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Nummer 237
Fernruf 17S
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Von Diplomhandelslehrer' Dr. Adolf Scheffbuch
Wer draußen im Land dem deutschen Volk die bittere Wahrheit ins Gesicht hält, daß es nach dem Willen seiner Gegner noch 120 Milliarden Goldmark in 5 8- jähriger Fron bezahlen soll, der begegnet häufig der Ansicht, daß unsere Reparationslasten noch milde zu nennen seien im Vergleich zu den Kriegszerstörungen, unter denen Nordfrankreich und Belgien noch Jahrzehnte zu leiden hätten, Menschliches Rühren ersetzt die klare Verstandesarbeit. Das Volk weih nicht Werte zu taxieren, die über den Rahmen des privaten Wirtschaftsbetriebs hinausgehen. Das deutsche Volk weiß nicht, was es sich unter 120 Milliarden Reparationen vorzustellen hat. 120 Milliarden sind mehr als die Hälfte all unseres Besitzes, mehr als 50 vom Hundert dessen, was wir an Grundstücken, Wäldern, Straßen, Häusern, Fabriken, Waren, Inventar und Geld gegenwärtig unser eigen nennen. Wie hoch aber sind die Kriegsschäden der Alliierten anzusetzen? Die Pariser Sachverständigen haben sie auf z eh n MilliardenG M.> Gegenwartswert beziffert. Zehn Milliarden Schaden, von Freund und Feind verursacht, 120 Milliarden Schadenersatz, von Deutschland allein zu bezahlen.
Ob Frankreich notleidend ist? — Man weiß von den anderthalb Millionen kriegsgefallenen Franzosen, von den Krüppeln und Flüchtlingen, von den großen Schulden Frankreichs an England und die Vereinigten Staaten. Man weiß vor allem auch von der französischen Inflation und dem Frankenwert, der auf 16,5 Pfennig gesunken ist. Ein Land mit solch geringer Geldkaufkraft muß nach landläufiger Meinung notleidend sein. Und doch, wieliegendi e D inge in Wirklichkeit?
Die Französische Bankgesellschaft für das Ausland AG. in Paris bringt in ihrem Wirtschaftsbericht vom 20. September d. I. interessante Vergleiche zwischen der wirtschaftlichen Lage Frankreichs und der anderen Weltvölker. Danach hat Frankreich mit 3,5 vom Hundert den niedrigsten Bankdiskont der Welt. Schweden und Holland haben einen Zinssatz von 5,5 vom Hundert, Amerika 6 und England 6,5 vom Hundert. Der deutsche Reichsbankdiskont beträgt 7,5 vom Hundert, Tagesgeld an deutschen Börsen kostet sogar 8—10 vom Hundert, wogegen solches in Paris zu 3,25 vom Hundert erhältlich ist. Dieser niedrige Zinssatz Frankreichs ist der beste Ausdruck seines Kapitalreichtums. Mit Hinweis darauf hat der bekannte amerikanische Volkswirtschaftler Professok Anderson neulich in einem Vortrag in Paris erklärt:
. . Das einzige Land, welches fähig ist, größere Kapitalien ins Ausland zu verleihen, ist Frankreich. Der französische Markt befindet sich in einer glänzenden Lage, und die europäischen Staaten, die Geld benötigen, werden in der nächsten Zeit gezwungen sein, sich nach Pariszu wenden."
Aus dem Wirtschaftsbericht der französischen Bankgesellschaft erfahren wir ferner, daß der Goldbesitz der Bank von Frankreich so groß ist, wie die Goldbestände der Notenbanken Englands, Deutschlands, Italiens und der Schweiz zusammen. Die Bank kontrolliert direkt oder indirekt 26 vom Hundert des Weltgoldschatzes.
DiefranzösischenStaatsfinanzen ergeben ein überaus günstiges Bild. Im Monat Juli dieses Jahres hat der französische Staat allein aus indirekten Steuern und Staatsmonopolen 3,9 Milliarden Franken vereinnahmt und damit den Voranschlag um 760 Millionen, die Steuer- eingange vom Juli 1928 um AiO Millionen Franken überschritten. In den ersten sieben Monaten des Jahrs 1929 flössen aus «'direkten Steuern stmt der erwarteten 17,8 Milliarden 21,2 Milliarden Franken in die Staatskassen d. h. 3 Milliarden oder 22 vom Hundert mehr als im Voranschlag. Da die indirekten Steuern °n den Verbrauch der Bevölkerung anknupfen, spricht aus den aewaltia erhöhten Zahlen eine erhebliche Verbesserung der Lebenshaltung und eine Zunahme des Genußlebens. Die Wohlstandssteigerung ist verursacht durch die Vermehrung der industriellen Gütererzeugung. Das Produktionsergebnis, 1913 gleich 100 gesetzt, ergibt für 1919 eine Meßzahl von 57. 1924 ist mit 108 der Vorkriegsstand leicht überschritten, und heute erzeugt Frankreich — bei einer Meßzahl von 141 — nahezu eineinhalbmal so viel industrielle Gebrauchs- und Verbrauchsartikel wie vor dem Krieg. In der Landwirtschaft hat Frankreich dieses Jahr eine Rekordernte zu verzeichnen. Die Ergebnisse an Getreide werden 1929 auf 90 Millionen Zentner geschätzt, gegen 76 Millionen im Vorjahr und 63 Millionen 1927. In der französischen Handelsbilanz springen vor allem die Ein- nahmen ausdemFremdenverkehrindie Augen. Diese Einnahmen Frankreichs wurden jüngst von der „Times" auf 120 Millionen Franken, das sind 20 Millionen Goldmark, pro Tag beziffert.
Was den Arbeitsmarkt angeht, so befindet sich Frankreich in einer beneidenswert glücklichen Lage^üb ex-
Mittwoch, den 9. Oktober 1929
Fernruf 179
64. Jahrgang.
paupr reine Aroeirsioien zu yaoen. ine Hayl oer unterstützten Erwerbslosen betrug am 17. August dieses Iah" res 437. Einer Zahl von 7425 Arbeitssuchenden standen am selben Tag 17 390 offene Arbeitsplätze gegenüber. Kein Wunder, daß Frankreich im Jahr 1928 44 000 zu« gewanderten ausländischen Arbeitern Brot und Erwerb gegeben hat. Gemessen an der Arbeitslosigkeit anderer europäischer Staaten ergeben sich folgende Vex- gleichsziffern. Auf 1000 Beschäftigte entfielen in Deutschland 111 Arbeitslose und 68 Kurzarbeiter, in England 101 Erwerbslose, in: Holland 60, in Frankreich dagegen ans 1000 nur 1.
Die wirtschaftliche Lage eines Landes spiegelt sich auf seinen Märkten und Börsen wider. Vergleichen wir demzufolge die Kursentwicklung der in Paris und Berli» notierten Aktien, so ergibt sich — auf Gold umgerechnet — folgender Stand der Meßziffern:
Paris
Berlin
1913
100
100
1927
58
50
1929
111
46
Während sich die Aktienkurse in Deutschland seit 1927 weiter rückläufig bewegten, hat sich der Wert der französischen Dividendenpapiere verdoppelt. Der Kurswert der in Berlin notierten Unternehmungsanteile ist im letzten Jahr von 21 Milliarden RM. ouf 1614 Milliarden gesunken. Erstklassige Werte wie I. P. Bemberg, Bamberg, Barmen, Vereinigte Glanzstoffwerke, Elberfeld, IG. Farbenindustrie, Frankfurt, sind um 40 bis 70 Prozent im Kurs zurückgegangen. Alle deutschen Automobilaktien stehen weit unter pari, wogegen es den französischen Gesellschaften möglich war, ihre Dividendenausschüttungen in den letzten zwei Jahren um zirka 25 o. H. zu erhöhen-
„Das notleidende Frankreich braucht Reparationen"... Wer glaubt nach all diesem zahlenmäßigen Illustrationsmaterial noch wirklich an eine Notlage Frankreichs? Wer wagt es zu verteidigen, daß dieser einen Nation 621- Mül. Goldmark, d. h. 52 o. H. der deutschen Reparationszahlungen, zugesprochen werden, indes sich Deutschland in generationenlanger Fronarbeit verblutet und aufzehrt. Wo bleibt das „internationale Sittsngesetz" und das „Weltgewissen", von denen Feind- und Völkerbund so gerne sprachen? Wo bleibt die Angleichung der Arbeitsbedingungen, die das im Friedensvertrag eingesetzte Internationale Arbeitsamt in Genf anzustreben hat?
In den letzten Tagen trafen in verschiedenen in der Nähe von Moskau gelegenen Stationen der russischen Nordbahn etwa tausend deutsche Kolonisten aus dem sibirischen Bezirk Slawgorod ein, wo etwa 32 000 Deutsche, davon 30 000 als Bauern leben. Weitere Tausende befinden sich nach ihrer Aussage auf dem 3000 Kilometer langen Weg nach Moskau, wo sie zu erreichen hoffen, daß ihnen gestattet werde, das Land zu verlassen. Die Leute haben ihre Wirtschaften meist bereits billig verkauft und sind fast mittellos oder doch nur für kurze Zeit mit Geldmitteln versehen. Sie haben vorläufige Unterkunft in den jetzt im Herbst und Winter leerstehenden Sommerwohnungen der Moskauer Bevölkerung gefunden, wo ihnen gewissenlose Wucherer als Vermieter das letzte Geld durch hohe Mietzinse abnehmen.
Die Ursache der Rückwanderung ist der rücksichtslose, widersinnige Kampf der bolschewistischen Regierung gegen die landwirtschaftliche Eigenwirtschaft, der ja auch die früher so produktive russische Landwirtschaft nicht mehr hochkommen läßt- Und die deutschen Kolonisten werden durch diesen Kampf deshalb besonders getroffen, weil sie viel tüchtiger, fleißiger, sparsamer und deshalb wohlhabender waren als ihre Umgebung. Dazu kommt, daß den Bauern, trotzdem in vielen Gebieten Sibiriens eine richtige Mißernte zu verzeichnen ist, von der Moskauer Regierung eine so hohe Ablieferung von Getreide auferlegt wurde, wie sie tatsächlich nicht einmal selbst geerntet haben. Um dieser Auflage genügen zu können, waren die meisten genötigt, ihr sonstiges Eigentum zu veräußern. Damit schwand natürlich auch die Hoffnung, das Jahr der Mißernte überwinden zu können.
So haben sich viele deutschstämmige Bauern zu dem Weg nach Moskau entschlossen, uin von hier aus zu versuchen, sw Ausland ein neues Leben zu beginnen. Der Weg. den che Sowjetregierung den russischen Bauern nämlich kommunistische Wirtschaft zu betreiben,
2 N Kolonisten, die größtenteils streng religiös
^nwnitisch) sind, aus Glaubensüberzeugung abgelehnt.
-st Deutschland, von dessen heutigen Ver- s E" ^ allerdings nur unklare Vorstellungen haben, kn? Dw deutsche Botschaft kann nicht unmittel.
eintreten, weil sie russische Unter- > n^°^^Een sich Mittel und Wege finden lassen, Kolonisten Hilfe zu leisten, wie in diesem Sommer Schweden die aus gleichen Gründen aus Ruß
empfiehlt, wird von (lutherisch
larid rückgewanderte schwedische Kolonie, die ein Jahrhundert lang in der Ukraine geblüht hatte, ausgenommen hat. ,
Eingrelfen des republikanischen Richtcib.i les in das Femeverfahren Eckermann
Berlin, 8. Oktober. Wie die Voss. Zeitung berichtet, hat der republikanische Richlerbund das mecklenburgische Ministerium in Schwerin ausgeforderk, die Skaalsanwallschafl anzuweisen, aus rechtlichen und politischen Gründen gegen das freisprechende Erkenntnis des obersten mecklenburgischen Gerichts in dem Femeprozeß gegen Ecker mann innerhalb der gesetzlichen Frist Revision beim Reichsgericht einzulegen, da Eckermann kein Staatsnotroehrrechi zuzvbil- ligen sei. Gleichzeitig ersuche der republikanische Richterbund den Reichsjustizminister Guerard, auf die mecklenburgische Regierung für eine Revisionseinlegung einzuwirken.
Das mecklenburgische Justizministerium hat diesen auffallenden und ungesetzlichen Versuch des republikanischen Richterbundes, in die Justizverwaltung Mecklenburgs einzugreifen, zurückgewiesen und folgendermaßen beantwortet: „In der Strafsache gegen den Kaufmann Richard Eckermann in Kiel hatte die Staatsanwaltschaft, als die dortige Drahtung hier einging, bereits Revision eingelegt. Die Drahtung hak hier den Eindruck erweckt, daß der republikanische Richlerbund die Landesjustizverwallung in der Ausübung des ihr nach dem Gerichtsverfassung» geseh zustehenden Auweisungsrechles beeinflussen möchte. Dieser Eindruck mußte um so mehr befremden, als der dortige Wunsch nach einer Anweisung an die Staatsanwaltschaft nicht nur mit rechtlichen Erwägungen, sondern auch mit einem Hinweis auf den politischen Gesichtspunkt begründet worden ist."
Verbindungsstellen der Landwirtschaft
Berlin, 8. Okk. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Industrie, Handel und Landwirtschaft haben sich die Verbindungsstellen der Landwirtschaft in wichtigen Verbrancherbezirken zam Ziel gesetzt. Es handelt sich bei der Arbeit dieser Verbindungsstellen in erster Linie um die Beobachtung der Märkte hinsichtlich Preis, Beschickung, Wünsche der Verbraucher, Auftreten von Auslandswaren und der Vermittlung der so gewonnenen Erfahrungen an die beliefernde Landwirtschaft. Wie auch von seiten oer Industrie und des Handels geäußert worden ist, haben diese Stellen bisher beachtliche Erfolge erzielt. Bisher besteht eine Verbindungsstelle der Preußischen Haupklandwirt- schafiskammer in Essen und eine Verbindungsstelle d:H Deutschen Landwirkschaftsrats in Hamburg. Mit Rücksicht auf die guten Erfahrungen sind nunmehr vom Deutschen Landwirtschaftrat in Zusammenarbeit mit den in Frage kommenden benachbarten Landwirtschaftskammern zwei weitere Verbindungsstellen inFrankurt a. M. und in Leipzig (Sitz bei den Handelskammern) errichtet worden. Damit sollen weitere wichtige Verbrauchergebiete der besonderen Betreuung durch die deutsche Landwirtschaft er- s lösten werden.
Dr. Wirlh lm Urlaub
Berlin, 8. Oktober. Der Reichsminister für die besetzten Gebiete, Dr. Wirth, ist nach der Beisetzung Dr. Strese- manns in Urlaub gegangen. Das B. T. tritt der Auffassung entgegen, Dr. Wirth sei verstimmt, daß nicht ihm das Auswärtige Amt übertragen worden sei.
Erhöhung der Pflichkgrenze für Arbeitslosenversicherung
Berlin, 8. Okt. In einer Pressebesprcchung teilte Reichs- a beitsmimster Wisset! mit, daß beabsichtigt sei, zur Deckung des Fehlbetrags von etwa 280 Millionen Mark in der Arbeitslosenversicherung die höheren Gehultsern- kommsn mit heranzuziehen, indem die Beilragspslicht auf Gehalte bis zu 8409 Mark heraufgeseht werde. Die sonstigen Einsparungen würden etwa 80. bis 90 Millionen betragen.
Zentrum und Auswärtiges Amt
Köln, 8. Okt. Aus der gestrigen vertraulichen Besprechung des Ausschusses der rheinischen Zentrumspariei kann die „Köln. Volksztg." Mitteilen, daß Prälat Dr. K a a s keine Absichten auf die Nachfolge Stresemanns habe. Allerdings könne es aus sachlichen Gründen dem Zentrum nicht gleichgültig sein, wie das Außenministerium besetzt werde, und es verlange, daß es vorher darüber gehört werde.
Dr. Kaas, der dieses Verlangen in der Versammlung stellte, wollte damit Widerspruch erheben gegen das Vorgehen des Reichskanzlers Müller, der die Leitung des Auswärtigen Amts mit Zustimmung des Reichspräsidenten dem der Deutschen Volkspartei angehörigen Reichswirt- schaftsminister Dr. Curtius übertrug, ohne sich vorher mit den andern Koalitionsparteien, besonders dem Zentrum, ins Benehmen gesetzt zu haben-