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Nummer 30Ü
Fernruf 17S
Freitag, den 23. Dezember 1927
Fernruf 17S
62. Jahrgang
polnische Wochenschau
l
Am 18. Januar 1926 hielt der amerikanische Abgeordnete Victor Berger (Wisconsin) zur Begründung seines Antrags aus Aenderung des Versailler Vertrags eine Rede im amerikanischen Kongreß. Da sagte er u. a.: „Der Dawesplan setzt die Gesamtsumme, die Deutschland bezahlen soll, nicht fest. Er entscheidet nur über die Summe, die Deutschland jährlich für die nächsten fünf Jahre bezahlen muß. Die Daweskommission sagt nicht, ob Deutschland diesen Tribut 190 Jahre oder 1900 Jahre bezahlen muß... Wie lange werden die Deutschen willens sein, wie die Sklaven in Aegypten oder die Sklaven im alten Rom für ihre fremden Herren zu arbeiten?"
Jetzt lesen wir im Bericht des Generalagenten Parker Gilbert über das dritte Dawesjahr, daß dies geschehen muß. Es liege im Interesse der Gläubiger wie des Schuldners, daß die Endsumme der deutschen Entschädigung festgelegt werde. Der Dawesplan sei überhaupt nur ein Versuch gewesen. Die Deutschen hätten ihre Probe- und Schonzeit gut bestanden. Es wäre nun Zeit, ihnen klipp und Aar den Gesamtbetrag ihrer Verpflichtungen zu nennen und es ihnen auf eigene Verantwortung, ohne Kontrolle und Bevormundung, zu überlassen, wie sie sich mit den Abzahlungen zurechtfinden.
Das klingt wie eine Art von letztwilliger Verfügung eines Menschen, der bei einer Sache nicht mehr mittun will. Jedenfalls ist in dem 132 Seiten langen Bericht, der — nebenbei bemerkt — milder und anerkennender als die bekannte Denkschrift Gilberts an Dr. Köhler lautet, von den mancherlei Anregungen die obige Forderung der springende Punkt. Und es ist begreiflich, daß die Presse der ganzen Welt sich mit ihr auseinandersetzt. Amerika (Schatzsekretär Mellon) und England in zustimmendem, Frankreich natürlich in ablehnendem Sinn. Die „Times" meinen: Wer den Bericht des Generalagenten lese, werde sehen, daß von Jahr zu Jabr eine endgültige Regelung „wünschenswerter" werde. Der Senator Verenger in Paris aber wundert sich, daß „ein kluger Sachverständiger wie Parker Gilbert" sich auf einen derartigen Standpunkt stellen könne. Die endgültige Summe sei von der Entschädigungskommission, die einzig hiefür zuständig sei, auf 132 Milliarden Gold mark festgelegt. Von dieser Summe erhalte Frankreich 52 v. H. gleich 68 Milliarden Goldmark. Das könne niemals verändert werden.
Also Frankreich kennt keine Gnade oder nur auch Rücksicht für Deutschland. Daß der Deutschenhaß dort noch in voller Bl'Ue steht, ersieht man auch aus dem vorige Woche von Parteigängern des nationalistischen „Echo de Paris" über ganz Frankreich verbreiteten Wahlplakats, das eine große Verunglimpfung der Person des Reichspräsidenten v. Hindenburg darstellt. Natürlich wurde von amtlicher deutscher Seite gegen den Unfug Einspruch erhoben. Es sollen auch die Plakate stillschweigend von der Polizei entfernt worden sein, jedoch nur mit dem Erfolg, daß sie erneut angeschlagen wurden.
Alles das hängt mit den Vorbereitungen auf die April- Wahl in Frankreich zusammen. Jede Partei will die andere in der Hintertreibung der deutsch-französischen Annäherung überbieten. Lieber will man Italien die Schwesterhand reichen. Sa wird denn wieder einmal viel von einer italienisch-französischen Verständigung und von einer Zusammenkunft zwischen Briand und Mussolini gesprochen und geschwärmt. Andererseits darf nicht die große Schwierigkeit übersehen werden, die ein für allemal in der Adriafrage liegt. Sie ist, wie das Blatt „Gior- nale d'Jtalia" sich ausdrückt, für Italien eine Lebensfrage. Frankreich habe diese Politik nicht nur zu achten, sondern auch zu unterstützen. Damit aber ist eine französische Vor- berrschaft auf dem Balkan, über Südslawien oder über die Kleine Entente schlechthin unvereinbar. Für Deutschland aber würde eine Annäherung oder gar ein Militärbündnis zwischen Frankreich und Italien eine neue Einkreisung und dazu noch eine gefährlichster Art bedeuten. „Deutschland muß und wird die Knechtung Europas durch ein riesenhaftes französisches Militärsystem ablehnen und bekämpfen mit seiner ganzen Kraft."
Wie mit Italien, so will Frankreich auch mitAmerika 'inen Antikriegspakt abschließen Nach Berichten aus Washington hat der amerikanische Staatssekretär Kellogg dem französischen Botschafter Claudel den Entwurf eines amerikanisch-französischen Vertrags überreicht, in dem als achter Punkt der Krieg zwischen den beiden Ländern aus ewige Zeiten „außerhalb des Gesetzes" gestellt werdendst. Wenn man nun bedenkt, daß Amerika und Enalanomnter sich ebenfalls derartiges vereinbart haben sollen, so versteht man den Zweck des großen amerikanischen Flottenbau- programms wirklich nicht. Wozu die 25 neuen Kreuzer mit einem Kostenaufwand von etwa 790 Millionen Dollar? Und da soll man noch an die Abrüstungsfreundlichkeit und Friedensliebe eines Staates glauben?
Wie schwer wird das auch im Hinblick auf andere Staaten! Man denke an Rußland, besser Vertreter Litwinow in Friedensversicherungen in Genf förmlich schwelgte, wäh- xend zu gleicher Zeit zy Haufe in Moskau man Lichts als
ragesspiegel
Eine Korrespondenz meldet. Nuntius Pacelli in Berlin werde zum kardinal in pectore ernannt werden, d. h. der Name dieses Kardinals soll erst später bekannt werden, .wenn das Konkordat mit der Reichsregierung abgeschlossen ist.
Auf Grund der Entscheidung des Skaaksgerichkshofs, die die Beschränkung der Splitterparteien für verfassungswidrig erklärt hakte, ist die neugewählte Hamburger Bürgerschaft (Abgeordnetenhaus) wieder aufgelöst worden.
Der griechische Minister des Auswärtigen ist in Rom eingelrosfen und hakte eine Unterredung mit Mussolini.
Krieg und Kriegsgeschrei hörte, uevrigens yr in Mosrau großes Reinemachen. Der dort tagende Kongreß der Kommunistischen Partei beschloß den Ausschluß von 98 Führern der Opposition. Trotzki u. Sinowjew waren schon vorher ausgeschlossen. Wer hätte das je geahnt, daß ein Trotzki, der angebliche Schöpfer des „Roten Heeres", aus der Kommunistischen Partei je einmal ausgeschlossen werden könnte! Kein Kommunist sein heißt aber in Sowjetrußland politisch mundtot sein! Man sieht, Stalin weiß sich Macht und Recht zu verschaffen.
In England ist etwas für uns Festländer Merkwürdiges passiert. Das Unterhaus hat das abgeänderte G e- betbuch (Book of Common Prayer) abgelehnt. Es bleibt also bei der Gottesdienstordnung von 1662. So war das Unterhaus anscheinend konservativer als das Oberbaus und die Kirchensynoden. Wo in aller Welt hat das politische Parlament über Liturgien zu befinden? Die Sache hat aller- dings insofern auch einen religiös-politischen Hintergrund, als das Unterhaus in der neuen vorgeschlagenen Liturgie eine Anlehnung an die römisch-katholische Kirche erblickte. Das wurde im Unterhaus ausgesprochen. Eine eigentliche parteipolitische Frage war die Angelegenheit nicht; innerhalb jeder Partei konnte jeder Abgeordnete frei abstimmen,, in jeder Partei, ja sogar innerhalb des Kabinetts selbst wa. ren die Stimmen für und wider geteilt.
Unser Reichstag ging am 19. Dezember in die Weihnachtsferien. Damit pausiert die innere Politik. Freilich Friedeist deshalb noch nicht eingezogen. In dem Streit in der Eisenindustrie sind die Schiedssprüche für verbindlich erklärt worden, was Streik und Aussperrung unzulässig macht. Hoffentlich kann die Industrie auch von der angekündigten Stillegung absehen und sich, so große Opfer es auch kosten mag, auf die durch die bekannten Verordnungen geschaffenen neuen Berhältnisse einstellen. Auch der Arbeitsfrieden ist ein Stück von jenem „Frieden und Wohlgefallen" der Weihnachsbotschaft.
, XV. bl.
Das Geheimnis von Neumünster
Nicht nur die Engländer hatten ihr geheimes „Zimmer Nr. 40", in dem, wie wir kürzlich berichteten, die gefunkten deutschen Marinebefehle aufgefangen und von der englischen Admiralität verwertet wurden, sondern eine solche besaß auch die deutsche Marineleitung. Sie wurde, wie ein ehemaliger Dolmetscher der „V. Z." mitkeilt, 1916 in Neumünster in Holstein als Marine-Nachrichtenstelle eingerichtet.
Nicht allein die englischen Funksprüche wurden aufgefangen, sondern auch die russischen und französischen sowie die der neutralen Länder. Naturgemäß wurde den Engländern die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Wir waren über ihre sämtlichen Schiffbewegungen unterrichtet, wodurch unsere Flotte in den Stand gesetzt wurde, Gegenmaßnahmen zu treffen. Die liebung der Dolmetscher war bald so groß, daß es gelang, auch die ständig erneuerten englischen Schlüssel zu finden.
3m Gegensatz zu den Engländern, die ihre Tätigkeit geheimnisvoll hinter der verschlossenen Tür des „Zimmer Nr. 40" verrichteten, geschah dies ziemlich offen in Neumünster. Natürlich durfte kein Fremder das von Stacheldrahk umgebene Gelände der Station betreten. Die E-Hauptstelle Äeumünster" bildete die wichtigste Verbindung mit unseren Feinden. Mährend der Skagerrakschlacht hat ihre Mitarbeit auch einen großen Teil zum Erfolge beigekragen.
Neueste Nachrichten
Vom Reichsrat
Berlin, 22. Dez. Der Reichsrat erklärte sich mit den Beschlüssen des Reichstages betr. Senkung der Lohnsteuer einverstanden, behielt sich aber in einer Entschließung gegenüber diesen Beschlüssen für die künstige Gestaltung der Steuer volle Freiheit vor. Genehmigt wurde die Verordnung, daß ab 1. Feb/uar 1928 die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien überwacht werden soll.
Deutschland übernimmt den Schuh der Sonyekinteressen in Südchina
. Lerlin, 22. Dez. Die Towjetregierupg haf die BeichZ-
regierung um Uebernahme des Schützes ihrer Interessen in Südchina ersucht. Wegen der Ungeklärtheit der Verhältnisse in China hat die Reichsregierung diesem Ersuchen in der Form entsprochen, daß sie ihre Konsuln in Südchina angewiesen hat, im Rahmen ihrer faktischen Befugnisse und der gegebenen Wirkungsmöglichkeiten sich der Sowjetinteressen und der Sowjetbürger anzunehmen.
Dazu wird halbamtlich bemerkt: Die Erfüllung der Bitte Sowjetrußlands sei ein Gebot internationaler Höflichkeit. Es handle sich nur um den tatsächlichen Schutz, nicht um die Uebernahme des formellen diplomatischen Schutzes. Dieser komme nicht in Frage, da Deutschland die chinesische Südregierung nicht anerkannt habe. Die Uebernahme des Schutzes bedeute auch keinerlei Eingriff in die gegenwärtigen politischen Machtkämpfe in China oder die Deckung russisch-kommunistischer Umtriebe in Südchina.
Veränderungen in der Reichswehr Berlin, 21. Dez. General der Infankevie Reinhardt, Oberbefehlshaber der Gruppe 2, scheidet mit dem 31. Dezember d. I. aus dem Heer aus. Mit Wirkung vom 1. Januar 1928 werden ernannt: Die Generalleutnants Freiherr Kreß von Kressen st ein, Kommandeur der 7. Division und Befehlshaber im Wehrkreis VII, zum Oberbefehlshaber der Gruppe 2 unter gleichzeitiger Enthebung von der Stellung des Landeskommandanten in Bayern; . Ritter von Ruith, Infanterieführer VII, züm Kommandeur der 7. Division, Besehlshaber im Wehrkreis VII und zum Landeskommandanten von Bayern; Generalmajor Freiherr Senktet von Lohen, Chef des Stabs des Truppenkommandos I, beauftragt mit Wahrnehmung der Geschäfte des Infanterieführers VII, zum Infankerie- führer VII.
Gegen die Parkeizersplikkerung Berlin, 22. Dez. Eine Korrespondenz weiß zu melden, bei allen (?) Parteien sei Neigung vorhanden, Maßnahmen gegen die Splitterparteien auf gesetzlichem Wege durchzuführen. Eine solche Aenderung der Verfassungsbestimmungen bedürfte allerdings der Zweidrittelmehrheit.
Friede in der Eisenindustrie
Düsseldorf, 22. Dez. Wie verlautet, werden die Arbeitgeber der Nord-West-Gruppe der Eisenindustrie sich der Verbindlichkeikserklärung des Neichsarbeitsministers und den Schiedssprüchen fügen. Die Stillegungsanzeigen bleiben zwar bis zum 31. Januar in Kraft, aber, da Kündigungen nicht vorgenommen wurden, kommt ihnen keine praktische Bedeutung mehr zu.
Daher der Name «Kriegsentschädigung"
Paris, 22. Dez. Der französische Generalgouverneur von Madagaskar, Olivier, erklärte auf einer Wirtschafkstagung, die wirtschaftliche Erschließung der Insel Madagaskar durch Hafenbauten, elektrische Anlagen, Straßen, Bahnen usw. werde kräftig in Angriff genommen werden mit Hilfe der Einkünfte, die Frankreich aus den deutschen Dawesleistun- gen beziehe. Zunächst solle Madagaskar davon ein 5pro- zentiges Darlehen von 9 Millionen Goldmark erhalten. —- Daß die deutschen Kriegsentschädigungszahlungen allenthalben schon lange nicht mehr zum „Wiederaufbau" und zur Ersetzung von Kriegsschäden verwendet werden, weil sie dazu nicht mehr nötig sind, ist bekannt. Deutschland soll aber fort und fort seine Iahresmilliarden weiterzahlen, ohne daß ein Ende bestimmt wird, damit sich doch noch jenes Work der englischen Zeitschrift „Saturday Review" vom Jahr 1910 erfüllt: „Wenn Deutschland vernichtet sein wird, wird es keinen Engländer (oder Franzosen) mehr geben, der nicht um so viel reicher wäre."
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Stuttgart. 22. Dezember.
Todesfall. In Cannstatt ist Baurat Karl Schab, früherer langjähriger Vorstand der Straßenbauinspektion, gestorben.
Die Verwendung der kraftfahrzeugsteuer. Der Anteil Württembergs an der Reichskraftfahrzeugsteuer beträgt nach einer Mitteilung des Ministeriums des Innern 5,3 Millionen Mark. Davon werden 1,3 Millionen zugunsten der Gemeinden und Amtskörperschaften, 4 Millionen zugunsten des Staats verwendet. Im Jahr 1926 konnten für Straßenzwecke den Amtskörperschaften und Gemeinden sogar 1.6,Z Millionen zugewendet werden, während dem Staat 4,315 Millionen zuflossen. Dieser staatliche Anteil deckt aber noch nicht einmal die Hälfte der Mehrausgaben des staatlichen Straßenbaus, die durch den Kraftfahrzeuqverkehr verursacht werden. Mit der Erbreiterung usw. der Staatsstraßen wurde in Württemberg im Jahr 1925 begonnen, bis jetzt sind dafür rund 12 Millionen Mark auf den Hauptstrecken Ulm—Stuttgart—Schwieberdingen—Pforzbeim und anderen Linien aufgewendet worden. Zum gründlichen Ausbau der Hälfte der württembergischen Staatsstraßen mit rund 1500 Kilometer sind weitere 60—70 Millionen Mark erforderlich unter her