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Rr. 98
Begründer 1828
Donnerstag den 29. April 1926
Fernsprecher Nr. 29
Ivo. Jahrgang
Lage-spiegel
Dr. Luther über Politik und Wirtschaft
Am zweiten Tage seiner Nnkerfrankevfahrt erklärte Dr. Held in einer Rede in Aichassenburg unter starkem Beifall u. a.: Wenn er s?ber die Außenpolitik seine eigene Meinung ausspreche, so sei dies sein gutes Recht. Man dürfe ihm dar- ans keinen Vorwurf mache». Es solle dies auch keine Kritik der Reichsrcgierung sein. Derjenige liebe das Vaterland am meisten, der im gegenwärtigen Augenblick den Mut besitze, «och einmal eine Warnung ausznsprechsn.
Ja Saarbrücken sind mehrere lausend Arbeiter der Eisen- bahawerkstätken wegen Lohnforderungen in den Aus stand getreten.
Bei den Kämpfen zwischen Hindus und Mohammedanern in Kalkutta sind in den letzten fünf Tagen 38 Personen getötet «ad 250 verletzt worden.
Ein Ost-Locarno in Sicht?
Randstaaten oder, um den bildhafteren Ausdruck dafür zu gebrauchen, Pufferstaaten, sind ein beliebtes Mittel der Politik, hinter dem vor allem militärische Rücksichten stehen. In diesem Sinn kann man auch die Bemühungen Frankreichs, einen selbständigen Rheinstaat zu bilden, als Randstaatenpolitik bezeichnen. Auch das Deutsche Reich verfolgte im Osten als Kriegsziel gegenüber Rußland bewußt eine Randstaatenpolktik» ebenfalls vornehmlich aus militärischen Gründen. Durch die Loslösung der ehemaligen Ostseeprovinzen von Rußland und durch ein selbständiges, ober unter dem Einfluß der Mittelmächte stehendes Polen und weiter durch ein an die Mittelmächte sich anlehnendes Rumänien sollte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ein« Schranke geschaffen werden, die das Gebiet der Mittelmächte vor der Gefahr schützte, abermals in einem Krieg mit Rußland wieder Kriegsschauplatz zu werden. Zugleich mit der trennenden, sollte Liese Randstaatenschranke aber auch eine verbindende Aufgabe haben, indem sie den Verkehr nach und von Rußland ermöglichte und ihn womöglich unter die Aufsicht der Mittelmächte brächte. Mit der Niederlage der Mittelmächte ist dieser Wan hinfällig geworden, wobei überdies dahingestellt bleiben mag, wie lange solch eine Randstaatenpolitik überhaupt hätte aufrecht erhalten werden können, denn sie fetzte voraus, daß die Randvoller unter sich und mit denen der Mittelmächte stets gleichgerichtete politische und wirtschaftliche Interessen gegenüber Rußland hätten und auf ein politisches Eigenleben verzichteten. Das war und ist aber, wie sich unterdessen längst gezeigt hat, keineswegs der Fall.
Bei den Friedensverhandlungen'griffen unsere früheren Gegner den deutschen Plan dieser Randstaatenpolitik aus, «rm ihre Spitze gegen Deutschland und zugleich auch gegen das von dem Verband abgefallene «nd in einen Gegensatz zu ihm getretene Rußland zu wenden, vornehmlich jedoch freilich, um mit diesen Pufferstaaten einen militärischen Ring um Deutschlandzu legen. Die Gefahr für die Randstaaten, daß Rußland nach seiner Neuerstarkung wieder Anspruch cnrf diese keine ehemaligen Gebietsteile erheben könnte, einerseits und die Furcht vor dem Bolschewismus anderseits unterstützten zunächst die Randstaatenpolitik, deren hauptsächlichster Antreiber Frankreich war, und hinter der, zunächst wenigstens, auch England stand. Aber bald zeigte sich doch auch die innere Brüchigkeit dieser Bestrebungen- Trotz seiner militärischen Machtmittel liegt Frankreich doch sebr weit, Rußland aber ist nahe, so daß in einem Kriegsfall die Randstaaten doch vollkommen auf sich selber gestellt aewesen wären. Das endgültige Schicksal der französischen Hilfsheere ln dem unendlichen russischen Raum ließ die Form der Hilfeleistung nicht sonderlich aussichtsreich erscheinen. Deshalb ging folgerichtig die französische Randstaatenpolitik dahin, einen engen militärischen Zusammenschluß aller Randstaaten herbeiznfübren. Er ge'ang nur zwischen Rumänien und Polen: alle Bemühungen, auch den nördlichen Teil der Schranke militärisch zu schließen, blieben dagegen erfolglos. Der Grund dafür lag zwar zunächst wohl in der Hauptsache in dem polnisch-litauischen Gegensatz, aber auch Lettland, Estland und Finnland vermochten sich mit Rücksicht auf ihre eigenen Lebensinteressen nicht zu entschließen, einem ausdrücklich gegen Rußland gerichteten Bund beizutreten. Der Raub Wilnas durch Polen galt und gilt ihnen mit Recht als ein Busverfaß, und sie waren auch eingedenk der Worte Lloyd Georges in Genua, daß es im Osten keine Grenze gäbe, die nicht heiß umstritten sei, und daß eine jede in sich die Möglichkeit zu einem ernsten Zwist trage. Polen berief fortgesetzt Rand- ftaatenkonserenzen ein, von Lenen aber fast jede das Schicksal hatte, ein oder gar mehrere Male unter verhältnismäßig «richtigen Borwänden vertagt zu werden. Litauen hat sich indessen niemals an diesen Konferenzen beteiligt, und auch das Interesse der andern Staaten nahm dauernd ab, weil sie immer deutlicher erkannten, daß sie zu einem Werkzeug und endlich mit Sicherheit auch zu einem Opfer des polnisch-russischen Gegensatzes hätten werden müssen. Ein polnisch-russischer Krieg hätte Ihrer Selbständigkeit wahrscheinlich schnell ein Ende gemacht. Auch die Hinweise Polens auf die bolschewikische Gefahr, die ihnen von Rußland drohe, verfingen bei den Randstaaten schließlich nicht mehr- To erschöpfte sich das Ergebnis der jahrelangen Verhandlungen zwischen Polen und Lettland, Estland und Finnland m einem mehr oder weniger nichtssagenden Schiedsgerichts- vertroa und in einioen wirtlcdältlichen Abkommen. Die
Berlin ?8. April. Auf dcm Industrie- und Handelstag hielt heute Reichskanzler Dr. Luther eine Ansprache. Cr führte aus: Im Vergleich zur Zeit nach Beendigung des Weltkriegs und des Nnhrkompss sei unbestreitbar die politische und wirtschaftliche Lage Deutschlands besser geworden, doch sei es von einer wirklichen Genesung des Volkslebens noch weit entfernt. Die Zahl der Erwerbslosen sei erschreckend hoch, lind wenn auch endlich seit 1925 die Ausfuhr wieder zu steigen begonnen habe (im März um IM Millionen gegenüber dem Februar), so sei Deutschland doch nur mit einem Vierzehntel am Welthandel beteiligt gegenüber einem Achtel vor dem Krieg. Aber wir dürfen jetzt mit dem Bewußtsein an die Arbeit gehen, daß jetzt endlich die wirkliche Arbeit beginnt- Ein trostreiches Zeichen sei der wieder zunehmende Sparsinn. Ende 1924 betrugen die Spareinlagen kaum 1H Milliarden, Ende 1925 dagegen 29- Milliarden Mark. Auch die Hinterlegungen bei den Banken haben erheblich zugenommen. An Pfandbriefen und anderen festverzinslichen Werten sind in den ersten vier Monaten 1926 400 bis 450 Millionen Mark vom Kapitalmarkt ausgenommen worden. Der Zinsfuß ermäßigt sich. Die Gel d- und Kreditinstitute haben daher nunmehr die Pflicht, infolge der Stärkung ihrer Stellung alle Kraft auf den Ausbau der übrigen Wirtschaft zu verwenden. Der Gefahr, die von den neuen unerfüllbaren Auswertungsbcstrebungen ausgeht, sei die Regierung durch die Gesetzvorlage (daß solche die Reichssiuan- zen berührenden Volksbegehren nur vom Reichspräsidenren ausoeben dürfenl entaeaeuaetreton.
.RandstciakenpolitikPolen-Frnnkreichschei- .terte, ohne daß diese Tatsache damals gleich besonders deutlich offenbar geworden wäre.
Das ist erst jetzt geschehen durch Besprechungen, die, im Zusammenhang mit den seit Ende 1924 schwebenden Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland, augenblicklich zwischen diesem und Litauen gepflogen werden und die auch Verhandlungen mit den andern nördlichen Randstaaten zur Folge hatten. Es kannte für Rußland kein Zweifel darüber bestehen, daß die Regierungen der Randstao.len sich einem Vorschlag für Neutralitätsverträge nicht entziehen würden, einmal, weil für sie der Abschluß eines Neutrali tätsvertrags mit Rußland die durchaus willkommene Gelegenheit zur Loslösung von der polnischen Politik bedeutete, zum andern, weil eine Ablehnung ihnen die ausgesprochene Gegnerschaft Rußlands eingetragen bätte. Die Verhandlungen schweben, und es ist wohl sicher, daß sie, zumal nach Abschluß des deutsch-russischen Vertrags, zu einem guten Ende führen werden. Vom deutschen Standpunkt aus sind solche Neutralitätsverträge durchaus zu begrüßen. Nicht allein deshalb, weil sie den Mißerfo'g der Einkreisungspolitik Frankreichs besiegelten» sondern auch ganz allgemein deshalb» weil sie auf der Linie der deutschen Bemühungen um die Befriedung Osteuropas liegen. Man darf diese Abkommen deshalb mit Recht als ein Ost-Locarno bezeichnen, mag dabei auch ein wesentliches Merkmal des Mest-Locarnos, nämlich die Mitwirkung des Völkerbunds, fehlen.
Es ist das Kennzeichen der neuen Randstaatenpolitik Rußlands, daß sie auf eine Vereinzelung der südlichen Randstaaten, nämlich Polens und Rumäniens, hinzielt, die man, nach dem Stand der Verhandlungen, heute schon als vollzogen a-.sehen kann. Rußland hat es vollbracht, Polen politisch und militärisch zu schwächen und zu vereinzeln. Zwar sollen auch zwischen Warschau und Moskau Verhandlungen über Len Abschluß eines Neutralitätsvertrags schweben. Wie der russische Volkskommissar Litwinow äußerte, stehen einer politischen und wirtschaftlichen Verständigung aber deshalb große Schwierigkeiten entgegen, weil aufPolenfremde Einflüsse einwirken: auch die Erneuerung des polnisch-rumänischen Vertrags vermindere die Verständigungsoussichten mit Polen. Dieser polnisch-rumänische Vertrag ist ganz deutlich gegen Rußland gerichtet zur Verteidigung polnischen Gebiets, nämlich Bessarabiens, das Rußland ebenfalls zurückfordert. Wenn zwischen Polen und Rußland ein Neutralitätsvertrag tatsächlich zustande kommen sollte, was aber wohl wenig wahrscheinlich ist, weil sich die neue Rand- stoatenpolitik ja, wenn auch nicht offen ausgesprochen, so doch in ihrem eigentlichen Sinn, gegen Polen richtet, so ergäben sich auch hierbei die gleichen Schwierigkeiten wie bei dem deutsch-russischen Vertrag, denn selbst wenn das polnisch- rumänische Abkommen mit den Bestimmungen der Völkerbundsatzung im Einklang steht, so ist es doch undenkbar, daß Polen zur gleichen Zeit einer Verbindung ungeklärt, die ausdrücklich aegen Rußland gerichtet ist, während es auf der andern Seite sich zur Neutralität geaenübor Rußland verpflichtet. Polen hätte also zwischen Rußland und Rumänien zu wählen.
Liegt also ein polnisch-russisches Abkommen noch weit im Felde, so ist doch schon so viel klar zu erkennen, daß der großzügige Plan einer Einkreisung Deutschlands und Rußlands mit Hilfe der Randstaaten fehlgeschlagen ist. Er mußte an seiner Un- vatürlickkeit scheitern. Auf jeden Fall bat sich die r u s s i s ch e
Das verflossene Jahr habe sichtbare Forlichritte in oer Aefriedung der Welt gebracht. Selbstverständlich sei das Ziel der Befriedung erst erreicht, wenn auch die 2. und 3. Rheinlandzone geräumt sei. Durch die Abmachungen von Locarno sei eine Verringerung der Besatzungs- truppen erreicht, die freilich noch erheblich hinterden berechtigten Wünschen Deutschlands zurück bleibe, und auch die Note der Botschafterkonferenz vom November vorigen Jahres noch nicht verwirklicht haüe. Die Vorgänge in Genf haben die politische Entwicklung des friedlichen Wiederaufbaus nicht abgebrochen. Auch der neue Vertrag mit Rußland sei als lebendiger Fortschritt aus der Bahn der allgemeinen politischen Beruhigung zu betrachten. Deutschland müsse alles tun, um sich dem weltwirtschaftlichen Warenaustaausch io stark wie möglich wieder anzufügen. Hierfür gebe es drei Wege: 1- Die Handels- verträge, 2. die allgemeinen Bestrebungen auf internationale Verständigung und 3. die private» Verständigungsmaßnahmen. Den Arbeiten der Weltwirtschaftskonferenz sei vom deutsche« Standpunkt bester Erfolg zu wünschen. Für Deutschland bleibe die Qualitätsarbeit die beste Grundlage für eine Sicherung des Auslandsgeschäfts. Für Deutschland
seien Kolonien unbedingt notwendig. Die deutsche Regierung bemühe sich vor allem, in Rußland neue Absatzmärkte zu schaffen. Die Reichsregierung habe eine Ausfallbürgschaft übernommen, um die Einzelstaaten dazu zu veranlassen, bei Lieferungsgeschäften für Rußland ebenso vorzugehcn.
Diplomatie der englischen und französischen mindestens gewachsen gezeigt.
Letklä'ndisch-estnische Verbindung?
Riga, 28. April. In einer Zusammenkunft des lett- ländischen Außenministers Albats mit dem estnischen Außenminister in Reval hat Albats die Bildung eines ständigen gemeinsamen Ausschusses vorgeschlagen, der die äußere, innere, wirtschaftliche und finanzielle Pslitik der beiden „Randstaaten' beraten und vereinheitlichen soll. Der Ausschuß könnte sich allmählich zu einem gemeinsamen Oberhaupt entwickeln. Die andern baltischen Staaten könnten später beitreten.
Russische Sicherheitsverträge auch mit Skandinavien
Kopenhagen, 28. April. Der neue russische Gesandte in Norwegen, Makar, der Nachfolger der Frau Kalontaj, ist i, Oslo eingetroffen. Nach einer Moskauer Nachricht der Ber- lingske Tidende ist er beauftragt, den Abschluß russisch-skon-i- naoischer Sicherheitsverträge vorzubereiten.
Deutscher Reichstag.
Die Fürstenabfindung
Berlin, 28. Aprst.
190. Sitzung. Präsident Löbe beglückwünschte den Abg. Bock-Gotha (Soz), dessen Platz mit einem Strauß roter Nelken geschmückt ist, zum 80. Geburtstag. Mit kurzen Unterbrechungen gehörte Abg. Bock 42 Jahre lang dem Reichstag an.
Zur Verhandlung steht dann der Gesetzentwurf über die Bestrafung des Zweikampfes. Darnach kann bei einer wegen Duelloergehens erkannten Strafe auf Verlust der bekleideten öffentlichen Aemter und bei Soldaten auf Lösung des Dienstverhältnisses erkannt werden. In besonders schweren Fällen muß hierauf erkannt werden.
Reichsjustizminister Dr. Marx bittet um schleunige Erledigung der Vorlage, die noch vor dem 1. Mai erledigt werden müsse. Der Gesetzentwurf wird dem Rechtsausschuß überwiesen.
Zur Verhandlung steht dann der durch das Volksbegehren zur Vorlegung an den Reichstag gelangt« sozialdemokratisch-kommunistische Gesetzentwurf zur Enteignung der Fürstenoermögen. Auf Antrag der Völkischen wird mit der Debatte ein Gesetzentwurf ,Lur Enteignung des Vermögens der Dank- und Börsenfürsten und anderer Volkspara- fiten" verbunden.
Abg. Dr. Rosenseld (Soz.) kritisiert die Vorgänge im Rechtsausschuß. Alle anderen Mittel versagen, es bliebe nur der Volksentscheid und die entschädigungslos« Enteignung der Für- n. Die Habgier der Fürsten, die durch die Justiz noch unterstützt wurde (große Unruhe rechts), habe dem Volksbegehren viele Stimmen aus allen Parteien zugeführt. Die unersättliche Gier nach Reichtum fei das Kennzeichen der deutschen Fürsten. Die Fürsten haben das deutsche Volk in den Krieg gestürzt. (Große Unruhe rechts und Zuruf: „Geschichtslüge^
Abg. Graf Westarp (Dntt.) lehnt den Enteignungs gesetzentwurs ab. Eine Begründung dieser Ablehnung er übrige sich. Sie sei selbstverständlich. Dieses erste Volksbegehren sei ein Begehren des Unrechts und de» Raubs Die Linke beruft sick aus di« 12,5 Millionen Stim-