Nr. 239

Amts- und -Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.

98. Jahrgang.

»rscheinun,»weise:« mal wöchentlich. «n»i,enpr,t»: Die Heile SO Mk., Kamilien-MteiL-n

I» Mk, «eklamen SM Mk.X Schlüsselzahl, «us «ommelan,eigen kommt »In Zuschlag von

Freitag, de» 12. Oktober 1923.

! BezugSpretl. JnderEtadlmit

^ ohne Bestellgeld. Einzelnummer SOOOÖtX)

n 36000000 Mk. wöchentl. PostbezugSpr-K 36000000 Mk. §

' . i

k. Schluß der Anzeigenannahme 8 Uhr vormittagt.

Neueste Nachrichten.

Der Reichstag beriet gestern über das Ermächtigungsgesetz, das der Regierung die Vollmacht zu außerordentlichen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Matznahmen geben soll. Da zu der Gültigkeit des Gesetzes eine Zwei­drittel-Mehrheit notwendig ist, so wurde die Abstim­mung auf morgen verlegt, weil nicht alle Mitglieder der Koalitionsparteien anwesend waren. Auf dem lin­ken Flügel der Sozialdemokratie wie auf dem rechte« Flügel der Deutschen Volkspartei find Gegner des der­zeitigen. Kabinetts Stresemann, weshalb zu befürchten ist, datz die notwendige Zweidrittel-Mehrheit trotz allem nicht zustande kommt. Für diesen Fall hat sich der Reichs­kanzler vom Reichspräsidenten die Ermächtigung zur Auflösung des Reichstags eingeholt.

- -

Bon amtlicher deutscher Seite wird jetzt die Antwort Po- inearös af das Ersuchen der deutschen Regierung um Aufnahme von Verhandlungen über das Ruhrgebiet be- kannt gegeben. Frankreich lehnt also Verhandlungen mit der deutsche» Regierung ab, und will nur mit der deutschen Wirtschaft und de« lokalen deutschen Behörden verhandeln. Außerdem will es abwarten, ob der Wider­stand im Ruhrgebiet tatsächlich verschwunden sei, was nach Anficht PoincarSs in 14 Tagen bis 4 Wochen der Fall sein könne. Der Zynismus Poincar s spricht na­türlich aus jedem Wort dieser Erklärung. Das Ziel die­ser Haltung ist klar: Verschleppung des Ber. Handlungsbeginns und Abschnürung des Ruhrgebiets von der politischen Leitung Deutschlands. Wir hoffen, daß die bevorstehende Stellungnahme der deutschen Regierung zu dieser uner­hörte» Unverschämtheit Poinrarös entsprechend ausfällt.

Die innere Krisis.

Besprechungen zwischen den Staatsleitern Deutschlands und Oestreichsl!

Berlin, 11. Okt. Der Reichskanzler Dr. Stresemann wird sich .nt dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt und dem Staats­sekretär in der Reichskanzlei am Sonnabend abend nach Bregenz begeben und dort am Sontag mit dem österreichischen Bundes­kanzler Seipel zusammentreffen. Der Bundeskanzler wird vor­aussichtlich vom Vizekanzler Frank und dem österreichischen Ge­sandten in Berlin, Riedl, begleitet sein. Die Zusammenkunft, die eine Erwiderung eines früheren Besuches des Bundeskanzlers Seipel in der deutschen Reichshauptstadt darstellt und an der auch der'deutsche Gesandte in Wien teilnehmen wird, hat den Zweck, mit den leitenden Staatsmännern des benachbarten und stammverwandten Landes in einen Gedankenaustausch über die politische Eesamtlage einzutreten und gleichzeitig über die Er­fahrungen zu sprechen, die man bei der raschen und glücklichen Regelung der finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Oesterreich gemacht hat.

Das Ermächtigungsgesetz im Reichstag.

Berlin, 11. Okt. Im Reichstag stellte heute bei der dritten Beratung des Ermächtigungsgesetzes der Abg. Lede- bour (ll. S.) den Antrag, die Verhandlungen auszusetzen, bis der Reichskanzler zu den Beschuldigungen des Abg. Froelich lgegen die Ruhrindustriellen) sich geäußert habe. Der Antrag wurde wegen mangelnder Unterstützung abgelehnt. Im Laufe der Debatte darüber erklärte Präsident Löbe, der Reichskanz­ler werde in wenigen Minuten erscheinen. Er sei jetzt zum Reichspräsidenten gegangen, weil Mitteilungen über die Ver­tretungsstärke und die Stimmung der Parteien ihn dazu veran­laßt hätten. Im Verlaufe der Sitzung erschien der Reichskanzler und nahm seinen Platz am Regierungstisch ein. Auf eine an- . spielende Bemerkung des Abg. Ledebour, ob der Reichskanzler schon wieder sein Mandat zur Verfügung stellen wolle, verneinte dieser lächelnd. Nach seiner Rückkehr vom Reichspräsidenten be­rief der Reichskanzler die Führer der Regierungsparteien zu sich und eröffnete ihnen, daß der Reichspräsident ihm die Ermächti­gung zur Auflösung des Reichstags gegeben habe, wenn das Er­mächtigungsgesetz nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit finde. Während der Plenarsitzung hielten die Sozialdemokraten eine Fraktionssitzung ab, in der der Minderheit noch einmal die Folgen einer Reichstagsauflösung klargelegt wurden. Die Deutschnationalen machen hingegen das Schicksal des Ermächti­gungsgesetzes von der Anwesenheit der Regierungsparteien ab­

hängig. Nach einer gegen rechts gerichteten Polemik des Abg. Ledebour erklärte Abg. Leicht (B. V.P.), seine Fraktion lehne das Ermächtigungsgesetz nach wie vor ab. Der Sozialdemokrat Breitscheid stimmte aus Gründen der Wahrung der Errungen­schaften von 1918 dem Ermächtigungsgesetz zu. Unter Ableh­nung der Abänderungsanträge der Deutsch-Nationalen und Kom­munisten wird ein Antrag der Regierungsparteien auf Schluß der Debatte angenommen. 8 1 des Ermächtigungsgesetzes wird mit 283:97 Stimmen bei einer Stimmenthaltung angenommen, desgleichen 8 2 in einfacher Abstimmung. Die Deutsch-Nationa­len, Kommunisten und Unabhängigen verlassen geschlossen den Saal, worauf ein Antrag Marx (Z.) Annahme fand, die Schluß­abstimmung am nächsten Samstag vorzunehmen, um die not­wendige Zweidrittelanwesenheit des Reichstags durch die Regie­rungsparteien zu sichern.

Um das Ermächtigungsgesetz.

Berlin, 12. Okt. Die Führer der Koalitionsparteien traten gestern abend zu einer Sitzung zusammen, um die durch die par­lamentarische Krise herbeigeführte Lage eingehend zu erörtern. Don den Demokraten wurde eine Vermittlungsaktion eingelei­tet, die das Abstimmungsergebnis am Sonnabend sichern soll. Zu diesem Zweck sind die Demokraten an die sozialdemokratische Fraktion mit dem Ersuchen herangetreten, den Fraktionszwang aufzuheben und ihren Mitgliedern die Abstimmung freizugeben. Auch von anderen bürgerlichen Koalitionsparteien wurde an die Sozialdemokraten der gleiche Wunsch gerichtet. Wie der Vorwärts" meldet, stellte die demokratische Reichstagsfraktion nach mehrstündiger Beratung fest, daß es bei dem bisherigen Fraktionsbrauch bleibe, wonach es den Mitgliedern nicht gestat­tet ist, im Reichstag gegen einen Fraktionsbeschluß zu stimmen. Wie die Fraktion weiterhin feststellte, geht ihr Wille dahin, daß das Ermächtigungsgesetz am Sonnabend mit den verfassungs­mäßigen Mehrheiten angenommen wird.

Der Reichskanzler über die Möglichkeit

der Auslösung des Reichstag».

Berlin, 12. Okt. Den Blättern zufolge empfing der Reichs­kanzler eine Reihe von Pressevertretern, denen er mitteilte, daß er sich nach Schluß der gestrigen Sitzung des Reichstags mit dem Reichspräsidenten erneut in Verbindung gesetzt habe. Auf seine Vorschläge habe der Reichspräsident wiederholt, daß der Reichs­tag ohne weiteres aufgelöst werden solle, wenn er am Sonn­abend dem Ermächtigungsgesetz nicht zustimme. Gehe das Gesetz durch, so werde dem Reichstag, wie der Reichskanzler erklärte, sofort das Arbeitszeitgesetz mit der strittigen Frage des Acht­stundentags zur Erledigung oorgelegt werden. Falle das Er­mächtigungsgesetz dagegen, so habe er, der Reichskanzler, freie Bahn für alles weitere, was die Stunde erfordere.

Steuer- und Währungsfragen.

Berlin, 12. Okt. Wie die Blätter zu der angekündigten Ver­ordnung über Steuerauswertung und Vereinfachungen im Be- steuerungsversahren erfahren, soll nach den in der gestrigen Ka­binettssitzung gefaßten Beschlüssen die Vermögensbesteuerungs­veranlagung wegen übermäßiger Verwaltungskosten überhaupt fortfallen. Auch die Veranlagung zur Zwangsanleihe soll ein­gestellt werden. Alle Steuern sollen fortan mit Rückwirkung zum 1. September in aufgewerteter Form erhoben werden und alle früheren Stcuergesetze als erledigt gelten, soweit nicht strafbare Handlungen vorliegen. Die Einführung der neuen Währung soll so beschleunigt werden, daß in kürzester Zeit bereits ein wertbeständiges Geld geschaffen wird. Endlich haben auch die Erörterungen über die Aufhebung der Kohlensteuer bereits be­gonnen, die aber nur dann möglich ist, wenn gleichzeitig durch Senkung des Kohlenpreises an sich eine die Neuankurbelung der Wirtschaft ermöglichende Verbilligung des Urprodukts eintritt.

Eine Verordnung über Steueraufwertung und Steuervereinfachung.

Berlin, 12. Okt. Das Reichsministerium hält es für seine Pflicht, ohne Zeitaufschub in steuerlicher Hinsicht zu tun, was ihm möglich und dringend geboten ist, nämlich die auf Papier­mark lautenden Steuern in der Zahlung wertbeständig zu ma­chen. Demgemäß erläßt der Reichspräsident eine Verordnung über Steueraufwertung und Vereinfachungen im Besteuerungs­verfahren. Die Umstellung der Steuerleistungen auf Goldmark sichert den Staat gegen die Entwertung geschuldeter Steuer­leistungen.

Arbeitslosenausschreitungen.

Berlin, 11. Okt. Infolge der gewaltsamen Entfernung der Schutzpolizei aus Düsseldorf ist die Stadtverwaltung, vor allem die städtische Erwerbslosenfürsorge, Terrorakte»

der Erwerbslosen, die Forderungen in unbegenzter Höhe stellen, völlig preisgegeben. Infolgedessen veranlaßte der Regierungspräsident Dr. Erützner, wie der Amtliche preu­ßische Pressedienst mitteilt, daß das gesamte Dezernat für die Erwerbslosenfürsorge nach Barmen verlegt wird.

Berlin, ii. Okt. Heute nachmittag zogen etwa 300 Arbeits­lose nach einer Versammlung zur Markthalle in der Bremer­straße. Da der Zug infolge des Zustroms von Neugierigen den Verkehr behinderte, zerstreute die Polizei die mehrere tausend Köpfe starke Menge. Diese sammelte sich noch zweimal, wurde aber in beiden Fällen ohne Anwendung von Waffengewalt auf­gelöst. Später sich bildende kleinere Trupps zerstreuten sich all­mählich von selbst. Die Stimmung unter der Menge war infolge der hohen Lebensmittelpreise sehr erregt.

Köln, 11. Okt. Heute nachmittag kam es im Innern der Stadt zu größeren Menschenansammlungen, wobei einige Fahrzeuge mit Waren geplündert wurden. Die Polizei zerstreute die Menge und ebenso eine Ansammlung Arbeitsloser auf dem Neumarkt. Auf dem Perlengraben, wo einige Beamte mit Koks beworfen wurden, mußte von der Waffe Gebrauch gemacht werden, lieber Verletzungen ist nichts bekannt geworden. Zwei Plünderer wur­den festgenommen.

Zum Kampf um die Arbeitsregelung.

Frankfurt a. M.» 11. Okt. Hier fanden heute Verhand­lungen zwischen Vertretern der Freien Gewerkschaften des Afa-Bundes und Beamtenvertrauensleuten mit Vor­standsmitgliedern der sozialdemokratischen und der kommu­nistischen Partei statt,um, wie dieVolksstimme" meldet, eine gemeinsame Kampffront herzustellen und ein Mini­malprogramm zu vereinbaren, das für alle beteiligten Or­ganisationen für die nächste Zeit bindend sein soll.

Das sozialistisch-kommunistische Kabinett in Sachsen.

Dresden, 11. Okt. Das sozialistisch-kommunistische Ka­binett ist gestern gebildet worden. Den Kommunisten sind das Finanzministerium und das Wirtschaftsministerium zugeteilt worden. Das Kabinett setzt sich demnach wie stl'i zusammen: Ministerpräsident: Dr. Zeigner; Ministers des Innern: Liebmann (Soz.); Finanzministerium: Metz ger (Komm.),- Justizministerium: Heu (Soz.); Ministerium für Volksbildung: Fleißner (Soz.); Wirtschastsministe- rium: Heckert (Komm.); Handelsministerium: Eraupr (Soz.). Der bisherige kommunistische Parteisekretär Heim rich Brendler ist zum Ministerialdirektor in der Staots- kanzlei enannt worden.

Dresden, 11. Okt. Der Landtagspräsident hat sich wäh­rend der Dauer der gegenwärtigen Landtagsverhandlun­gen zu besonderen polizeilichen Schutzmaßnahmen veran­laßt gesehen, weil ihm durch vertrauliche Mitteilungen Kenntnis geworden war, daß Anschläge gegen die Regie­rung und den Landtag im Bereich der Möglichkeit liegen und auch Drohbriefe eingegangen sind. Um Mißverständ­nisse zu vermeiden, weist die Nachrichtenstelle der Staats- kanzlei besonders auf die Ursachen dieser polizeilichen Schutzmaßnahmen hin.

Die Ruhr- und Neparalionsfrage.

Amtliche deutsche Bekanntgabe der Ruhrpolitik Frankreichs.

Berlin, 11 . Okt. Anschließend an die Aufgabe des passiven Widerstands gab die deutsche Regierung am 27. September dem hiesigen französischen und dem belgischen Vertreter die Erklä­rung ab, daß Deutschland bereit sei, über die Frage der Wieder­aufnahme des Warenverkehrs und des Wirtschaftslebens im Ruhrgebiet in Beratungen mit den Besatzungsmächten einzu­treten. Da die deutsche Regierung eine offizielle Nachricht über die Stellung der Besatzungsmächte nicht erhielt, wies sie die deutschen Vertreter in Paris und Brüssel an, die Frage erneut dem französischen Premierminister und dem belgischen Außen­minister vorzulegen. Der deutsche Geschäftsträger in Brüssel wurde von dem belgischen Außenminister am 8. Oktober empfan­gen. Jaspar nahm eine endgültige Stellung nicht ein, sondern wünschte Aufklärung über verschiedene Fragen, insbesondere über die tatsächliche Aufgabe des passiven Widerstands, sowie die Stellung der deutschen Regierung zu der Bezahlung der Re­parationskohlenlieferungen. Uebrigens setzte sich der belgische Außenminister mit der französischen Regierung in Verbindung. Der französische Ministerpräsident empfing unseren Geschäfts­träger, Botschaftsrat v. Hösch, am 10. Oktober und teilte ihm aut