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Nummer 137
Fernruf 17S
Freitag, den 14. Zuni 1929
Fernruf 179'
64. Jahrgang.
Dr. Siresemann zur Minderheitenfrage
Madrid. 13. Juni.
Nachdem der Völkerbundsrat vor Eintritt in die Tagesordnung eine Mitteilung des chilenischen Ratsmitglledes über die Beilegung des Tacna Arica-Zwischenfalles entgegengekommen und alle Ratsmitglieder ihrer Befriedigung hierüber Ausdruck verliehen hatten, verlas Adatschi den bereits veröffentlichten abgeänderten Bericht über die Verbesserung des Verfahrens bei der Behandlung von Minderheitenbeschwerden Nach einer Erklärung Dandurands, der auf die erzielten Verbesserungen, insbesondere hinsichtlich der Erweiterung der Informationsquellen des Völkerbundes, hinwies, ergriff
Reichsaußenminister Dr. Skresemann
das Wort zu folgender Rede: Der Bericht, den Sie, verehrter Herr Präsident, in Ihrer Eigenschaft als Berichterstatter uns heute unterbreitet haben, gipfelt in den Beschlüssen, die der Rat als Kommission gefaßt hat und die, wie von allen Seiten anerkannt werden wird, eine wesentliche Verbesserung der bisherigen Behandlung der Minderheitenfrage in sich bergen. Wenn die mit der Vorprüfung der Petitionen beauftragten Komitees von jetzt ab die Pflicht haben, das Ergebnis ihrer Arbeit den einzelnen Ratsmitgliedern mitzuteilen, so wird dadurch den Ratsmitgliedern die Entscheidung darüber, ob sie bedeutungsvolle Fragen vor den Rat bringen sollen, wesentlich erleichtert werden. Wenn dank der Intervention des Vertreters von Canada weiter in den vorangegangenen Debatten zweifelsfrei klar gestellt worden ist, daß die Comitees hinsichtlich der Beschaffung des nötigen Materials für Aufklärung der vorliegenden Fälle keinerlei Beschränkungen unterliegen, also ergänzende Informationen in geeigneter Form auch von den Beschwerdeführern einholen können, so scheint mir auch dies ein wertvoller Gewinn unserer Beratungen zu sein. —
Wenn schließlich der Ratspräsident die Freiheit hat, in besonderen Fällen vier seiner Kollegen zur Teilnahme an der Vorprüfung der Beschwerden heranzuziehen und wenn auf die Möglichkeit hingewiesen ist, daß die Comitees im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens erforderlichenfalls auch zwischen Len Ratssitzungen zusammen treten können, so sind auch diese Beschlüsse ein weiterer Schritt auf dem Wege zu einer wirksameren Tätigkeit des Völkerbundes auf diesem Gebiet. — Ich verkenne in keiner Weise die tatsächliche und psychologische Wirkung dieses unzweifelhaft verbesserten Verfahrens und i chbegrüße es als einen Fortschritt auf dem Wege der Anregungen, die der verehrte Vertreter von Canada gegeben hat, dessen an mich in den Kommissionsverhandlungen gerichteten Apell, diesen Verbesserungen meine Zustimmung nicht zu versagen, ich mich nicht entziehen will, ohne damit jedoch meine Gesamteinstellung zu ändern. —
Neben dem Vertreter Kanadas gebührt der Dank des Rates für die außergewöhnlich intensive Arbeit zur Erforschung der Möglichkeiten, auf diesem Gebiete vorwärts- zukommen, denjenigen Mitgliedern des Rates, die auf Beschluß seiner letzten Versammlung sich in langwieriger und gewissenhafter Arbeit bemüh thaben, uns das Ergebnis ihrer Prüfungen und Ueberlegungen zur Kenntnis zu bringen. Der Bericht, der uns vorgelegt ist, bedeutet in seinen praktischen Folgerungen einen Lösungsver- s u ch, der dem Völkerbundsrat eine wertvolle Handhabe für die Praxis gibt. Er wird denjenigen, welche die dem Bericht beigegebenen Unterlagen studieren, zeigen, welche großen Probleme sich hinter dieser praktischen Arbeit verbergen. Eine grundsätzliche Einigung der Auffassungen über Umfang und Begrenzung der dem Völkerbundsrat zustehenden Rechte und Pflichten ist nicht erfolgt. Der Beschluß des Rates, dieses gesamte Material allen Mitgliedern des Völkerbundes zuzustellen,, wird diesen Gelegenheit geben, zu prüfen, ob nicht in dieser Frage eine Einigung erzielt werden kann und erzielt werden muß. Auch denjenigen Mächten, die dem Rat nicht angehören, aber ihr Interesse an der Behandlung dieses Problems bereits bekundet haben, steht selbstverständlich das Recht zu, ihrerseits zu dem ihnen übermittelten Bericht Stellung zu nehmen, ebenso wie jedes Mitglied des Völkerbunds sich Vorbehalten muß, alle in den Satzungen des Völkerbundes gegebenen Möglichkeiten zur Klärung dieser Frage in Anspruch zu nehmen.
Dem Bericht in der jetzt vorliegenden Form und Fassung stimme ich zul
England zur Raumungsfrage
Kritik am Boung-Plan
,, London, 13. Juni. Au den Madrider Besprechungen zwilchen Dr. Stresemann und Briand über die Frage der Nheinlandräumung nimmt der diplomatische Korrespondent »Daily Telegraph" Stellung, indem er besonders die 'Feststellung von deutscher wie französischer Seite begrüßt,
daß keine Versuche für den Abschluß eines konkreten Abkommens gemacht würden, , ,
Die gegenwärtige englische Regierung stehe auf dem
Standpunkt, daß derartige Angelegenheiten nicht allein
Deutschland und Frankreich berührten, sondern Deutschland und die Alliierten als Ganzes.
Diese Ansicht habe die Unterstützung Italiens und Japans wie auch Belgiens. Alle Gerüchte über eine Entscheidung Briands uns Stresemanns in Madrid hinsichtlich des Datums, die personelle Zusammensetzung und die Aufgaben einer neuen Konferenz seien daher bedeutungslos. Die Außenminister allein würden nicht zuständig sein, sich mit dem Sachverständigenbericht zu befassen. Die besondere Kenntnis der Finanzminister und deren Mitarbeiter werde für diesen Zweck unentbehrlich sein. Darüber hinaus sei die ganze Frage derartig bedeutungsvoll, daß sie die Anwesenheit der Ministerpräsidenten der betreffenden Länder er- wünscht erscheinen lasse. Ramsay Mac Donald beabsichtige jedenfalls im gegenwärtigen Augenblick, an den Verhandlungen teilzunehmen und es bestehe Grund für die Annahme, daß auch Reichskanzler Müller, ebenso wie Dr. Marx im Jahre 1924, eine Möglichkeit begrüße, den Besprechungen beizuwohnen.
Der englische Schatzkanzler Snowden und seine Mitarbeiter bewahrten vorläufig ein auffälliges Stillschweigen über den Toung-Bericht. Man wisse aber, daß in höchsten englischen Finanzkreisen der Bericht in verschiedener Hinsicht sehr ernste Kritik fände, ganz abgesehen von der angeregten Neuverteilung der deutschen Jahreszahlun- gen unter die Alliierten. Die Hauptgründe seien folgende:
1. daß der Verlust für England durch Verzicht auf die Rückzahlung der früheren englischen Schuldleistungen an die Vereinigten Staaten wenigstens 4 Milliarden Mark ausiüachen wurde.
2. Daß die Zuteilung von 25 Millionen Pfund von insgesamt 33 Millionen Pfund, die Deutschland unter dem Abkommen als ungeschützte Zahlung zu leisten habe, zu hoch sei.
3. Die Fortdauer der deutschen Sachliese- rungen für eine weitere Zeit von Jahren werde auch in der gegenwärtig beobachteten Form beanstandet.
4. werde bezweifelt, ob die geplante internationale Bank in ihrer gegenwärtigen Form zu arbeiten vermöge. Wenn ja, befürchte man, daß sie die ihr zur Verfügung stehenden Finanzen benutzen wird, um den deut-
. schen Export zum Teil zum Schaden des englischen zu heben.
Einer, der Mut hat
Zwischenfall auf der Genfer Arbeikskonferenz
Genf, 13. Juni. In der Genfer Arbeikskonferenz kam es heute zu einem lebhaften Zwischenfall, als der Länderdelegierte von Columbien, Restrepo, im Laufe seiner Ausführungen unter dem Beifall zahlreicher Delegierter dagegen protestierte, daß der Völkerbund Sowjetrußland gegenüber eine Politik des Entgegenkommens und der freundschaftlichen Annäherung betreibe, während es doch eine notorische Tatsache sei, daß die bolschewistischen Agenten in der ganzen Welt offen die blutige Revolution und den Bürgerkrieg förderten.
Es sei deshalb eine Schande, daß der Völkerbund die Ver- kreker der Moskauer Regierung so freundschaftlich.aufnehme und sie als gleichberechtig behandle.
An dem Prästdenkentisch der Konferenz, an dem sich der ehemalige Reichsarbeitsminisier Dr. Brauns und der Direktor Mbert Thomas befanden, geriet man in immer größere Unruhe, als der Redner mit seinen Ausführungen nicht zu Ende kommen wollte und die vorgeschriebene Redezeit trotz Eingreifens des Präsidenten überschritt. Schließlich verzichtete Restrepo auf das Wort und erklärte, bei einer anderen Gelegenheit seine Auffassung neuerdings zur Geltung bringen zu wollen.
Fragwürdige „Beweise"
Ler Prozeß Roos — llebersehungsfehler in den Akten
Besanxon, 13. Juni. Im Roos-Prozeß kamen in der Nachmittagssitzung u. a. die von der französischen Verwal- mng im Elsaß begangenen Fehler zur Sprache, wobei der Generalstaatsanwatt gegen Roos den Vorwurf erhob, gerade wegen dieser Fehler haben Sie den Separatismus t Verteidiger, Rechtsanwalt B e r t h o n, er-
n- ^ ^"khm, daß der Staatsanwalt versuche, Mißverständnisse zu schaffen, indem er immer wieder bestrebt sei, Roos separatistische Gedanken unterzuschieben. Der Generalstaatsanwalt betonte, wieviel Gutes Frankreich im Elsaß getan habe. Er wünsche im übrigen zu dem Ergebnis zu ^ «5. für seine Pflicht gegenüber Frankreich halte. Diese Erklärung löste allgemeine Bewegung aus. Ein besonders schwerer Zwischenfall entstand dadurch, daß m der Uebersetzung von zwei Schriftstücken ein zwei- ^ cm l ^ st g e st e l l t wurde. In einem schriftlichen Manifest, das Roos mit Pink und Hirzel zusam
men in der Schweiz versaßt und von dort aus verbreitet hat, war von dem hohen Ziel des Elsaß die Rede, sich selbst zu verwalten. In der Uebersetzung war das Wort „Plebiszit" eingefügt. Der Generalstaatsanwalt erklärte dazu, Irrtum ist möglich. Wir sind aber nicht für die Uebersetzung verantwortlich- Der gleiche Fehler findet sich in der Uebersetzung des Programms der autonomistischen Partei, das im Urtext das Wort Plebiszit nicht enthält. Dies ver- anlaßte den Rechtsanwalt und Verteidiger Fournier zu dem Ausruf: Man hat es mit den gleichen Methoden zu tun wie in Kolmar, man fälscht Texte.
Kurz vor Schluß des gestrigen Verhandlungtsages im ' Prozeß Roos in Besanxon kam es zu einem Zwischenfall. Der Generalstaatsanwalt Mettas erklärte, daß Professor Roos am 14. Mai 1927 den Vorsitz bei der Gründungsversammlung der Autonomistenpartei geführt habe. Der Saal, in dem die Gründungsversammlung stattfand, sei mit Fahnen geschmückt gewesen, jedoch habe sich unter den Fahnen keine Trikolore befunden. Auch die Briefbogen der Partei und die Flugschriften sollen in rot-weißen Farben geschmückt gewesen sein.
Als Rechtsanwalt Klein-Straßburg erklärte: „Wer will uns daraus einen Vorwurf machen, das sind doch unser» Nationalfarben," erhob sich der Staatsanwalt und rief: „Die Fatben des Elsaß sind die Farben ganz Frankreichs, nämlich blau-weiß-rot. Man kann an Worten herumdeuteln. Autonomismus und Föderalismus führen ja doch nur zu der verbrecherischen Irrung des Separatismus! Ich wende mich an die Geschworenen, aber ich wünsche, daß ich jenseits des Rheins, ja bis zu den Ufern der Spree gehört werde!"
Neue AmhlWen
Der Iustizhaushalt im Reichstag
Berlin, 13. Juni. Es ist ganz die alte Geschichte, die wir auch heute, wie alljährlich, beim Justizetat erleben; dieselben Klagen, unveränderlich unter Monarchie und Republik. Was man täglich gehört hat, daß nämlich eine Vertrauenskrise bestehe, hört man auch heute wieder von Herrn Levi, ausgerechnet von diesem sozialistischen Abgeordneten Levi, der sonst für das deutsche Volk nichts übrig hat und die Bezeichnung als Landesverräter als einen Ehrentitel erklärt.
Aus der bisherigen Aussprache am Vormittag ergibt sich überhaupt nichts wesentlich Neues. Auch über den Antrag eines Volksrechtparteilers auf Revision der Aufwertungsgesetzgebung wird die regierende Mehrheit natürlich zur Tagesordnung übergehen.
Zu Beginn der Sitzung hat es einige Nervosität gegeben, weil vor der Abstimmung über die Beschränkung der Redezeit — man will ja im Juni noch mit sieben Etats fertig werden — der Nationalsozialist Frick die Beschlußfähigkeit des Hauses angezweifelt hat. Auf die Signale des Präsidenten hin kommen aus allen Ausschüssen die Ab- gegrdneten gelaufen, das Haus wird dadurch beschlußfähig und Löbe erklärt erregt, „auf die Dauer werde man sich diese Schikane, die ständig die Arbeit der Ausschüsse unterbreche, nicht mehr gefallen lassen!" Er kündigt also eine „Reform" der Geschäftsordnung an.
Kerne Verhaftung der russischen Generalkonsuln in Mulden und Lharbin
Berlin, 13. Juni. Die Presseabteilung der Botschaft der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Deutschland' teilt mit: In letzter Zeit wird die deutsche Presse mit phantastischen 'Meldungen über angebliche kompromittierende Dokumente und Akten überschwemmt, die während der Untersuchung des Generalkonsulats in Chardin vorgefunden worden sein sollen. Diese Meldungen entsprechen in keiner Weise den Tatsachen. Auch bei der Nachricht über die Verhaftung der Sowjetkonsuln in Mukden und Charbin sowie des Sowjetdirektors der Ostchinesischen Eisenbahn handelt es sich um eine Erfindung.
Die beiden Kommunisten des hessischen Landtags auf zwei Wochen ausgeschlossen
Die beiden einzigen Kommunisten des hessischen Landtags wurden auf 14 Tage von den Verhandlungen ausgeschlossen, weil sie der Aufforderung des Landtagspräsidenten, nicht in Rotfrontuniform zu erscheinen und sich aus dem Sitzungssal zu entfernen, nicht Folge leisteten.
politische Zusammenstöße in Paris
Paris, 13. Juni. Der Iugendbund der Patriolenliga hatte beschlossen, gestern einer kommunistischen Versammlung in der Pariser Vorstadt Bagnolet beizuwohnen. Die Kommunisten hinderten jedoch die Mitglieder des Bundes am Betreten des Saales, wobei es^zu Zusammenstößen kam.,Auch