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Samstag den 23. Januar 1926

Fernsprecher Nr. 2S

100 . Ladraana

Tagesspiegel

Reichspräsident v. hindeaburg hat der Skadtverwalkung 1» Bonn mikleilen lasier», daß er wegen der schwierigen Zeit- Verhältnisse seinen Besuch im Rheinland bis zum Sommer Verschieben wolle. Die Kölner Zone ist auch noch lauge «icht vollständig geräumt.

Rach einer französischen Meldung haben die englischen Bergarbeiter den Streik beWoffen. weil alle vom 1. Febr. an eingestellten Arbeiter niedrigere Löhne erhalten sollen. Vie Gewerkschaftsführer seien gegen den Streik.

Sa Madrid finden Besprechungen, die von Frankreich angeregt worden find, über eia weiteres Zusammengehen V»a Franzosen «ad Spaniern in Marokko statt.

Politische Wochenschau

Zwei Monate, oder wenn man vom Ausscheiden der Leutschnationalen und des dem Zentrum angehörigen Ju- «gminifter aus dem Kabinett an rechnet, rund drei Monat« rang hat sich das Deutsche Reich mit einem geschäftsführen­den Kabinett begnügen müssen, wo nur die laufenden Ge­schäfte, wie es eben ging, erledigt wurden, und zu allem andern der Reichskanzler erklären mußte, das müsse der künftigen Regierung Vorbehalten bleiben. Dieser ungesunde Zustand dauerte unter allen Umständen zu lang. Es war berechtigt, die Krise aufzuschieben, bis der Vertrag von Lo­carno unterzeichnet war, aber dann hätte die Lösung be­schleunigt werden müssen. Rach allgemeinem Urteil haben während der Regierungsbildung die Zügel etwas am Boden geschleift. Nachdem die aussichtslosen Verhandlungen um die Große Koalition, die durch die Einschaltung großer Un- iStigkeitspausen nichts gewonnen haben, erledigt waren und Dr. Luther mit der Kabinettsbildung beauftragt war, erwartete man die sonst gewohnte starke Hand des Reichs­kanzlers, und man konnte hoffen, daß er den Parteien nun­mehr den Spiegel der Verantwortung Vorhalten werde. Denn daß die Parteien Regierungskrisen nicht lösen können, bedurfte keines neuen Beweises. Aber Dr. Luther P, wie es scheint, doch selbst etwas in die Stimmung der parteipolitischen Gegensätze hineingeraten. Zum Glück ist chm ein Retter in der Person des Reichspräsidenten »vnHindenburg erstanden, der am letzten Montag die Parteiführer in nicht mißverständlicher Weise aus den Ernst ber Lage hingewiesen und von ihnen verlangt hat, sich bin­nen weniger Stunden über eine vom Reichskanzler vorge­legte Liste über die Besetzung der Ministerien endgültig zu -uüern. Tin diesem Augenblick sahen sich die Parteiführer »nd die Fraktionen vor die Verantwortung gestellt, einen ernsten Entschluß zu fassen, und siehe da, es ging.

Di« Ministerliste Dr. Luthers war natürlich auf dem Er­gebnis der bisherigen Verhandlungen aufgebaut. Abgesehen von dem Reichskanzler, der sich keiner Partei zurechnet, sind drei Minister dem Zentrum entnommen, je ebenso viele der Deutschen Volkspartei und der Demokratischen Partei und einer» der bisher schon amtierende Reichspostminister 6 tingl, gehört der Bayerischen Volkspartei an. Vier Mi­nister treten neu in das Kabinett ein, die übrigen gehörten schon dem vorigen Kabinett an. der frühere Reichskanzler Dr. Marx kehrt als Justizminister ins Kabinett zurück. Aus demRumpfkabinett" ist nur der Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Graf Kanitz ausgeschieden, der durch ein Zentrmnsmitglied ersetzt wird.

Es war die Absicht des Reichskanzlers, die Fübrer der Mittelparteien in das Kabinett aufzunehmen. Das war vielleicht nicht ganz richtig, denn es gab Veranlassung zu einem Streitfall, der in letzter Sttmde noch die mühsam ge­schaffeneneutrale Regierung der Mitte" über den Hausen M werfen drohte. Neben Stresemann und Marx sollte Dr. Koch, der Führer der Demokraten, mit einem Ministerium betraut werden. Koch hatte früher schon einmal dieses Amt bekleidet und war damals in einen scharfen Kampf mit dem bayerischen Diktator von Kahr geraten; er hatte außer­dem eine Denkschrift verfaßt, die sich scharf gegen denbaye­rischen Partikularismus" wandte und möglichst strenge Zu­sammenfassung der Gewalt in der Hand der Reichsregiernng verlangte, was man mit dem schönen FremdwortUni- karismus" bezeichnet. Die Fraktion der Bayerischen Volks­partei erklärte, ein Kollege wie Koch sei für sie unerträg­lich in der politischen Amtssprache gebraucht man dafür das sprachlich ungeheuerliche Wortuntragbar"; wenn Koch trotzdem das Innenministerium übernähme, so würde die Fraktion der Bayerischen Volkspartei es vorziehen, die Reihen der Opposition zu verstärken. Da nun aber die vier Mittelparteien" ohnedies stark in der Minderheit sind, hätte der Verlust der 19 Stimmen der Bayerischen Volkspartei der Regierung den Boden entzogen. Der Streit fand seine Lösung in dem Verzicht des Dr. Koch, für den der Ober­bürgermeister von Dresden, Dr. Külz, Innenminister wurde. Die Stadt Dresden hat ihm den Oberbürger­melsterposten vorsichtigerweise offen gelassen, denn heutzu­tage gibt es nichts kurzlebigeres als einen Minister. Külz ist, soviel die Oeffentlichkeit erfuhr,unitaristisch" nicht so schwer belastet wie Koch, aber parteipolitisch soll er noch weiter links stehen. Das Reichsfinanzministerium erhielt der Demokrat Dr. Reinhold, bisher Finanzminister in Sach­sen. Da aber auch der Reichswehrminister Dr. Geßler der Demokratischen Partei angehört, so kann diese Partei mit der unverhältnismäßig starken Beteiligung einen reich­kicken Erlab kür den Verzicht Kochs buchen.

Kritische Lage der Reichsbahn

Kein Eintritt in de« Völkerbund 7

Berlin, 22. Jan. Nach amtlicher Mitteilung ist die Reichs­bahngesellschaft nicht mehr in der Lage, die er­forderlichen Erneuerungsarbe i t e n an den Gleisanlagen vorzunehmen. Diese Fahrbahn macht etwa 21 v. H. des gesamten Anlagekapitals aus. Die stete Erneuerung ist im Interesse des Verkehrs nötig. Die Beschleunigung des Verkehrs hängt von dem Zustand des Oberbaus ab. Vor dem Krieg wurden jährlich 5,53 o. H- (das sind rund 4000 Kilometer) der durchgehenden Haupt- gleise erneuert. In den Jahren 1915 bis 1924 war es nach der wirtschaftlichen Lage nur möglich, etwa 2,5 v. H. (rund 8100 Kilometer) zu erneuern, trotzdem mindestens 4 v. H. (3000 Kilometer) hätten erneuert werden müssen. Die Reichsbabn ist also mit 9600 Kilometer im Rückstand und kann deshalb nicht mehr die im Interesse der Wirtschaft gewünschte Verkehrsbeschleunigung durchführen. In Wirklichkeit ist also die Reichsbahn gezwungen, aus der Substanz zu leben. Zehrt doch die Nichtdurchfübruna des notwendigen Oberbauprogramms an dem Material, zumal 520 Millionen Mark jährlich aufgewendet werden müssen für die planmäßige Ilmänderung» Erneuerung und Nach­holung der Rückstände.

Antrag auf Aussetzung der Anmeldung zum Völkerbund Berlin, 22. Jan. Die Deutschnationale Fraktion hat im Reichstag den Antrag eingebracht, den Antrag auf Auf­nahme in den Völkerbund nicht zu stellen, bevor die Auslegung der deutschen Regierung über den Locarno-Vertrag (kein Verzicht auf deutsches Land und Volk), freies Kündigungsrecht usw. anerkannt, die Be­schränkungen der Luftfahrt aufgehoben und die einseitige Militärüberwachung ausgeschlossen sind; bevor ferner die Abrüstungskonferenz mit einem befriedigenden Ergebnis abgeschlossen und der amtliche Widerruf des abqezwungenen Schuldbekenntnisses allen Vertragsmächten bekanntgegeben, das deutsche Recht auf Kolonien anerkannt und der Schutz der deutschen Minderheiten in allen Staaten sichergestellt ist; bevor endlich die Kölner Zone vollständig geräumt, die Besetzungsfristen der 2. und 3. Zone wesentlich abgekürzt, die Abstimmungsfrist für das Saargebiet bindend gesichert und für die Zwischenzeit die Besatzungsstärke aus den deutschen

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Ministervorstellung beim Reichspräsidenten

Berlin. 22. Jan. Der Herr Reichspräsident hat sich heute mittag die neuen Kabinettsmitglieder, die er persönlich noch nicht kannte, Dr. Marx, Külz und Reinhold, vorstellen lasse». '

Die Fürstenabfindung

Berlin, 22. Jan. Im Reichsausschub des Reichstags er­klärte der bayerische Gesandte v. Preg er, die bayerische Regierung stehe auf dem Standpunkt, daß die Ordnung de» Verhältnisses zwischen den Einzelstaaten und ihren Fürsten­häusern eine staatsrechtliche Angelegenheit sei, für die «» keines Reichsgesetzes bedürfe. Eine Verpflichtung der baye­rischen Staatsregierung, dem Reichstag über rein bayerische Angelegenheiten Auskunft zu geben, könne von bayerischer Seite nicht anerkannt werden. Aus Höflichkeit habe sich die bayerische Regierung die Auskunft jedoch nicht verweigert. Ministerialrat Neumayer teilte darauf mit, auf Grund gütlichen Uebereinkommens und durch Landesgesetz sei ein Wittelsbacher Ausgleichsgrundstock" errichtet worden, neben den beweglichen und unbeweglichen Gütern ein Kapitcü von 40 Millionen Papiermark. Außerdem erhielten die Mitglieder des Königshauses, die auf ihre Ansprüche aus Bestandteile öffentlicher Sammlungen verzichteten, 20 Mil­lionen Papiermark. Das Haus Wittelsbach verzichtet aus alle Rechte an dem ausgedehnten Eigentum des Haussidei- kommisses, Abg. Rosenfeld (Soz.) fragte, ob die Rente an die Witwe Eisner-Kusmanowskis aufgewertet worden sei. Ministerialrat Neumayer erwiderte, er sei nur zur Be­sprechung der Auseinandersetzung Bayerns mit dem Königs­haus erschienen und könne über die Frage Rosenfelds keine Auskunft geben. Hieraus vertagte sich der Ausschuß.

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Die Regierungsparteien beabsichtigen einen Vermittiungs- antrag einzubringen, wonach alle noch nicht prozeßmäßia erledigten Fälle der Fürstenabfindung nach dem Gesetz und unter Berücksichtigung der finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse von einem Reichssondergesetz entschieden werden sollen. Wenn beide Parteien es wünschen, sollen auch bereits erledigte Fälle diesem Gericht überwiesen wer­den können.

Man hat die neue Regierung einKabinett der linken Mitte" genannt, nicht ganz unzutreffend, wenn ich verwirklichen sollte, was das ZentrumsblattGermania" chrieb: die Kleine Koalition könne keine andere Politik machen, als die Große Koalition (einsckließlich der Sozial­demokratie) gemacht haben würde. Wird die Regierung sich nach links anlehnen oder nach rechts, oder bald von links, bald von rechts die Unterstützung holen? Von den 493 Reichstagssitzen verfügen die vier Regierungsparteien nur über 171 (Zentrum 69, Deutsche Volkspartei 51, Demo­kraten 32, Bayerische Volksvartei 19>. Demgegenüber be­steht die Opposition aus 191 Stimmen (Deuffchnationale Volkspartei 111, Kommunisten 4°V Wirtschaftspartei 17, Deutschvölkische 14, Welfen 4). Die Sozialdemokratie hat 131 Sitze. Hieraus ergeben sich allerdings verschiedene Mög­lichkeiten. Aber es ist doch unwahrscheinlich, daß die neue Regierung sich von vornherein nach einer Seite festlegen will; ihre Ausgabe ist es vielmehr, die Politik des ge­sunden Menschenverstands zu machen, die von allen Parteien, soweit sie guten Willens sind, ertragen wer­den kann. Andererseits darf auch keine Opposition um jeden Preis, sondern nur eine verantwortungsbewußte getrieben werden. Die Parteien müssen der neuen Regierung die Bahn zur Arbeit sreigeben und abwarten. Das Programm, Las anfangs nächster Woche dem Reichstag vorgelesen wird, wird voraussichtlichneutral", d. h. ziemlich farblos sein und für Angriffe der Parteien kaum Anlaß bieten. Die Opposition hat aber auch kein Interesse an einer neuen Re­gierungskrise, die wohl der Auflösung des Reichstags zu- treiben würde. Daß diese aber in einer Zeit des wirtschaft­lichen Elends vermieden werden muß, dürfte nicht zu be­streiten sein.

Der Reichskanz*-"- M''ß jetzt die Zügel wieder fest in die Hand nehmen und die Aufgaüm, die der Regierung und dem Reichstag beoorstehen, ohne Verzug mit klarer, kluger Ziel­setzung anfassen. Das wird der beste Weg sein, auch das Ver­trauen der Parteien zu gewinnen, die außerhalb der Koa­lition der Mitte stehen. Gar mannigfaltig und schwer sind die Ausgaben. Da sind z. B. die kommenden Handels­verträge. Zum ersten Mal seit dem Krieg haben wir am Ende des vorigen Jahrs wieder einen Monat gehabt, wo unsere Handelsbilanz einen Gewinn aufwies; die Befürchtungen, die an unser« neuen Zolltarife geknüpft wur­den, haben sich also nicht bewahrheitet. Aber immerhin wird es eine mühevolle Arbeit sein, den hartnäckigen, übermütigen Bertragsgegnern gegenüber, die sich an den Gedanken ge­wöhnt haben, daß Deutschland unter ollen Umständen nach­geben müsse, solche Verträge durchzusetzen, die unserer Wirt­schaft Schutz und Spielraum gewährleisten. In der Innen­politik ist die Bekämpfung der A r b e i t s l o s i g k e i t, eine Foloe des allgemeinen Niedergangs unserer Wirtschaft, eine bock , alle Auioabe: aber man muß sie bei der Wurzel fassen.

sollen nicht Zeit und Geld wieder nutzlos verton werden. NRe diese Fragen sind eng verflochten mit der Außenpolitik, man braucht nur die Dawesgesetze und den Locarno- Vertrag zu nennen. Wenn die Notwendigkeit eintretsn sollte, so muß die Regierung den Mut haben, zu sagen: Wir sind am Ende, wir können die Dawesforderungen nicht mehr erfüllen, ohne die deutsche Wirtschaft vollends ganz zu Grunde zu richten. Es ist nickt Schwarzseherei oder gar Nör­gelei, die den Gedanken aufkeimen läßt» daß diese Möglich­keit einmal eintreten könnte, sondern die Befürchtungen be­kommen leider einen sehr greifbaren Untergrund, wenn man die Abwärtsentwicklung unserer Wirtschaft mit allen ihren Zusammenhängen schärfer besieht. Aehnlich verhält es sich mit dem Locarno-Vertrag, der nach einem Wort Stresemanns erst in Kraft trteten soll. Wir müssen immer w eder fragen: wo sind die Versprechungen Chamberlains und Briands geblieben? Die Tirtte der Vertragsunterzeich- nunq war kaum trocken, da schickte man, aufaemuntert in London und im Vertrauen auf den Geist von Locarno, an­fangs Dezember eine deutsche Abordnung nach Paris, um über Erleichterungen für die deutsche Luft­fahrt zu verhandeln. Am 20. Januar wurden die Ver­handlungen als aussichtslos abgebrochen, weil von den Franzosen keine Erleichterung zu erlangen war. Die Kosten dieser Abordnung sind, wie die vieler anderen, nutzlos ver geudet. Ferner hat die Reichsregierung Beschwerde er­hoben gegen die unerkörte, und den ausdrücklichen Zusiche­rungen in Locarno direkt zuwiderlmifcnde Belegung des Rheinlands mit 75-gonoy Mann Besatzung. Das Ergebnis ist wieder höchst lehrreich. In London zuckt? man die Achseln; es sei ja n.abr. es se> ein bische-' viel, man werde gelegentlich auf die Sache zurückkommen. Deutschland habe aber kein Recht, diebaldigste" Verringerung zu for­dern. Die Verbündeten haben es nun einmal so unter sich ausgemacht und darum müsse esvorerst" so bleiben. Die Belgier sagten: Was geht das uns an? Wir badennur" eine Division im Rheinland und das ist bas Mindeste, um unsvor deutschen Angriffen zu sichern." Am schönsten wars natürlich in Paris. Herr Briand, der in Locarno sich den Anschein gab, als sei er draus und dran, mit den deut­schen Vertretern Bruderschaft zu trinken, empfing den deut­schen Botschafter vonHoesch zum ersten Mal gar nicht; er habe anderweitig so viel zu tun. Als Hoesch dann wieder kam, sagte Briand, er könne in der Sache nichts tun. dieweil sie nur den Botsckasterrat angehe. Nicht genug, die Fran­zosen kehren den Spieß um, erheben wieder neue Anklagen, daß die Entwafsnungssorderungen noch nicht vollständig erfüllt seien und verlangen nun, daß die Mili - tärüberwachungskommissionlängerinBer lin bleibe, als in Aussicht genommen war. Darüber will Briand mit Chamberlain verhandeln, wenn dieser aus sei­nem Erholungsurlaub aus Italien zurückkommt. Sind wir nun die Anaeschmierten oder nicht? Damit wir es nickt seien