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Montag drv 9. Juli t928
Nummer 158
63. Jahrgang
Kennest 17S
Krrnnrf 17S
Tageslpiegel
Das Wirtschaftsprogramm der neuen Reichsregierung läßt guten Willen gewiß nicht vermissen. Man merkt es dem Programm an, daß die Mitglieder des neuen Kabinetts aus den verschiedensten Lagern zusammengeholt sind. Allen will man helfen, den Landwirten ebenso wie den Fabrikarbeitern, den Handwerkern nicht weniger wie den Kauf- leulen und Industriellen.
Es ist anzuerkennen, daß tatsächlich die nächsten wichtigsten Ziele deutscher Wirtschaftspolitik hier vereinigt und mit Offenheit erörtert worden sind. Ausgangspunkt aller ziel- bewußten Wirtschaftspolitik muß klare Stellungnahme zur Entschädigungsfrage sein. Die 2^-Milliarden- Daweslast des „Normaljahrs" und der völlige Wiederaufbau einer aus eigenen Kräften existenzfähigen deutschen Volkswirtschaft sind unvereinbar miteinander. Auch das Regierungsprogramm bringt diese Ueberzeugung zum Ausdruck und spricht von der „nicht nur wünschenswerten, sondern auch möglichen" baldigen Herbeiführung der Endlösung. Aber, wie stellt man sich diese Endlösung nunmehr praktisch vor? Es ist sehr peinlich, bei allen Untersuchungen darüber stets nur auf die Berichte des Dawesagenten angewiesen zu sein. Gewiß waren diese Berichte vorzüglich ausgemacht, aber doch eben nur Aeußerungen der Gläubigerseite. Demgegenüber wirkt das hartnäckige Stillschweigen der amtlichen deutschen Stellen von Bericht zu Bericht befremdlicher. Der 1. September 1928 ist nicht mehr fern! Das neue Kabinett hat daher gewiß keine Zeit mehr zu versäumen. Nur noch sieben Wochen, und dann wird uns schon jeder Tag, ganz gleich, ob Sonntag oder Werktag, fast sieben Millionen Goldmark Dawestribut kosten. Deutsche Entschädigungspolitik, die nicht über Erwägungen des „Wünschenswerten und Möglichen" hinaus kommt, ist also doch ein allzu kostspieliger Zeitoertrieb.
Ohne Klärung der Entschädigungsfrage kommen wir auch zu keinen endgültigen Lösungen der innerdeutschen Finanzsragen. Die Dringlichkeit wesentlicher Steuersenkung ist bereits in einem Initiativantrag ausgesprochen worden. Die unteren und mittleren Einkommen sollen um etwa 10 Prozent entlastet werden: die Höchstbelastung soll ein Drittel des Einkommens nicht übersteigen. Man verbindet damit die volkswirtschaftlich sehr richtige Erwartung, daß die bis heute leider immer noch so unzulängliche Kapitalneubildung in Deutschland durch solche Entlastung wesentlich angeregt werden könnte. Der Vorschlag hat offenkundig auf den finanzpolitischen Teil des Regierungsprogramms eingewirkt. Was der Reichstag aus diesen Anregungen machen wird, steht freilich noch sehr dahin. Und vollends sind die Fragen des zum 1. April 1929 fälligen endgültigen Finanzausgleichs, der weiteren Steueroereinheitlichung usw. noch gänzlich ungeklärt. Hier wird man das neue Kabinett weniger nach seinen Worten als vielmehr nach seinen Taten zu richten haben. Was man fordern muß, sind Bereinigung von Neichs- wirkschafksrat und Neichsrak zu einem organisch und regional ausgebauten Oberhaus, Verwaltungsreform, Sparpolitik. Enilastung der Wirtschaft von vermeidlichen, unproduktiven Verwaltungslasten. Wie weit es die neue Aera auf diesem Feld bringt, das wird uns schon der Finanzausgleich zum 1. April 1929 zeigen.
Etwas entschiedener hat das neue Programm die handelspolitischen Grundsätze gefaßt. Man bleibt bei den Genfer Entschließungen, Weltwirtschaft und Freihandel, verzichtet aber nicht auf positive Maßnahmen zum <vchutz des deutschen Außenhandels bei den wichtigen Handelsverträgen, die in nächster Zeit, besonders mit der Tschechoslowakei und mit Polen, neu abzuschließen sind. „Autonome Maßnahmen auf dem Gebiet des Zolltarifs" tun wirklich dringend not, um unsere Stellung bei der Verhandlung über neue Tarif- Handelsverträge mit dem Ausland zu stärken.
Besondere Beruhigung in weiten Kreisen des deutschen Volks wird vor allem ein Punkt des Wirtschaftsprogramms schaffen: DieAufbaumaßnahmenfürdieLand- wirtschaftsollenfortgeietztwerden. Das Werk des letzten Reichstags und des letzten Kabinetts soll keine Unterbrechung erfahren. Was die Landwirtschaft braucht, ist in erster Linie die verständnisvolle Unterstützung ihrer Selbsthilfe bei der technischen Rationalisierung der Betriebe und bei der organisatorischen Rationalisierung -es Absatzmarktes.
Wir haben die staatliche Zwangswirtschaft, bis auf den Rest im Wohnungswesen und in der Kohlen» und Kalipolitik, abgebaut und wünschen nimmer ihre Wiederkehr. Wir wollen aber auch auf keinen Fall eine private Zwangswirtschaft aufkommen lassen, die von Trusts, Konzernen und privaten Monopolgesellschaften über Verarbeiter, Händler und Verbraucher ausgeübt wird.
Die sozialpolitischen und handwerkerfreundlichen Vorsätze des neuen Programms seien nur mit einem Wort erwähnt. Auch hier laßt uns zunächst einmal Talen sehen! Aber, warum hat die Reichsregierung mit keinem Sterbenswörtchen die Frage der Reichsbahntariferhöhung erwähnt?
Reichspräsident v. hindenburg hat an den Präsideuke». Eoolidge anläßlich des amerikanischen Unabhängigkeitstags ein Glückwunschtelegramm gerichtet, das von Eoolidge herzlich erwidert wurde.
Vom König Aman Allah und der Königin Suraja ist aus Kabul beim Herrn Reichspräsidenten ein herzliches Be- grüßungs- und Dankkelegramm für die freundschaftliche Aufnahme des Königspaares in Deutschland eingegangen. Der Reichspräsident hat das Telegramm ebenso herzlich erwidert.
Rach dem Bericht des Dawesagenken hat Deutschland im vierten Dawesjahr bis 3V. Juni rund 1536,85 Millionen Mark in bar, Sachlieserungen und kosten für Besahungs- kruppcn abgeliefert.
Auf Einladung der britischen liberalen Varkei fand in London eine internationale Konferenz liberaler Parteien stakt, auf der auch der frühere Reichssinanzminister Dr. Reinhold (Dem.) eine Rede hielt. Lloyd George lud die Verkreker zu einem Essen ein.
Restlos «euer Präsident
General Alvaro Obregon, genannt „der Einarmige", der schon einmal, in der Zeit von 1920 bis 1924, die Geschicke Mexikos leitete, ist am 1. Juli dieses Jahrs zum Nachfolger des Präsidenten Calles gewählt worden.
Es war nicht schwer, die Wahl gerade dieses Kandidaten schon vor mehr als Jahresfrist vorauszusagen. Denn immer war es die ungemein große Volkstümlichkeit dieses energischen Mannes, in dessen Adern, wie behauptet wird, das Blut der Paqui-Jndianer fließt, die ihm vor den andern Präsidentschafts-Kandidaten einen tüchtigen Vorsprung sicherte. Obregon, der Freund und Gesinnungsgenosse Calles', hätte wahrscheinlich auch dann über seine Rivalen im Wahlkampf gesiegt, wenn diese nicht vorzeitig und auf etwas ungewöhnliche Weise — durch Vollstreckung kriegs- gerichiiicher Todesurteile — von dee politischen Bühne ab- berusen worden wären.
Was im Sommer 1927 die Ruhe und Ordnung im Land gefährdete, war die Unzufriedenheit klerikaler Kreise mit den Maßnahmen der Regierung, der religionsfeindliche Gesinnung vorgeworfen wurde. Die Bewegung geriet erst in politisches Fahrwasser, nachdem es Präsident Calles gelungen war, die Möglichkeit der Wiederwahl gesetzlich sicherzustellen. Entgegen der bisherigen Gepflogenheit kann heute in Mexiko ein Präsident nach Ablauf seiner vierjährigen Amtsperiode und einer wetteren Wartezeit von vier Jahren abermals zum Präsidenten gewählt werden. Calles' Gegner hatten — zu spät — erkannt, was er mit dem Wiederwahlgesetz bezweckte. Er wollte sich mit seinem politischen Freund Obregon in der Leitung' der Staatsgeschäfte ständig, von vier zu vier Jahren ablösen und damit praktisch eine Diktatur errichten.
Es entstand der „Anti-Wiederwahl-Block" unter Führung der Generale Arnulfe Gümez und Franzisco Serrano, beide „feindliche Brüder" zwar, da jeder von ihnen nach dem Präsidentensessel schielte, aber geeint in dem Bestreben, das Schutz- und Trutzbündnis zwischen Calles und Obregon zu zerstören. Und da jeder von ihnen glaubte, sich auf die von ihm befehligten Truppen verlassen zu können, entschlossen sie sich für den Kampf.
Calles und Obregon sind beides Männer, denen daran liegt, die Wiederkehr blutiger Umsturzbewegungen zu verhindern. Nach Obregäns Sieg über de la Huerta schien es auch tatsächlich so, als sei den Rsvolutionsgeneralen die Lust zu bewaffneten Aufständen gründlich vergangen. Das Schicksal, das beide ereilte, ist bekannt. Calles schlug mit eiserner Faust den Aufstand nieder und überantwortete die Schuldigen dem Kriegsgericht. Serrano und Gomez wurden hingerichtet.
Die Wahl Obregons bedeutet, daß sich der Kurs in Mexiko in absehbarer Zeit kaum ändern wird. Was Calles begann, Verwalttmgsreformen, Förderung der Landwirtschaft, Herstellung erträglicher Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, wird sein Nachfolger zu vollenden trachten. Obregon selber ist auch Landwirt. Was aber vom brutschen Standvunkt aus besonders Ewähnung verdient, ist die Gewißheit, daß Obregon ein ebenso großer Deutschenfreund ist.
Die Herabsetzung der Einkommensteuer
Berlin, 8. Juli. Die Verhandlungen des Neichsfinanz- ministers Hilferding mit den Führern der Regierungsparteien über die Steuerherabsetzung haben bis jetzt zu keinem Ergebnis geführt. Es handelt sich um die Frage, dis Einkommensteuer bis zur Höchstgrenze eines Jahreseinkommens von 8000 Mark um etwa 10 v. H. zu ermäßigen» gleichgültig, ob es sich um veranlagte Einkommen oder um den Lohnabzug handelt.
Urteil wegen der Befreiung des kommunistischen Schriftstellers Braun
Leipzig, 8. Juli. 3m Prozeß gegen Georg Semmelmann aus München wegen der Befreiung des kommunistischen Schriftstellers Braun, der von dem Prozeß gegen die übrigen Kommunisten abgekrennk worden war, wurde vom vierten Strafsenat des Reichsgerichts folgendes Urteil gefällt: Semmelmann wird wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Urkundenfälschung, Betrugs und einiger anderer Vergehen zu insgesamt 216 Jahren Gefängnis verurteilt. 8 Monate gelten durch die Untersuchungshaft als verbüßt.
Die französischen Schulen im Saargebiek
Saarbrücken, 8. Juli. Die von der französischen Grubenverwaltung im Saargebiet unterhaltenen französischen Schulen waren noch im Mai 1924 infolge des starken Drucks der Verwaltung von 4400 deutschen Bergmanns- Kindern besucht. Das rücksichtslose Vorgehen der Verwaltung gegen die Bergleute — innerhalb von 10 Monaten wurden mehr als 12 000 Beraleute entlassen — hakte aber die Wirkung, daß die Franzosenschulen nur noch etwa 1830 deutsche Kinder zählen, obgleich der Druck erneut eingesetzt hak und die völkerbündliche Regierungskommission sich alle Mühe gibt, die französischen Bestrebungen, deutsche Kinder französisch zu machen, zu unterstützen. Zwei Franzosenschulen sind inzwischen eingegangen und zwei weitere stehen wegen Schülermangels vor der Schließung. Die NegierungZ- kommission hak nun weiter ungeordnet, daß an den deutschen Volksschulen französischer Unterricht als — Wahlfach eingeführt werde, und zur Usberwachung dieses Unterrichts wurden vier Schulräte angeskellk, die vom Saargebiek zu bezahlen sind. Aber diese Herren haben so gut wie nichts zu tun, weil nur sehr wenige Schulklassen von diesem Unterricht Gebrauch machen.
Aufhebung der Zweisprachigkeit im Bozener Bezirk
Wien. 8. Juli. Wie d!e «Neue Freie Presse" aus Inn?, druck meldet, wird durch einen Erlaß des italienischen Präfekten von Bozen die bisher zugestandene Zweisprachigkeit in den Gemeinden Brixen, Ekka und Lana vom 1. Oktober an anfgehoben. Der Präfekt kündigte weiter an, daß demnächst auch die übrigen Gemeinden des Bozener Bezirks ihre Zweisprachigkeit verlieren. Die deutsche Sprache darf also vor Amt in Work und Schrift nicht mehr gebraucht werden.
Noch ein Nationalfeiertag
Berlin, 8. Juli. Die kommunistische Reichskagsfrakkion hak einen Antrag e'mgebrocht, der verlangt, daß der 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärt werde. Der Antrag soll gemeinsam mit der Vorlage des Nationalfeiertags beraten werden.
Russische Getreidekäuse im Ausland ,
Nach der Londoner «Times" mehren sich die Anzeichen, daß die Näkeregierung den Ausbruch einer ernsten Hungersnot befürchtet und dieser Gefahr durch große Getreidekäufe auf dem Weltmarkt zu begegnen sucht. Sie soll bis jetzt zwischen 150 000 und 200 000 Tonnen Weizen gekauft haben, die zum Teil aus den Lagern der europäischen Häfen stammen und zum Teil von Nord- und Südamerika nach Europa unterwegs seien und jetzt nach russischen Häfen abgelenkt werden. Der Wert der Käufe werde auf rund 2,5 Millionen Pfund Sterling geschätzt, die bar bezahlt worden sein sollen. Man erwartet, daß die Räteregierung demnächst auch noch Mehl kaufen werde. Die Mitteilungen, die sie über den Saatenstand verbreitet habe und die dahin lauten, daß der Stand etwas über dem Durchschnitt liege und 10 v, H. besser als im vorigen Jahr, werden der „Times" zufolge durch die Berichte aus den Provinzen selber nicht bestätigt. Die Anbaufläche soll weit kleiner sein als im vorigen Jahr. In den größeren Städten soll das Brok schon schlechter und knapper geworden sein, und selbst in kleinen Dörfern sollen sich die Leute schon in Reihen anstellen müssen, um Brot zu erhalten. Da auf dem Weltmarkt gegenwärtig reichlich Weizen vorhanden ist, so glaubt das Blakt nicht, daß die russischen Ankäufe eine wesentliche Preissteigerung Hervorrufen werden: dagegen sei vielleicht mit einer Versteifung der Frachtsätze zu rechnen. Seit 1919—20 habe Rußland nicht mehr in diesem Umfang gekauft. Diese plötzliche Nachfrage scheine die Weizenmäkke völlig überrascht zu haben, obwohl man sie hätte voraussehen können.
Der Mangel an Brotgetreide in Sowjekrußland ist, wie die Moskauer Regierung nunmehr selbst eingesehen hak, die unausbleibliche Folge der unsinnigen Zerschlagung der landwirtschaftlichen Großbetriebe nach der bolschewistischen Ne- volution.