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70. ZahrganL
Montag den 15. April 1935
Fernruf 479
Nummer 89
Fernruf 479
Die Ostpaktfrage in Stresa
Deutschlands neue Haltung
Stresa, 13. April. Ueber den Ostpakt wurde von zuständiger englischer Seite mitgeteilt. Sir John Simon habe Deutschlands Haltung den Konferenzmitgliedern dargelegt. Er sei dann gefragt worden, welches die Haltung Deutschlands sein werde, wenn andere Mächte als Deutschland als Teilnehmer dieser Pakte unter sich noch besondere Beistandsabkommen schließen sollten. Aus diesem Grunde wurde in Berlin eine telegraphische Erkundigung eingezogen. Als ihr Ergebnis habe der deutsche Außenminister dem britischen Botschafter mitgeteilt, Laß Deutschland eine derartige Möglichkeit immer noch als gefährlich ansehe, daß es aber gleichwohl bereit se>, an einem Vertrag teilzunehmen, auch wenn andere Staaten unter sich darüber hinausgehende Abkommen schließen sollten. Deutschland würde aber Wert darauf legen, daß seine eigene Mitteilung und die dieser anderen Staaten in zwei verschiedenen Schriftstücken niedergelegt würde.
Englisches und französisches Echo
London, 13. Avril. Die Mitteilung des englischen Außenministers Sir John Simon in Stresa, daß Deutschland zur Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes für den Osten bereit sei, wird von der ganzen englischen Presse in größter Aufmachung veröffentlicht. Die Mehrzahl der Blätter bezeichnet die deutsche Erklärung als eine außerordentlich wichtige Entwicklung und als einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung der Atmosphäre.
„Die deutsche Antwort auf Simons Anfrage, so berichtet der Sonderkorrespondent der „Daily Mail", Ward Price, aus Stresa, ist das wichtig st e Ergebnis, das die Konferenz bis jetzt gezeitigt hat. Sie wird in Stresa als ein Zeichen dafür angesehen, daß die deutsche Regierung bereit sein würde, an einer größeren internationalen Konferenz teilzunehmen, sobald der Anwurf Frankreichs gegen den „Vertragsbruch" Deutschlands in Genf aus dem Wege geräumt sei. Die britischen Vertreter in Stresa haben ihr Bestes getan, die französische Anschuldigung zu mildern, damit der Stolz Deutschlands nicht derart verwundet werde, daß es die Erwägung seiner Rückkehr zum Völkerbund ablehnen würde."
Der diplomatische Mitarbeiter des Oppositionsblattes „Daily Herald" erklärt: „Deutschlands Mitteilung ist ein großer Fortschritt. Dies scheint erneut die Tür zu einer allgemeinen Regelung auf der Grundlage des Londoner Commu- niquss vom 3. Februar zu öffnen."
Reuter meldet, die neue Entwicklung werde wahrscheinlich zu einer Reihe weiterer Besprechungen zwischen Berlin und London führen. Simons Erklärung sei ein Beweis dafür, daß England weitere Erörterungen mit Deutschland wünsche, bevor es irgend welche Beschüsse fasse. Die Gerüchte, daß eine größere Konferenz unter Einschluß Deutschlands in London stattfinden werde, nähmen dauernd an Stärke und Umfang zu.
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Paris. 13. April. Zu der Nachricht von der deutschen Bereitschaft zu einem Nichtangriffspakt für den Osten ohne deutsche Veijtandsverpflichtung meldet der Havas-Berichterstatter aus Stresa: Die Aenderung der Haltung Deutschlands habe in den Konferenzkreisen wirkliche Sensation hervorgerufsn. Gewisse Kreise wollten in dem deutschen Schritt den Beweis weniger unnachgiebiger Absichten und des deutschen Wunsches, aufs neue mit den anderen europäischen Mächten zusammenzü- arbeiten, erblicken. Die meisten ständen dagegen auf dem Standpunkt, daß die deutsche „Geste" keinen wirklichen Wert habe, da die Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes
früheren Verpflichtungen Deutschlands, namentlich sie nach dem Kelloggpakt, erneuern würden. Lediglich ein gegenseitiges Beistandsabkommen, demgegenüber sich Deutschland aber weiterhin ablehnend verhalte, würde eine praktische Bedeutung haben. Die britische Regierung werde sich in Berlin über diese Absichten Deutschlands zu unterrichten haben; der französische Außenminister werde sich aber, ohne das Ergebnis dieser neuen Befragung abzuwarten, zum vorgesehenen Zeitpunkt nach Moskau begeben, um dort vor Ende des Monats das französisch-sowjetrussische Abkommen zu unterzeichnen. dessen Grundlagen nächste Woche in Genf zwischen Laval und Litwinow endgültig festgelegt werden würden.
Während das „Journal" und mehrere andere Blätter in der deutschen Stellungnahme zum Ostpakt nur eich neues Ma- sehen wollen, da Deutschland den Gedanken "eines Nichtangriffspaktes an sich stets zugelassen habe, spricht „Figaro" von einer merklichen Klärung der Lage in Osteuropa. Die neue deutsche Haltung könne die kollektive Organisierung der Sicherung in Europa erleichtern.
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Starker Eindruck in der römischen Presse
Nom, 13. April. Die d e u t s ch e B e r e i t s cha f t in der Frans r-es Beitritts zu einem Nichtangriffspakt für den Osten hat nach .^^Lenpresse den stärksten Eindruck gemacht. Mit dieser Mmmlung sei. so schreibt „Messaggero", eine neue -r. arjache geschaffen worden, deren große Bedeutung nie
mand entgehen könne. Die Frage des Ostpaktes habe bis jetzt mehr als alles andere das Hindernis gebildet, das auch schon eine Vorverständigung fast unmöglich machte. Dieses Hindernis sei zwar noch nicht überwunden, erscheine aber jetzt überwindlich.
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Polens Stellungnahme
Warschau, 13. April. Die polnische Telegraphen-Agentur meldet: Wie man aus den Nachrichten ersieht, ist der sowjetrussische Ostpakt als begraben anzusehen. Es eröffnen sich die Möglichkeiten eines neuen Abkommens für Osteuropa, das sich auf den Grundsatz des N i ch t a n g r i ff e s stützt. Das bedeutet, daß die Großmächte nach Prüfung der tatsächlichen Möglichkeiten zu der Ueberzeugung gelangt sind, daß das System von Nichtangriffspakten erfolgreicher die Erhaltung des Friedens sichert, als es der sowjetrussische Pakt gegenseitiger Hilfeleistung getan hätte, den man in Moskau als Ostpakt bezeichnete. Auf Grund der europäischen Lage wurde dieses System in Stresa als unreif erkannt.
Die Trage Oesterreich in Stresa
Paris, 13 April. Zur österreichischen Frage berichtet Havas aus Stresa, Mussolini habe ausführlich Uber die Gefahr, der Oesterreich ausgesetzt sei (?), Vortrag gehalten. Die Vertreter Englands, Frankreichs und Italiens seien einmütig der Ansicht gewesen, daß es angebracht sei, die Verhandlungen zwischen allen Nachbarländern (also Italien, Deutschland, Ungarn, die Tschechoslowakei und Südslawien) unter Einschluß von Oesterreich selbst fortzusetzen, um zu einem Nichteinmischungspakt zu gelangen, der unter der Schirmherrschaft Frankreichs und Italiens stehen würde. Wahrscheinlich werde binnen kurzem eine Konferenz der betreffenden Länder stattfinden.
Ende der Dreierkonferenz in Stresa
Stresa, 14. April. Die Dreimächtekonferenz von Stresa ist am Sonntag mittag um 12.30 Uhr abgeschlossen worden. Der französische Ministerpräsident Flandin hat zu Ehren des italienischen Regierungschefs Mussolini im Hotel Borromeo ein Früh
stück gegeben, an dem zahlreiche Mitglieder der drei Delegationen teilnahmen. Der englische Außenminister hatte sich in den Mittagsstunden im Auto nach Massiv an der italienischen Riviera begeben. *
Die französische Beschwerde in Genf
Stresa, 13. April. Von englischer Seite wurde mitgeteilt: Man hat sich vor allem darüber unterhalten, wie die französische Beschwerde in Genf behandelt werden solle. Man müsse hierbei unterscheiden zwischen:
1. dem französischen Appell an den Völkerbund,
2. dem Memorandum, in dem die Gründe für diesen Appell festgelegt werden, und
3. der Entschließung, die der Völkerbundsrat in Genf fällen soll.
Selbstverständlich könnten in Stresa keine Entscheidungen über diese Entschließung gefaßt werden. Man hat sich aber dennoch in Stresa schon darüber unterhalten, wer als Berichterstatrer geeignet sein könnte. Dabei tauchte der Name des Spaniers Madariaga auf.
Der Havas-Berichterstatter meldet aus Stresa die Aussprache hierzu habe sechs Stunden gedauert. Der französischerseits vorgeschlagene Wortlaut, den Italien und England in Gens unterstützen würden, sehe die Schaffung eines Strafaus- fchusses von drei Mitgliedren einschließlich des Berichterstatters vor, der die geeigneten Methoden zur künftigen Verhinderung neuer „einseitiger Aufkündigungen von Verträgen" durch Einsetzung wirtschaftlicher und finanzieller „Strafmaßnahmen" zu studieren hätte. Auf diese Weise würde die Anwendung von Strafmaßnahmen, die nach Artikel 16 der Völkerbundssatzungen bisher nur für den Kriegsfall vorgesehen gewesen seien, auch auf Vertragsverletzungen an sich ausgedehnt werden. Das „Echo de Paris" schreibt, die neue französische Beschwerdeschrift werde keinen Wert haben. Im Absatz 1 werde zwar der „Vorstoß, sen Deutschland gegen den Versailler Vertrag unternehme", ziemlich energisch angeführt, aber im zweiten Absatz werde von der Schaffung eines Ausschußes zur Prüfung eines Abkommens gesprochen, das in Zukunft die Gewähr bieten solle, daß derartige „internationale Verbrechen" bestraft würden. Dieser zweite Absatz mache die Wirkung des ersten Absatzes wieder hinfällig. Im übrigen sei die ganze Beschwerde infolge Zeitverlustes wirkungslos. Das „Petit Journal" sagt, die Strafmaßnahmen würden sich auf die Zukunft im Falle „neuer Verfehlungen oder neuer Angriffe auf die europäische Sicherheit" beziehen.
Die Reichsregierung zum Ostpakt
Militärische Bündnisse keine Garantie des Friedens
Berlin, 14. April. Irreführende Auslegungen in verschiedenen Pressekommentaren haben die Reichsregierung veranlaßt, ihren Standpunkt in der Frage des Ostpaktes wie folgt zu präzisieren:
I. In den Berliner Besprechungen hat der Führer und Reichskanzler der britischen Delegation mitgeteilt, daß die Deutsche Regierung zu ihrem Bedauern nicht in der Lage sei, zum Ostpakt in der vorgeschlagenen Form ihren Beitritt zu erklären. Die Deutsche Reichsregierung sei demgegenüber aber bereit, einem solchen kollektiven Sicherheitspakte ihre Zustimmung zu geben dann, wenn er
1. Sich aufbaue aus gegenseitige und allgemeine Nichtangriffsverpflichtungen und Schiedsgerichtsverfahren.
2. Im Falle einer Friedensstörm.j ein konsultatives Verfahren vorsehe.
3. Sei die Deutsche Neichsregierung bereit, — unter Betonung der Schwierigkeiten der einwandfreien Feststellung eines Angreifers — sich allgemeinen Maßnahmen der Nicht- vnterstützung eines solchen anzuschließen.
Zu diesem Angebot steht die Deutsche Reichsregierung auch heute.
II. Der Führer und Reichskanzler hat in dieser Besprechung weiter mitgeteilt, daß die Deutsche Negierung nicht inderLagesei, einem Paktvorschlag zuzustimmen, der» sei es für Alle oder für Einzelne, mehr oder weniger a u - lomatischemilitärischeBeistandsverpflich- tungen enthalte. Diese sähe darin nicht ein Element der Friedenserhaltung, sondern eher noch ein Element der Friedensbedrohung. Die Deutsche Reichsregierung bekennt sich auch heute zu dieser Auffassung und zu der sich daraus ergebenden Haltung.
III. Die Reichsregierung hat sofort nach Uebernahme der Macht ihren Wunsch ausgedrückt» mit den umliegenden Staaten Nichtangriffspakte abzuschließen. Sie machte diesen Vorschlag ohne eine eingehende Kenntnis bestehender zwei- oder mehrseitiger militärischer Abmachungen einzelner Staaten zu besitzen, und ohne jede Bezugnahme auf sie. Da sie selbst keine aggressiven Absichten hegt, fühlt sie sich von wirklichen Defensivabkommen auch nicht betroffen. Auch zu dieser Auffassung bekennt sich die Deutsche Regierung beute noch. So wenig sie daher iu der
Lage ist, einem Pakt beizutreten, der solche militärischen Verpflichtungen als ein wesentliches Element seines Inhaltes und damit seiner Existenz enthält» so wenig können solche außerhalb dieses Paktes liegenden Vereinbarungen die Deutsche Reichsregierung behindern, ihrerseits Nichtangriffspaktes auf der oben fixierten Basis abzuschließen.
Dies ist der Sinn derAntwortderDeutschen Neichsregierung auf die Frage des Kgl. Britischen Botschafters, ob Deutschland bereit sei, einen Ostpakt auf der von ihm selbst angedeuteten Grundlage abzuschlietzen, auch für den Fall, daß andere Staaten unter sich noch besondere Abmachungen getroffen hätten oder treffen würden.
Die Deutsche Reichsregierung will aber an dieser Stelle die folgenden Bemerkungen nicht unterdrücken:
Die von verschiedenen Regierungen als nötig erachtete Ergänzung von Nichtangriffs- und Gewaltausschließungspakten durch militärische Beistandsoerpflich- tungen beruht auf einem Widerspruch in sich. Entweder man glaubt an freiwillig übernommene Verpflichtungen oder man glaubt an sie nicht. Glaubt man an sie, dann ist die Notwendigkeit solcher militärischer Abmachungen nicht einzusehen. Zweifelt man aber an der aufrichtigen Einhaltung einer übernommenen Nichtangrisfs- verpflichtung, dann ist dieser Zweifel genau so berechtigt gegenüber der sinngemäßen Einhaltung der ergänzenden militärischen Verpflichtungen solcher Friedenspakte. Wenrr es möglich ist, daß aus Nichtangriffspakten Kriege entstehen, ist es ebenso möglich, daß aus defensiven Beistandspakten offensive Angriffshandlungen kommen. Nur scheint der Deutschen Neichsregierung der Weg vom Cewalr-Ab- lehnungs- und Ausscheidungspakt zum gewalttätigen Fr«-:- densbruch ein weiterer zu sein als der Weg von militärischen Verpflichtungen defensiver Natur zu einer militärischen Haltung offensiver Art. Die Deutsche Reichsregierung sieht aber nach wie vor in diexer Entwicklung militärischer Bündnisse in Europa kein Element einer kollektiven friedlichen Entwicklung oder gar einer Earan- tiedesFriedens. Sie ist daher auch nicht in der Lage, Pakte zu unterzeichnen, in denen solche Verpflichtungen ein integrierender Bestandteil sind, gleichgültig ob sie für alle oder für einzelne Teilnehmer.
Der vorstehende Standpunkt ist dem Britischen Staatssekretär des Aeußeren durch Vermittlung der hiesigen Botschaft amtlich mitgeteilt worden.