem er sprach, hatte er in die Manteltasche gegriffen und eine Handvoll kleiner, fremdländischer Geldscheine zum Vorschein gebracht, auf die er gedankenvoll niederstarrte. , Ich habe im Moment nichts in deutscher Währung bei mir.“
„Hat der Herr ein Zimmer bestellt und auf welchen Namen bitte?“ fragte der Portier vorsichtig.
„Merck. Ich war bereits für gestern angemeldet, aber das spielt keine Rolle. Ich übernehme das Zimmer wie bestellt. Sehen Sie doch bitte gleich nach, ob Post für mich da ist.
Der Portier verschwand hinter seiner Loge.
„Herr“, murrte der Chauffeur unzufrieden, „ich kann nicht die halbe Nacht warten.“ Er verstummte unwillkürlich unter dem ruhigen Blick des Fremden.
„Herr Merck, Nummer siebzehn, wenn ich bitten darf! Hier ist außerdem ein Abholschein von der Post für eine Geldüberweisung.“
„Na also“, sagte der Fremde ein wenig spöttisch und begann, das Anmeldeformular auszufüllen. „Vielleicht haben Sie jetzt die Güte, den Chauffeur endlich auszubezahlen. Was bekommen Sie?“
„Drei Mark fünfzig, Herr, Nachttaxe."
„Geben Sie ihm fünf. Gute Nacht!“
„Ihr Gepäck, Herr Merck?“
„Ich ließ es am Bahnhot Lassen Sie nur, ich finde mein Zimmer allein."
Eine alte Aktenmappe unter den Arm geklemmt stieg der Fremde unter Verschmähung des Lifts die Treppen hinauf, während der Portier mit dem Chauffeur abrechnete.
„Komischer Kauz“, sagte der Taxifahrer
vertraulich zu dem anderen. „Ich dachte schon, er wolle mir durch die Lappen gehen.“
„In unserem Hotel verkehren keine Hochstapler“, verwahrte sich der Portier würdevoll.
„Na, so ganz sicher waren Sie zuerst auch nicht.“
„Stimmt, aber da wußte ich auch nicht, daß er aus Rußland kommt, da ist es nicht weiter verwunderlich, daß er kein deutsches Geld bei sich hat.“
„Und woher wissen Sie es jetzt?“
„Erstens war es russisches Geld, das er bei sich hatte, und zweitens steht es in der Anmeldung.“
Unterdessen hatte Merck im ersten Stock sein Zimmer gefunden. Es war gediegen-wohnlich eingerichtet, wie das ganze mittelgroße Hotel, in dem gewöhnlich die ostpreußischen Rittergutsbesitzer abstiegen, wenn sie in die Stadt kamen. Syamken hatte es einmal empfohlen, und ohne daß es ihm bewußt geworden, war ihm der Name über all die Jahre hindurch im Gedächtnis geblieben, so daß er sich jetzt seiner bedienen konnte. Syamken war der einzige, der wußte, daß er unterwegs war, unterwegs nach Hause.
Nachdem Merck sich seiner Kleider entledigt hatte, hängte er sie sorgsam über zwei Bügel, erst den Mantel, dann den Anzug und klemmte die Hose in einen Spanner, den er im Schrank vorfand. Alles geschah mechanisch und mit den geübten Griffen' eines peinlich ordentlichen Menschen. Während er sich die Zähne putzte, begegnete er seinem Spiegelbild. Er erstarrte in der Bewegung und schaute sich an, als hätte er sich noch nie gesehen. Das Neue, Beängstigende in seinem Anblick war, daß er sich zum erstenmal nicht mit seinen, sondern mit Andrys Augen betrachtete. Was würde sie zu der Veränderung sagen, die mit ihm vor sich gegangen war? Andry war eine Aesthetin, sie hatte eine ausgesprochene, fast überbetonte Vorliebe für alles Schöne und fühlte sich leicht von einem häßlichen Anblick
abgestoßen. Er hatte sie wegen ihrer Abhängigkeit von diesen äußerlichen Dingen oft geneckt. Auch in ihn hatte sie sich nach Ihren eigenen Worten nur deshalb so schnell und so gründlich verliebt, weil er ein ungewöhnlich gut aussehender Mann war — gewesen war, setzte Merck in Gedanken hinzu. Spöttisch verzog er den Mund. In den Jahren, die hinter ihm lagen, hatte er anderes zu denken gehabt, als auf sein Aussehen zu achten. Jetzt wurde ihm zum erstenmal voll bewußt, wie stark er sich verändert hatte. Die drei Jahre Rußland hatten ihm zugesetzt, als zählten sie doppelt. Seine Schläfen waren grau, eigentlich weiß, um ganz die Wahrheit zu sagen, und seine Magerkeit erschreckend. Am ganzen Körper besaß er nicht ein Quentchen überschüssigen Fettes, dadurch erschienen seine Züge schärfer als früher. Seine Gesichtsfarbe war gut, vielleicht hatte er wie gewöhnlich wieder erhöhte Temperatur. Er hüstelte ein wenig, unterdrückte es aber sofort. Er war nun in Deutschland, und seine Rolle hatte begonnen, die Rolle eines gesunden Mannes, Andrys Mann.
Trotz seiner Müdigkeit gelang es ihm lange nicht einzuschlafen. Als klarer und ehrlicher Mensch litt er unter der chaotischen Unordnung seiner Gefühle und Gedanken. Seit er die Röntgenaufnahme gesehen und die Diagnose des Arztes kannte, hatte er nur noch eine bestimmte Art von Gedanken bewußt zu Ende gedacht, sehr vieles aber, was sich ihm gewaltsam aufdrängen wollte, beiseite geschoben, und seine Klärung einem späteren Zeitpunkt überlassen. Alle seine Handlungen entsprangen von jenem Augenblick an nur noch einem blinden Selbsterhaltungstrieb. Er war sechsunddreißig Jahre alt und wollte leben. Er wollte Andry Wiedersehen, ihre Wärme spüren, sich an ihrem Frohsinn erheitern- Er mußte endlich den kleinen Detlev in den Armen halten, diesen blonden Jungen, der sein Sohn war und dessen erste Kindheitsjahre ihm verlorengegangen waren. (Fortsetzung folgt)