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Sr»«, «erlag und Schriftleitmigi Theodor Sack, «ildbad, Wilhelmstraß- ««. Telephoo 17».

Wohmmg l Bisma ikftratz« K8

Nummer 306

Fernruf 17S

Montag den 31. Dezember 1928

Fernruf 179

63. Jahrgang

An der Jahreswende

Es gibt, wohl kein Fest im Jahr, das mehr dem Hang des Zeitgenossen zum Dunkeln entgegenkäme als Neujahr. Die zwölfRauhnächte" zwischen Weihnachten und Heilig Drei König sind von altersher voll von Mystik, Prophetie, Schicksalsdeutung und zukunftsweiserischem Begeben. Vom neuen Jahr hofft jeder auf die Einlösung alter Wunschzettel. Es wird auch vom Pessimisten seine Person immer als glücksbringend, als anders als die andern erwartet, als dte große Wendung zum Besseren.

Die Zeitungen bringen vom delphischen Orakel an über Nostradamus und den'Schäfer Bast Prognosen und Horo­skope für das neue Jahr; 1929 scheint demnach ein etwas kratzbürstiges und problematisches Kind zu sein, das uns manche harte Nuß zu knacken geben soll. Nun, am Silvester 1930 sprechen wir uns wieder. Da hat sich dann heraus­gestellt: wie jedes Jahr und so auch ergibt sich voraus­sichtlich für 1929, daß aus dem problematischen Säug­ling schließlich doch ein biederer Durchschnittsphilister ge­worden ist. Während man Säuglinge sonst im allgemeinen trockenlegt, wird das neue Jahr recht feucht und feuchtfröh­lich gefeiert, denn wir leben noch nicht im Land der Proho- bition, allwo man auf verschwiegenen Hintertreppen seinen kleinen Alkohol aus Taschenlaternen und Benzinfeuerzeugen konsumieren muß.

Wir dürfen uns noch vor aller Welt einen steifen Grog, einen tüchtigen Punsch b ien oder sonst etwas Wärmendes hinter die Binde gießen. Da ist Silvester gerade die rechte Nacht dazu. Denn man sagt sich: Dieses alle Lumpenjahr geht ohnehin zu Ende. Da geht's auf einen bißchen mehr sündigennit z'samm" im neuen Jahr, wird man dann der bessere Mensch.

Infolgedessen nützt man die kurze Spanne Zeit, die man noch bis zur Umkehr hat, als Gnadenfrist zu allerhand Hen­kersmahlzeiten aus.

Nichts verschiebt man so leicht und gern als das Besser­werden. Gute Freunde und Bekannte schicken uns gedruckt, geschrieben, in Prosa oder Reim ihre herzlichen Wünsche zum neuen, besseren Jahr, und auch der Briefträger schließt sich ihnen ebenso herzlich mit seinen Wünschen an. Die Zei­tungsfrau, der Kaminkehrer, die Tonnenträger und das Milchmadl stehen als Gratulanten vor der Tür. Und ihnen schließen sich alle an, die einmal durch den Hausgang oder übers Treppenhaus gegangen sind. Eis- und Kohlenmän­ner, Lehrbuben und Hausierer.

Die Wirte, die immer vom Auf und Ab der Zeitläufte das meiste haben, begrüßen den Jahreswechsel am herzlich­sten. Feierte man früher die Jahreswende im Schoß der Familie, so hat sich dieses Fest schon stark nach außen ver­legt. Man will da unter Menschen sein, fröhliche Gesichter sehen,Betrieb" haben. Und der unvermeidliche Tanz kann dabei nicht entbehrt werden. Man nimmt schon ein bißchen Vorschuß auf den Fasching, damit man Heuer nicht zu kurz kommt.

Die Polizei gibt den braven Kindern n«ch eine Extrapolizei- stundenzulage, weil sie auch nichtso sein kann", und auch ihr alle heiligen Zeiten ein fühlendes Herz im Busen schlägt. Draußen knallt und böllert es. Freude ohne Lärm ist nur halbe Freude. Es muß sich was rühr'n, und es wäre eine undankbar^ Aufgabe für Rassen- und Stammespsychologen, die Zusammenhänge zu erforschen, die zwischen Schießpulver und starken Gemütsbewegungen vorhanden sind. Wer keine Pistole brauchen will, um das neue Jahr festlich zu begrüßen, der gießt sich aus Blei eine hübiche symbolische Figur. Am Neujahrsmorgen ist uns jedes Jahr eine neue Erwartung, eine bestimmte Hoffnung: Heuer wird's aber ganz anders! Wir sind am ersten Januar alle ein bißchen optimistisch. Und das ist recht so. Drum sei unsere Losung auch für heute der alte genuesische Wappenspruch:

Herz zag nit

Maul klag nit

Fortuna stirb nit.

, Sie Nerven behalten!

Eine Erfahrung hat uns das ablaufende Jahr gebracht, die »..eileicht nicht allzu erfreulich, jedenfalls aber lehrreich und nützlich ist. Die Erfahrung nämlich, daß eine Ver­ständigung mit Frankreich, die über den Rahmen korrekter Beziehungen hinausgeht, unmöglich ist. Von den beiden Völkern, die im Mittelpunkt der europäischen Politik stehen, haben zweifellos wir das dringendere Bedürfnis nach Frie­den. Nicht um jeden Preis, aber um einen erträglichen Preis. Den Preis zu bestimmen, sind wir leider nicht in der Lage, und es ist schlimm für den Frieden, daß die Gegenseite glaubt, den Preis gar nicht hoch genug treiben zu können. So hoch, daß nicht nur das Geschlecht, das den Krieg noch erlebt hat, daran abzuzahlen bekommt, sondern daß noch ganze Geschlechter von Ungeborenen daran zu tragen haben werden. Dieses Streben des Poincarismus, Deutschland für unbegrenzt? Zeit mit einem Kriegstribut zu belasten, der es seinen Gläubigern, vor allem dem Eläubiaer Frankreich, in die Hände gibt, ist das eigentliche

lagesspjegel

Der pariser ..Temps" meldet, die verbündeten Regie­rungen hätten sich darüber geeinigt, daß ihre Sachverständi­gen durch die pariser Entschädigungskommission ernannt werden. In Berlin wird die Meldung halbamtlich als ..verfrüht" bezeichnet sie dürfte also zutreffend fein. Danach Hallen also Polncare und Brrand auch in diesem Stück ihren Willen bezüglich der Reparationskonferen; durch- gefetzt und die Verhandlungen aus die frühere Form zu­geschnitten, da Denkfchkand die Rolle des angeklagkcn Schuld- ners und die Entschädigungskommission die des kalkschnäuzi- gen Richters spielte.

Londoner Blätter berichten, der Zustand des Königs Georg sei schlimmer, als die amtlichen Berichte zugeben. Der Kranke sei oft bewußtlos. Als letztes Mittel gegen die Blut- zersehung haben die Aerzke eine Blutübertragung von einem gesunden Menschen aus den König in Aussicht genommen.

friedensstörende Element in der Weltpokitik. Denn was die heute noch Ungeborenen tun werden, wenn sie zum Bewußtsein der Schuldknechtschaft kommen, in der sie ohne eigene Schuld gehalten werden sollen, das können wir nicht wissen und dafür können wir, die Lebenden, eine Gewähr nicht übernehmen.

Aendern können wir die französische Geistesverfassung des Poincarismus nicht; am allerwenigsten durch aufdring­liche Versuche verfrühter Annäherung. Wir müssen uns auf sie einstellen. Wir müssen ihren überspannten und unerfüllbaren Forderungen Widerstand leisten im Interesse eins- echten Friedens. Aber wir werden auch froh sein müssen, wenn es uns gelingt, zu Frankreich förmlich­korrekte Beziehungen zu unterhalten, wie sie vom Begriff des Friedens nun einmal nicht zu trennen sind. Mehr zu wollen, ist unerträglich. Mit dem Poincarismus sich dar­über verständigen zu wollen, daß das deutsche Volk durch die Reparationen nicht zum Kuli des Welttrusts der Kriegs­gewinner herabgedrückt werden dürfe, ist eine hoffnungs­lose Unmöglichkeit. Das hat uns die Beflissenheit gezeigt, womit Poincare unmittelbar nach mühsam erfolgter Ver­ständigung über den neuen Dawesausschuß seineRechts­titel" an den Fingern herzählte, woraus er den Anspruch auf dauernde Versklavung Deutschlands herleitete. Auf der starren Grundlage dieserRechtstitel" gibt es keine Ver­ständigung. Das kann man schon jetzt sagen. Und es war eine Politik gesunder Ehrlichkeit, wenn Reichskanzler Müller demgegenüber nochmals erklärte, daß Deutsch­land zu keiner Lösung ja und amen sagen werde, die die deutsche Währung in Gefahr bringe und das arbeitende Deutschland zu einer Wirtschaftskolonie mit Kulibetrieb Herabdrücke. Heuchelei dagegen -war es, wenn die englische Presse sich über die nachträglichen deutschen Bedingungen" ebenso entrüstet wie über Poincares un­erfüllbare Forderungen. Wir wollen doch nicht vergessen, daß England der erste Gläubigerstaat gewesen ist, der für die Annahme des neuen Dawesplans vorweg seine Bedingungen stellte. Indem England seine Ansprüche an­der Balfournote erneut anmeldete, wonach es aus Deutsch­land so viel Herauspressen müsse, um seine Schulden an Amerika bezahlen zu können, hat es den Reigen der Gläu­bigerforderungen eröffnet, die wenn man sie zusammen­rechnet neue Dawesverhandlungen überflüssig machen.

Die einfachste Vorsicht gebietet uns also, in der feind­lichen Front, der wir bei den neuen Dawesverbnndlungen gegenübertreten. England nicht zu übersehen. Wir haben auf Unterstützung von keiner Seite zu rechnen, höchstens von den Vereinigten Staaten, die ihr in Deutschland fest­gelegtes Geld zu verteidigen haben. Möglich also immer­hin, daß mit dieser Unterstützung ein Ergebnis zustande­käme, das wir mit gutem Gewissen annehmen können; möglich, wenn auch nicht gerade wahrscheinlich. Aber wenn die Beratungen der Sachverständigen ein solches Ergebnis hätten, so dürfen wir um so sicherer darauf rechnen, daß es von der feindlichen Front der Regierungen unter offener Führung Poincares und auf heimliches Betreiben der eng­lischen Regierung abgelehnt wird.

Und das Ergebnis wird nicht durchaus hoffnungslos sein, wenn nur die deutsche Regierung es vermeidet, die feindliche Front durch ein übereiltes Ja zu stärken, nur weil sie nicht die Nerven hat, den Anschein der Ergebnislosigkeit zu tragen. Die Nerven dazu scheint Reichskanzler Müller wohl zu haben aber was nützen schließlich die besten Nerven, wcnn ihm dann etwa der Reichstag in den Rücken fiele? Auch Brockdorff-Rantzau hatte die Nerven, um der feind­lichen Front inVersailles abzuringen, was uns möglich gemacht bätie, zum Friedensschluß aus freien Stücken Ja zu sagen. Damals ist es die Nationalversammlung gewesen, die ihm in den Rücken fiel und uns dadurch um die Früchte seines zähen Widerstands brachte. Uns bleibt nur zu has­sen, daß sich dergleichen bei den neuen Dawesverhandlungen ücht wiederholen wird.

^ WR

Ileuesle Nachrichten

Der bayerische Ministerpräsident beim Reichskanzler

Berlin, 30. Dez. Reichskanzler Müller hat gestern den bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Held empfangen.

Der Straßburger Bischof gegen die Autonomisten

Straßburg, 30. Dezember. Bischof Ruch hat dem Abb4 Schieß, dem Schriftleiter des autonomistischen Blattes Der Elsässer", die weitere Ausübung des geistlichen Amtes untersagt. Man erwartet ein gleiches Vorgehen des Bischofs gegen den Abbe H ä g y, Schriftleiter desElsässischen Kurier" in Kolmar.

Fahnenflucht poincares

Paris, 30. Dez. Gestern wurde im Senat die Regie­rungsvorlage behandelt, wonach die Bezüge der Kammer­abgeordneten von 45 000 auf 60 000 Franken (rund 10 000 Mark) erhöht werden sollen. Poincare war gegen diese Vorlage, weil sie im Land unbeliebt ist, andererseits wollte er es aber auch mit den Abgeordneten nicht verderben. Die Vorlage wurde von dem Finanzminister Cheron verteidigt. Poincarö verließ vorher den Senat und ließ einen seiner Freunde dagegen spre^en. Die Er­höhung wurde darauf mit der geringen Mc rh-eit von 27 Stimmen angenommen.

Englische Kirchen für Rheinlandräumung

London, 30. Dez. Die britische Vereinigung des Welt­bundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen hat, wie berichtet wird, zur Rheinlandräumung eine Ent­schließung angenommen, worin die Ueberzeugung aus­gesprochen wird, daß die fortdauernde Besetzung des RHein- landes ein ernstes Hindernis für das Anwachsen des Geister internationaler Verständigung bildet.

Gesetz gegen den Kinderraub ln China

Schanghai, 30. Dez. Die Regierung in Nanking hat gegen den Kinde rraub, der gegenwärtig in China an der Tagesordnung ist, ein Gesetz erlassen, das die härtesten Strafen vorsieht nicht nur gegen die Kindesräuber, sondern auch gegen die beraubten Eltern und Familien, wenn sie es unterlassen, einen Kindesraub sofort bei der chinesischen Polizei- oder Gerichtsbehörde anzuzeigen. Die gleichen Strafen treffen alle, die irgendwie an der Erlangung von Lösegeld für geraubte Kinder beteiligt sind.

Vmllemberg

Stuttgart, 29. Dezember.

Ehrensenakor. Die Technische Hochschule in Stuttgart hat den Generaldirekrkor Dr. Ing. Sommer ln Dresden zum Ehrensenakor ernannt. Sommer ist durch seine Ein­führung der Kaltasphalttechnik bekannt geworden.

Ein Widerruf. ImBereinsboten", dem Organ des Kakhol. Lehrervereins, nimmt der Schriftleiter Epple einen gegen Professor Dr. Baur in Breslau erhobenen Bor­wurf der Lüge mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.

Ausweis über die monatlichen Einnahmen und Aus­gaben des Lands. In den Monaten April bis November 1928 betrug gegenüber dem Voranschlag die Mehreinnabme im ordentlichen Haushalt 2 827 000 Mark, im außerordent­lichen Haushalt 6 499 000 Mark.

Stuttgart, 30. Dezember, i Ernennung. Der Staatspräsident hat den Regierungsrai Ehrlinger beim Oberversicherungsamt zum Borstand des Bersicherungsamls Stuttgart ernannt.

Mit Ablauf des Monats Dezember 1928 tritt Mini­sterialdirektor von Groß im Finanzministerium in den bleibenden Ruhestand. Der Staatspräsident hat den Mini- sterialrat Dr. Fischer im Finanzministerium zum Mini­sterialdirektor daselbst ernannt, den Oberregierungsrat Bäuerle im Finanzministerium zum Ministerialrat und den Regierungsrat Dunz mit der Amtsbezeichnung .Ober­regierungsrat" im Finanzministerium zum Oberregierungs- rat befördert. »

Gegen mißbräuchliche Inanspruchnahme der Kranken­kassen. Der Vorstand der Stuttgarter Ortskrankenkassen lenkt in einem Rundschreiben an die Betriebsräte die Auf­merksamkeit auf die Verhältnisse dieser Kassen hin. Alle Einnahmen dieser Kassen seien Lohnteile, die von den Ver­sicherten selbst zu zwei Dritteln und von den Arbeitgebern zu einem Drittel bezahlt werden, und ein Defizit werde von der Staatsverwaltung nicht gedeckt. Aus den Ein­nahmen hat z. B. die Allgemeine Ortskrankenkasse an Sach­leistungen (ärztliche Behandlung, Arznei- und Heilmittel Krankenkhauspflege usw.) auf ein Mitglied ausgegeben im Jahr 1925: 42,59 °4t, 1926: 45,87 -4t, 1927: 51,43 -4t. Die Gesamtausgaben auf den Kopf des Mitglieds waren im Iabr 1926 S.02 -4t Köder als die Einnahmen. Sie konnten