Leite 2 - Nr. 10S

Nagolder Lagblatt »Der «elellschafter*

Der Reichskanzler zur Alaggeafroge

Reichskanzler Dr- Luther widerspricht der Auffassung, daß versucht werde, den Reichspräsidenten zu un­mittelbarem Eingreifen in die Politik zu veranlassen. Der Reichspräsident nach seiner ganzen Art eine Persönlich­keit, die eigene Entschlüsse fasse. Die politische Verantwortlichkeit stehe allein bei der Reichs­regierung und in vorliegendem Fall beim Reichs­kanzler. Die Flaggenverordnung überschreitet in keinem Fall und in keiner Hinsicht die Grenzen der Ber- lafsung. Adg. Sollmann hat sich als Reichsinnenminister seinerzeit ausdrücklich damit einverstanden erklärt, daß das Deutsche Museum in München neben der schwarz-rot-goldenen und der blau-weißen auch die schwarz-weiß-rote Handelsflagge hißt. (Große Heiterkeit und Händeklatsschen rechts.) Das­selbe gilt von Herrn Oeser bei der Gewerbeschau in Mün­chen im Jahre 1921. Die Rechte des Reichsrats sind in keiner Weise verletzt worden- Die Reichsregierung ist dabei ganz im Einklang geblieben mit den bisherigen Maß­nahmen. Auch die Flaggenoerordnung des Reichspräsidenten Ebert ist dem Reichsrat nicht vorgelegt worden. (Lebhaftes hört, hört rechts.)

Biel wichtiger als diese formalen Fragen ist aber die sachliche Begründung. Zwischen den deutschen Gesandt­schaften und Konsulaten einerseits und der Bevölkerung andererseits sind politische und wirtschaftliche, aber auch ««sellschaftlichee Schwierigkeiten wegen der Flaggen­ftage entstanden. Es ist für die deutschen Beamten, die ins Ausland kommen, überaus schwer, zu erreichen, daß die Deutsche Kolonie als Einheit hinter den Gesandten steht. Ein großer Teil der Tätigkeit der Gesandten und Konsuls wird durch diese Flaggenzwistigkeiten in Anspruch genommen. Es ist sogar schwierig, Wahlkonsuls zu bekommen, weil diese in diesen Konflikt sich nicht einmischen wollen. Die größte Rot besteht aber da, wo es überhaupt verboten ist. andere Flaggen zu hissen, als diejenigen, die amtlich in einem an­deren Land zugelafsen sind. Das hat zu dem Ergebnis ge­führt, daß dort deutsche Farben überhaupt nicht mehr gezeigt werden und daß diese Betonung des Deutschtums dort völlig unterbleibt. (Gelächter links.) Der deutsche Handel und di« deutsche Wirtschaft leiden darunter. Wollen wir darauf verzichten, das Symbol des Deutsch­tums zur Geltung zu bringen? (Lautes Gelächter links und Rufe: Schwarz-rot-gold!) Wie kann Dr- Breitscheid von der Handelsflagge als der Flagge des Kaiserreichs sprechen? Di.se Handelsflagge steht doch in der Verfassung des Deut­schen Reichs. (Lebhafte Zustimmung rechts.) Sie ist doch in der Weimarer Nationalversammlung be­schlossen worden. Wir haben ein Interesse daran, daß drau­ßen im Ausland Farben gezeigt werden, die der Reichs­verfassung entsprechen. (Zustimmung rechts, lautes Gelächter links.) Die Uebersee-Deutschen hängen an den Farben schwarz-weiß-rot, weil sie die Ein- heHsfarben waren gegenüber der bisheri- en Kleinstaaterei. Schwarz-Weiß-Rot wurde 1867 e Handels- und Marineflagge des Norddeutschen Bundes- Auf dieser Grundlage ist die Gewinnung der ausländischen Märkte erfolgt. (Lebhafter Beifall rechts.) Damals wurde die Weltwirtschaft erschlossen. Daher hat auch die Weimarer Nationalversammlung diese Farben für die Handelsflagge genommen. (Zustimmung rechts, Widerspruch links.) Es ist Gestritten worden, daß der jetzige Zeitpunkt für den Erlaß G«r Verordnung der geeignete war. Der Tatbestand, der zur Lösung drängte, besteht aber seit vielen Jahren und wurde immer dringlicher. In der kurzen Zeit, in der ich unter dem Reichspräsidenten Ebert Kanzler gewesen bin, hat diestr aus dem Gesichtspunkt ernstester Sorge über die Verhältnisse bei den Ausländsdeutschen mit mir gesprochen und mich auf- Hesordert, einen Weg zur Abhilfe zu suchen. (Hört, hört bei Den Komm.) Der jetzige Vorschlag würde auch die Zustim­mung des Reichspräsidenten Ebert gesunden haben. Dann ist behauptet worden, daß Schwierigkeiten im Auslande ent­liehen würden. Aus der ausländischen Bresse kann man fest­

stellen, daß man sich dort um die Angelegenheit sebr wenig kümmert. Die Handelsflagge ist das stärkste Symbol des Friedens. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß die Verordnung durchaus ein Glied in der Kette des wirtschaftlichen Wiederaufbaus ist.

Es wurde von der Taktik der Regierung gesprochen, das Parlament mehr und mehr in den Hintergrund zu drängen. Davon kann keine Rede sein. Es gibt heute überhaupt keine andere Form, wo die Mitarbeit der Bevölkerung an den eigenen Geschicken möglich ist, als den Parlamentarismus. Der Kanzler bespricht weiter den Brief des Reichs­präsidenten. der das ernsteste Bestreben zeige, unser Volk zusammenzubringen. Die Durchführungder Verordnung ist in Kraft und bleibt in Kraft. (Hört, hört, links.) Wegen der Art der Durchführung hat sich die Reichsregierung dahin entschlossen, daß sie zweck- näßig nur so erfolgen kann, daß die Verordnung auf der ganzen Erde überall gleichzeitig ausgeföhrt wird (Stürmische Heiterkeit links). Darüber wird selbstver­ständlich ein Zeitraum vergehen, damit alle Punkte der Erde zunächst die genauen Ausführungsvorschriften erhalten. Be­züglich der allgemeinen Regelung betont der Reichskanzler den Standpunkt der Reichsregierung. Wenn es gelingt, schon in kurzer Frist eine Vereinbarung herbeizuführen, dann wird die Flaggenverordnung selbstverständlich hin­fällig. Es hat keinen Zweck, in dieser Zeit die Augen zu verschließen vor den Schwierigkeiten, die noch bestehen. Wir müssen aber allen Eifer daran setzen, diesen Flaggenzwist aufzuräumen. (Lebhaftes Zischen bei den Sozialdemokraten, stürmische Pfuirufe bei den Kommunisten. Die anderen Parteien verhalten sich schweigend, Beifall ertönt nicht.)

Damit ist die Rede des Reichskanzlers beendet. Das Haus beschließt Besprechung der Interpellation.

Die Sitzung wird um eine Stunde vertagt.

Neuestes vom Tage

Schulgesehanfrage der Deulschnakionalea Berlin, 11. Mai. Die deutschnationale Reichstagssraktion hat eine Große Anfrage eingebracht: Seit sieben Jahren wartet des deutsche Bolk auf Grund der Reichsverfassung auf den Erlaß eines Reichsschulgesetzes. Wann endlich gedenkt die Reichsregierung, dem dringenden Wunsch wei­tester Kreise der Forderung von Artikel 174 der Reichsver­fassung und den wiederholten Beschlüssen des Reichstags zu entsprechen?

Neuregelung der Erwerbslosenfürforpe Berlin, 11. Mai. Vom Reichsarbeitsministerium ist dem Reichsrat der Entwurf für die Neuregelung der Erwsrbs- losenfürsorge zugeleitet worden. Danach sollen die Unter­stützungssätze nach dem Arbeitseinkommen abgsstuft werde??.

Das neue polnische Kabinett Warschau, 11. Mai- Der Führer der Bauernpartei, Wito, hat die Bildung des Kabinetts übernommen, das sich aber nur auf die Nationaldemokraten, die christlichen Demo­kraten, die Bauernpartei und die nationale Arbeitern irre! stützt und daher keine Mehrheit im Sejm (Landtag) har. Es ist als nationalistisches Rechtskabinett zu bezeichnen.

Bom Generalstreik in England Lands». 11. Mai. Die Streiklage hat sich teilweise ver­schärft. Auf 92 Stahl- und Zinnplattenwerken, hauptsächlich in Swansea und Umgebung (Wales) sind sämtliche Hoch­öfen erloschen, und es wird hohe Kosten verursachen, sie wie­der in Betrieb zu setzen. Die Gewalttätigkeiten nehmen eher zu als ab. Andererseits hat die Londoner Untergrundbahn von 124 Haltestellen 80 wieder in Betrieb. Das Angebot der Freiwilligen, darunter viele Studenten, nimmt immer mehr zu. Bei der Südbahn sind 12 000 Angestellte zur Ar­beit zurückgekehrt. Auch die Straßenbahner in verschiedenen Städten melden kick teilweise wieder zur Arbeit.

Mittwoch, 12. Mai 1S2k

In Belfast sind'die Dockarbeiter ln den Streik getreten.

Im Unterhaus wurde die Frage gestellt, ob die Re- gierung erwogen habe, ob der Generalstreik nicht ungesetz- sich sei. Von seiten der Regierung wurde erwidert, die Frage werde erwogen, aber der Innenminister sei gegen­wärtig nicht in der Lage, eine Erklärung abzugeben.

Blutige Kämpfe iu Marokko

Paris, 11. Mai. Die Franzosen und Spanier machte» einen gemeinsamen Angriff gegen die Verteidigungsstellun­gen der Rifleute. Der Kampf dauerte mehrere Stunden und war sehr blutig. Die Verbündeten sollen einige Stellungen des Gegners besetzt haben. Gestern machten die Rifleute einen kräftigen Gegenangriff. Der Kampf soll noch an­dauern.

Nach einer Madrider Meldung soll Abd el Krim sei« 6 Millionen Peseten betragendes Barvermögen bei einer Bank in Melllla (!) binterlegt haben. Man schließe daraus, Abd el Krim fliehen wolle. (Melillo liegt in der spa­nischen Zone. Die Meldung ist höchst unglaubwürdig.)

Württemberg

Stuttgart, 11. Mai. Neuer Eisenbahnfahr­plan. In den nächsten Tagen erscheinen für den am 15. Mai in Kraft tretenden neuen Fahrplan der amtliche Taschenfahrplan In der kleinen (gelben) A"sgabr zum Preis von 80 L und der großen (roien) zum Preis von 1.50 Beide Ausgaben wurden verbessert und erweitert.

Stuttgart. 11. Mai. Bom Landtag. Im Finanz­ausschuß gab Finanzminister Dr. De hl in ger Aufschluß über den Rückgang der Wirtschaftlichkeit der Slaatssorstoer- waltung. Die Ursache liege in den höheren Löhnen, in den höheren Ausgaben für Wegbauten usw. Es handle sich um eine bleibende Erscheinung: immerhin stehe es in dieser Be­ziehung in Württemberg noch besser als m anderen Staaten. Präsident Dr. K ön i g teilte mit, die Löhne der Holzarbeiter seien gegenüber der Vorkriegszeit um 175 v. H. gestiegen. Die 36 Obersörsterstellen seien demnächst besetzt. Von den staatlichen Jagden seien 80 v. H. im Betrieb der Beamtun­gen, 20 v. H. werden verpachtet. Die Holzpreise seien mit Ausnahme des Brennholzes im Rückgang; dos hänge mit dem Raubbau an den Wäldern der neuen östlichen Staaten und mit der Beschickung des Holzmarkts durch Rußland, Schweden usw. zusammen, aber auch mit dem billigen Durch­fuhrtarif seitens der deutschen Reichsbahngesellschaft. Die Rentabilität der Forstverwaltung werde noch weiter zurück­gehen, und das nächste Jahr werde nach einmal Verluste bringen. Die Dienstaufwandsentschädigungen für die Forstwarte betrugen 1918: 116 -4t, heute: 240 -4t, bei den Landjägern 360 -4t. Es wurde ein Antrag angenommen, das Staatsministerium möge erwägen, Waldarbeitern, die 25 Jahre im Staatswald voll oder durchschnittlich jährlich 150 Tage gearbeitet haben, eine Dienstprämie von 100 -4t und bei weniger als 150 Tagen eine solche von 50 -4t zu ge­währen, Urlaubs- und Krankheitstage sowie Kriegszeit sol­len in die Gesamtdienstzeit eingerechnet werden, ferner den Förstern und Forstwarten wie seither 50 v. H. der Auf­wandsentschädigung der höheren Forstbeamten zu ge­währen.

70. Geburkskag. Der im Ruhestand lebende Amtsdekan Gros, früher in Schorndorf und Friedrichshafen, feiert am 12. Mai seinen 70. Geburtstag.

Jubiläum. Der Verlag Adolf Bonz u. Co. kann in diesen Tagen die Feier seines 50jährigen Bestehens begehen. Die Firma hat es verstanden, sich im Lauf der Jahre großes Ansehen zu verschaffen. Die von ihr verlegten Hauptwerke sind diejenigen Viktor v. Scheffels und Ludwig Ganghofers. Letztere sind in über 4>< Millionen Bänden verbreitet.

Pferdcversteigenrng des Gestüts Weil. Das Gestüt Weil bei Eßlingen brachte am Montag nachmittag 22 Pferde zur alljährlichen Versteigerung. Viele Schaulustige, aber wenig wirklich Kauflustige batten sich eing-funden. Nur 6 Pferde

Himmelfahrt

Wie sehr wir auch durch kaufend und aber tausend Er­scheinungen dieser Erde ungezogen und gefesselt werden, so zwingt uns doch eine innere Kehnsucht, den Blick immer wieder zmn Himmel zu erhebe«, well ein unerklärbrires tiefes Gefühl uns die lleberzeuguna gibt, daß wir Buraer jener Velten sin-, die so geheimnisvoll über uns leuchten, und daß wir einst dahin zurückkehren werden. Goethe

Christi Ehrentag

««danken zum Himmetsahrtssest.

Bon Hans Roessink.

Als (Gedenktag des Abschlusses der irdischen Laufbahn des Delterlösers feiert die christliche Kirche das Fest der Erhöhung des verklärten Gottessohnes, den Tag der Himmelfahrt. Mit festlicher Freude begeht sic diesen Tag: denn mit der Auffahrt zum Himmel gelangte Christus, nach der Erniedrigung seines freiwillig aus sich genommenen Erdenlebens, wieder in den Besitz der königlichen Herrschaft über Diesseits und Jenseits. Nach vollbrachtem harten Kampf und Sieg kehrte er als verklärter Erlöser der Menschheit triumphierend zurück, nachdem er die Macht der Finsternis und des Todes gebrochen und den Menschen die Hoffnung auf ewiges Leben nach dem unbefriedigenden Erdendasein geschenkt hatte. Darum ist der Himmelfahrtstag, wenn er auch bescheiden zwischen Ostern und Mingsten einge­bettet liegt, eins der hohen Freudenseste der Kirche. Denn es ist sür den Christen der höchsten Freude wert, wenn er einen Gott im Himmel weiß, der ein Mensch war wie wir: der nicht in ummhbarer Majestät ewig erhaben sein will über das Menschen­geschlecht. sondern uns als seinesgleichen betrachtet und zu sich zu erheben versucht. Mir nach! Dieser Himmelfahrtsruf des Erlösers ist durch die Jahrhunderte hindurch bis auf den heutigen Tag nickt verstummt: wie einst den Jüngern in der Scheidestunde auf dem Oelberg winkt auch heute jedem Christen das heilige, hocherhabene Ziel unserer Nachfahrt, die wir auf Christi Himmel­fahrt gründen.

Mir nach! Zum Himmelskönig ward der Herr an diesem Tage erhöht; zum Himmel weist uns die ernste Botschaft dieses Tages. Nicht zu gemächlicher Ruhe und genießender Fröhlich­keit entließ Christus auf dem Oelberge die im Glauben gereiften Jünger, sondern zu einem zwar an Erfolg, doch auch an Kämpfen und Streben reichen Apostel-Leben, zu ernster Arbeit im Wein­berg Gottes, zur Treue und todverachtenden Standhaftigkeit im Glauben. Der Lohn aber dieser Treue soll auch dereinst ihre Himmelfahrt sein.

Tief wurzelt der Unglaube in unserem Volke. So viele tun. ils sei die Himmelfahrt Christi für sie nichts als eine schöne, rite, fromme Geschichte, die man allenfalls, mit Rücksicht auf ?ie Kinder, einmal im Jahre zur Betrachtung hervorholen, sonst iber wie andere alte Wunder- und Kindergeschichten ruhig be­eile liegen lassen kann. Immer mehr verliert sich die rechte Lhristenfreudigkeit, um einer zwar an sich notwendigen und bc

verschleiernden' Freude an der"im Lenzschmuck prangenden Natur zu weichen. Das HimmelfahrtswortMir nach!" ist jedoch ein sehrer Wegweiser zur Höhe; und nicht wenige unter uns

sind schlechte Himmelswanderer, die von der Gnade der Auffahrt Christi wenig spüren. Denn diese Gnade ist es, die uns helfen und uns hinanziehen wird, auf daß wir einstmit dem wahren Glauben unsere Nachfahrt zieren" werden. Der Weg zum Himmel aber erfordert Mut und Ausdauer und gläubiges Vertrauen in Christi Auffahrt gen Himmel. Denn gleich dem untauglichen Bergsteiger, der einen schroffen hohen Felsgrad erklimmen will und alle Augenblicke hinter sich hinabsieht, so verliert auch der glaubensschwache Mensch bald den Mut und fällt zehnmal herab, ehe er einmal hinaufgelangt...

Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur! Dieses Vermächtnis des Herrn für seine Jünger am Himmelfahrtstag wurde der Ausgangspunkt der christlichen Glaubensverbreitung, die beiden Lehrern wie Heiden im Laufe von fast zwei Jahrtausenden zum Segen geworden ist. Denn es i st ein großer Segen, im Dienste des Heilandes arbeiten und zu seines Reiches Ausbreitung und Sieg dienend Mitwirken zu können. Der Glaube wächst mit seiner Betätigung. Gott zu dienen, das Gute zu fördern und das Döse zu hassen, ist jedoch jeder Christ ohne Ausnahme imstande. Hier ist kein Unterschied; und manch redlich frommer Bauersmann, der das Himmelfahrtsfest inmitten seiner frühlingskräftigen Felder schlicht zu feiern wußte, mag schon dem einen oder anderen gelehrten Zweifler zur Stär­kung und Erneuerung des Glaubens verhaften haben. Denn kaum irgendwo ist, so paradox es scheinen könnte, die schlichte, aber feste Verbundenheit mit der Ewigkeit so ausgeprägt vor­handen als dort, wo erdverwachsene, der Scholle verbundene Menschen täglich in der noch unverstümmelten Natur den Atem Gottes fühlen. _ _

Himmelfahrt

Skizze von Paulrichard Hensel.

Jedesmal, wenn Robert Winds nach Hause kam, hatte er eine Frage für seine Frau gehabt:Du siehst blaß aus, soll ich eine Stunde mit dir fortgehen?" «Hast du dies oder jenes gelesen hast du mir das gesucht, worum ich dich bat?" Fragen, die nicht so sehr eine Antwort verlangten, als daß sie eben nur beweisen sollten, jetzt ist die Arbeit für den Mann beendet, und er tritt in den Kreis seiner Familie und will teil­haben an ihr. Aber Frau Gertruds Antwort war immer die­selbe gewesen:Ich habe keine Zeit, ich muß bei dem Kinde bleiben!" Bisweilen hatte er dann noch versucht, diese Sorgen mit sachlichen Gründen oder scherzhaft gemeinten Einwänden obzuschwächen. Aber dann butte ihr. Grrtrud flammend an gesehen:Cs gibt nichts Wichtigeres füi eine Mutter als ihr krankes Kind!"

T-eser Schatten in seinem Hause war Robert Winds Ge wohnheit geworden. Er hatte sich oen Krankheitszustand seines Kindes von dem Arzt eindeutig erklären lassen, er wußte, was er tun mußte und tun durfte, aber er wußte auch, wo die Grenze war, über die hinaus menschliches Zutun nichts vermochte. Rat­los aber war er dem Verhalten seiner Frau gegenüber, deren

Gedanken sich seit Beginn der Krankheit nur noch um das Kind drehten, für die die Welt ausgelöscht war, und die jede Möglich keit der Erholung und Aufheiterung wie eins Sünde von sich wies. Und es gab diele Möglichkeiten. Es nutzte dem Knabe«

nichts, wenn sie neben ihm saß: und sie fehlte dem Manne. Er, dem heftige Worte oder gar Streit fast körperlich weh taten, saß still in seinem Zimmer, arbeitete, blieb dann oft viele Stun­den länger in seinem Büro, weil es doch belanglos war, ob er hier saß oder dort. Man fragte nicht nach ihm, und er dachte bisweilen:Lebte nicht einmal hier ein Kamerad mit mir?" Und sagte doch nichts, daß er etwas vermisse.

Aber Schweigen ist noch schlimmer als heftige Worte. Beide, Mann und Frau, spürten das Aufkeimen einer unbestimmbaren Gereiztheit, fühlten stille Vorwürfe gegeneinander, die unsicht­bare, verderbliche Last des Nichtoerstehens, und mieden sich mehr denn je. Die freundlichen Worte in Robert Winds Hause wur­den selten; die Gestalt des Mannes wurde gebückt und ver­nachlässigt; die Frau kam kaum noch aus dem Zimmer des kranken Kindes. Und der Knabe wurde nicht gesund ...

Bitterernste Stunden kamen für Robert Winds, als es dann später galt, die Frau zum Begreifen des unabwendbaren Ge­schehens zu bringen. In rasender Verzweiflung war sie durch, die Zimmer gelaufen, hatte geschrien und gegen alle Welt ge­klagt, nicht wissend, wer um sie war. Physisch gebrochen, am Ende ihrer Kräfte war sie, als sie dem Knaben das letzte Ge­leit gab ...

Still verstrichen die folgenden Tage. Robert Winds saß in seinem Zimmer, wie es ihn die Zeit gelehrt hatte. Er wußte kein Wort mehr, das eine Brücke bauen könnte, und war Z« schwach geworden, neue Enttäuschungen zu verwinden. Und er wußte selbst nicht, wie ihm geschah, als dann einmal am Abend man war nach dem Essen still am Tisch sitzen geblieben Gertrud zu ihm sagte:

Du hast so magere Hände bekommen."

Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.Es ist nicht schlimm. Man wird doch alt" ...

Hatte dieses Wort dieFrau erschreckt? Wie unbewußt hatte sie die Hand des Mannes genommen, hatte lange vor sich hin­gesehen, als wolle sie Gedanken, die sich längst verlausen hatten, zurückrufen, und sagte dann:

Wir sind so selten beisammen"

Da fühlte Robert Winds, daß in diesen Worten alles lag, was die Wände zwischen dieser Frau und (hm einreitzen konnte: Berstehen und Zueinanderkommen und Frieden. Und nun erst wurde ihm bewußt, daß es der HImmeftahrtstag war, an dem sic ihr Kind zu Grabe getragen hatten, und was für sie nur die Bedeutung dieses Tages sein konnte: daß sie wieder zueinander fanden, und daß in ihren Gedanken das Kind weiter unter ihnen lebte, der irdischen Sorgen ledig. Gleichwie Christus unter den Jüngern weiterlebte, denen er beisammen zu bleiben ge­boten hatte ...

Aber er fühlte auch, daß die Sprache kein Wort für diese Stunde geschaffen hatte. Mit beiden Händen hielt er die zag­haft streichelnde Hand der Frau fest, ganz fest

So saßen sie lange und lauschten