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Nummer 174
Fernruf 179
Wildbad, Mittwoch, den 29. Juli 1925
Fernruf 179
60. Jahrgang
Ein kritischer Tag erster Ordnung für England
Wie es in der Natur solche Tage gibt, so erst rech' im politischen und wirtschaftlichen Leben. In England ist's der l. August. Je nachdem die Würfel an diesem Tag fallen, darnach kann es auch England sehr schlecht gehen. Wenn es am 1. August zu der befürchteten Bergarbeiteraussperrung kommt, dann werden auch dis anderen Arbeiter der gewaltigen englischen Industrie streiken und England steht vor einem namenlosen wirtschaftlichen Unglück.
Wie konnte es nun aber so weit kommen? Wieder einmal bestätigte sich das Wort: „Das ist der Fluch der bösen Lat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären." Die böse Tat war der französische Ruhreinbruch. England hatte am 5. Mai 1923 in halbamtlicher Form durch seinen Außenminister im Parlament erklären lassen, das französischbelgische Vorgehen im Ruhrgebiet sei vertragswidrig. Aber es fiel der Regierung nicht ein, die einzig richtige Folgerung daraus zu ziehen: Frankreich auch mit der Tat in den Arm zu fallen. Vielmehr, England ließ Frankreich ruhig gewähren, als ob dieses das größte Recht zu seiner Schandtat hätte. Der Erstminister beglückwünschte sogar Poincar« zu seiner Freveltat.
Warum? Aus Angst vor Frankreichs riesengroßer Luftflotte? Gewiß. Aber auch aus einem anderen sehr materialistischen Grund. Die Stillegung oder wenigstens Einschränkung der Ruhrkohlenerzeugnng war Englands Vorteil. Jetzt blühte dort der Weizen. Die Unternehmen konnten ausgezeichnete Geschäfte machen und dabei die Bergarbeiter besser entlohnen. Diese konnten ihrerseits ihre Lebenshaltung verbessern, und bekanntlich gewöhnt sich der Mensch an nichts schneller an, als an ein gutes Leben, und er trennt sich von nichts schwerer, als von guten Tagen.
Aber die Sache kam anders. Mit der Einstellung des passiven Widerstands und der darauf folgenden Lockerung der französischen Zwangsmaßnahmen steigerte sich naturgemäß die Kohlenförderung im Ruhrgebiet. Die Nachfrage nach englischer Kohle ließ nach. Die dortigen Bergwerksbesitzer konnten ihre Arbeitsvergünstigungen nicht mehr in gleichen: Maß fortführen. Sie mußten an „Abbau" denken.
Dieser liegt nun auch wirklich vor in den neuen Arbeitsbedingungen, die den Gewerkschaften zugestellt wurden mit dem Anfügen, daß bei Nichtannahme am 1. August allgemeine Aussperrung erfolgen soll. Wird sie zur Tatsache, dann wollen die anderen Gewerkschaften mit einem G e n e r a l st r e i k antworten. Und das Unglück ist da.
Damit es gewiß so weit komme, dafür werden nach Kräften die Kommunisten sorgen. Es gibt deren genug in England, und sie sind seit dem neuerlichen Zwist mit Moskau auf das Kabinett Baldwin gar nicht gut zu sprechen. Jetzt haben sie die allerbeste Gelegenheit, Böses mit Bösem zu vergelten.
Nun ist ja anerkanntermaßen die Arbeitslosigkeit Englands größtes Uebel, das allen Regierungen des „Siegerstaats" seit dem unheilvollen Tage von Versailles die allergrößte Sorge gemacht hat. Was helfen England seine ungeheuren kolonialen Erweiterungen in Afrika? Was nutzt ihn die Vernichtung des so sehr gestirckteten deutschen Wettbewerbers auf dem Weltmarkt? Niemals können alle diese sogenannten Errungenschaften das nationale Unglück der Arbeitslosigkeit ausgleichen! Sind es doch mehr als eineinviertel Millionen Arbeitsloser, die seit Jahren herumlungern, junge, kräftige Leute, dis sich die Arbeit, jene heil- samste Selbstzucht, abgewohnt haben. Die Regierung hat diese gefährliche Landplage durch umfangreiche Unterstützungen einigermaßen gebändigt. Wenn aber sie am nächsten Samstag losgelösten werden, — was dann folgt, das kann sich jeder selbst lebhaft vorstellen.
Kein Wunder, daß Baldwin am letzten Samstag seinen Urlaub unterbrach, nach London eilte und dort alsbald die Gewerkschaftsführer empfing. Es wird, wenn dem Unglück rechtzeitig vorgebeugt werden kann und soll, der Regierung nichts weiter übrig bleiben, als einstweilen den Unterschied zwischen den alten und den neuen Löhnen aus der eigenen Tasche vorzustrecken. Denn die Arbeitgeber erklären, es sei ihnen unmöglich, die alten Löhne fortzuzahlen.
Ob es dem Kabinett Baldwin gelingt, diesen bösen Geist zu beschwören? Kaum ist die böse Flottenvorlage, a Art. 8 der Völkerbundssatzung eine „Aufrüstung" statt eine „Abrüstung" bringt, gerade noch glücklich unter -kchch und Fach gebracht worden — sie drohte ja eine «prenguna des Kabinetts selbst — nun diese neue Sorge!
Für uns Deutsche hat der drohende Bergarbeiter- und Generalstreik eine doppelte Seite. Einerseits bildet sie n"^ Genugtuung darüber, daß das zum Himmel schreiende Frankreich uns mit dem Ruhreinbruch unter tatsächlicher Duldung Englands zugefügt hat, nun auf den Spießgesellen des Mssetäters zurückfällt. Denn „mitgegan- §5" sstitgefangen". Andererseits war und ist Englands
cywache stets auch unser Nachteil. Penn ein schwaches
Tagesspiegel
Reichspräsident von hindenburg wird, nach einer T.R.- Meldung, am 11. August sich nach München hegeben, wo am 12. ein öffentlicher Empfang siattsindet.
Der Aelkestenrat des Reichstags setzte fest, daß die Vollsitzungen länger ausgedehnt und die Redezeit abgekürzt wird, damit die Abstimmung über die Zollvorlage im Anschluß an die Sleuergesehe noch vor den Reichskagsferien ermöglicht wird.
Ueber den Beginn der Ferien haben sich die Reichstagsparteien noch nicht einigen können.
Der englische Flottenbanplan sieht bis zum Jahr 1930 Ausgaben von SS Millionen Pfund Sterling vor.
England hat keine Widerstandskraft mehr gegenüber Frankreichs sträflichem Uebermuk Und heute, wo wir in die weltgeschichtlich wichtigen Verhandlungen über die Sicherheitsund Abrüstungsfragen einen starken Bundesgenossen jenseits des Kanals ganz notwendig brauchen würden, müssen wir lebbait wünschen, daß En^ands Hände so frei als nur möglich sind. H.
Neue Nachrichten
Haushaltsplan der Allgemeinen Ainanzvernxcktung für 1928 Berlin. 28. Juli. Der Haushaltsausschuß des Reichstags beriet den Haushaltsplan der Allgemeinen Finanzverwaltung. Der Gesamtüberschuß im Haushalt 1926 beträgt 3513 Millionen RM. gegenüber einem Gelamtüberschuß von 2238 Millionen RM tw Jahr 1624 A« Einnahmen find für die Einkommensteuer 1700 Millionen RM, verzeichnet, für die allgemeine Umsatz- und Luxussteuer 1500 Millionen, für die Vermögenssteuer 500 Millionen, für die Körperschaftssteuer 300 Millionen, für die Beförderungssteuer (Personen- und Güterbeförderung) 282 Millionen. Die Grunderwerbssteuer ergibt im Jahr 1925 nur 15 Millionen gegenüber einem zehnfach höheren Betrag im Jahr 1924. Die Börsensteuer, die 1924 4 Millionen erbrachte, ist mit Ablauf des 31. Dezember 1924 außer Kraft getreten. Der Ertrag der Börsenumsatzsteuer wurde von 150 Millionen 1924 auf 96 Millionen 1925 gesenkt. An Zöllen und Verbrauchssteuern ergibt sich im Jahr 1925 ein Ertrag von insgesamt 1514 Millionen gegenüber 1099 Millionen im Jahr 1924. Aus dem Steueraufkommen müssen den Ländern 2172 Millionen überwiesen werden.
Aenderung von Zollsätzen
Berlin, 28. Juli. Der handelspolitische Ausschuß des Reichstags nahm einen Kompromißantrag an, nach dem für frische Kartoffeln bis zum 14. Februar 1926 ein ermäßigter Zollsatz von 25 Pfg. festgesetzt wird. Der Zollsatz für Keltertrauben und Weinmaische wurde von 45 aus 60, für Bananen von 15 auf 30, für Apfelsinen von 20 auf 20 und für Gurken von 10 aus 30 Mk. erhöht.
Einspruch des Reichsrals gegen das Fürsorgegeseh Berlin, 28. Juli. Der Reichsrat hat gegen die Stimmen der Provinz Sachsen und der Stadt Berlin gegen das vom Reichstag angenommene Abänderungsgesetz betr. die Für- sorgepflicht Einspruch erhoben.
Me Notlage des deutschen Bergbaus Berlin, 28. Juli. Heute vormittag fand im Aeichsarbeits- miniskerinm eine Besprechung mit Vertretern der Bergindustrie, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, über die Notlage des deutschen Bergbaus und die Stillegung verschiedener Zechen statt.
Der deutsche Kohlenmarktt und der englische Streik Berlin, 28. Juli. Der Berliner Berichterstatter der Londoner „Daily Mail" will erfahren haben, daß in einer vertraulichen Besprechung im (preußischen Handelsministerium (?), zu der Vertreter der Grubenbesitzer und der Bergarbeiter zugezogen waren, von seiten des Ministeriums erklärt worden sei, der etwaige Ausbruch eines Streiks in England am 1. August werde die Lage des deutschen Kohlenmarkts stark beeinflussen. Die Begründung sei so überzeugend gewesen, daß auf Vorschlag des Gewerkschaftsvertreters beschlossen worden sei, die Lohnforderungen der deutschen Bergarbeiker zu vertagen. Außerdem sei eine Frachten- Verbilligung der Nordseehäfen bewilligt worden, und es solle eine möglichste Fernhaltung der englischen Kohle von Deutschland angestrebt werden. Endlich sei eine Herabsetzung des Ruhrkohlenpreises um 30 v. H. vereinbart worden, in der Erwartung, daß die Kohle über Triest nach den Mittelmeerhafen abgesetzt werden könne. — Die Meldung sieht ganz so aus, als sollke sie die englischen Bergarbeiter vom Streik abschrecken.
Zum polnischen Skreit
Berlin, 28. Juli. Gegenüber den polnischen Versuchen, einen Gegensatz zwischen der Reichs- und der preußischen Regierung in dem Streik mit Polen festzustellen, wird amtlich erklärst daß zwischen beiden Regierungen über die Sache volle Uebereinstimmung bestehe.
Zur Weltkonferenz der christlichen Kirchen
Berlin. 28. Juli. Die Weltkonferenz der christlichen Kirchen, die vom 19. August bis 30. August in Stockholm tagen wird, hat dem Evangelischen Presseverband für Deutschland e. V. und dem Deutschen evangelischen Kirchenausschuß Anlaß gegeben, führende Vertreter der Berliner Presse zu einer Zusammenkunft mit den Führern der deutschen Delegation einzuladen. ^Hierbei wurde festgestellt, daß die Weltkonferenz eine Sache der organisierten Kirchen und damit eine Art Kirchänkonzil ist, an dem alle christlichen Kirchen der^ ganzen Welt, auch die griechisch-orthodoxe und die Freikirchen, teilnehmen werden, außer der römisch-katholischen Kirche, die aus prinzipiellen Gründen die Beteiligung abgelehnt hat. Das Konzil wird sich aber nicht mit Glaubens- und Bekennt- nissragen beschäftigen, sondern ausschließlich mit praktischer Arbeit und moralischen und sozialen Fragen, mit dem Verhältnis der Kirche zu Industrie und Eigentum, mit Schule und Erziehung und anderen. Die Gesamtzahl der Vertreter wird 6—700 betragen, darunter bekanntlich 78 Deutsche.
Der Einigungsversuch im sächsischen Baugewerbe gescheitert
Dresden, 28. Juli. Der durch Vermittlung des sächsischen Arbeitsministeriums eingeleitete Einigungsversuch im Baugewerbe ist ergebnislos verlaufen.
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Saargrubenarbeiker bei dem franz. Verkehrsminifier
Paris. 28. Juli. Verkehrsminister Laval empfing gestern eine Abordnung der Bergarbeiter des Saargebiets, die ihm die Beschwerden der Bergleute vortrug und deren bedrängte Lage schilderte. Die Besprechung wurde heute fortgesetzt. — Der saarländische Landesrat hat den Arbeitsminister telegraphisch ersuchst die berechtigten Forderungen der Bergleute anzunehmen.
Warenlieferung oder Barzahlung?
Paris, 28. Juli. Ueber die derzeit in London geführten Verhandlungen über die Tilgung der französischen Schulden bei England erfährt das „Petit Journal", die Engländer fetzen Zweifel in die Leistungsfähigkeit Frankreichs. Die französische Abordnung sei davon unangenehm berührst und die habe die Vertreter des englischen Schatzamts daran erinnert, daß beim Londoner Abkommen über den Dawes- plan auf die Zahlungsfähigkeit Deutschlands Rücksicht genommen worden sei. Mindestens dieselben Bedingungen müsse England auch Frankreich zugestehen. Auf keinen Fall könne Frankreich eine fremde Ueberwachung seiner Finanzen zugeben. Die Engländer wiesen dagegen auf die große Arbeitslosigkeit in England hin, die es unmöglich mache, daß Frankreich seine Schuld in Waren bezahle. Barzahlungen hinwiederum erklärten die Franzosen für unmöglich, weil die französische Währung dadurch noch mehr leiden würde.
Finanzminister Caillaux will Ende dieser oder Anfang nächster Woche nach London reisen, vorausgesetzt, daß die Vorbesprechungen ein solches Ergebnis haben, daß er mit Churchill die politische Seite der Frage behandeln kann.
England verzichtet auf die Konferenz. — Englisch-französischer Sicherheiksvorschlag
Paris, 28. Juli. Ueber die gestrige Besprechung des englischen Botschaftersekretärs mit dem Direktor im Auswärtigen Amt, Berthelot, berichtet das „Journal", England verzichte „für den Augenblick" auf die Konferenz über die Sicherheitssrage, die bisher von Chamberlain lebhaft gewünscht, von Briand aber abgelehnt wurde. Ueber die „Sanktionen" sei schon auf der letzten Londoner Konferenz der Beschluß gefaßt worden, daß ln jedem Fall ein Schiedsspruch erfolgen müsse. England verlange ferner, daß bei einem deutsch-polnischen Streit der Völkerbund festzustellen habe, ob ein deutscher „Angriff" vorliege, ehe französische Truppen durch das „neutrale Rheingebiet" einmarschieren. , Frankreich will die Entscheidung sich selbst Vorbehalten. Das „Petit Journal" will wissen, in London sei bereits der Wortlaut des von den Verbündeten vorzulegenden Sicher- heitsverkrags im Einvernehmen mit Frankreich fast fertiggestellt. Es werde schwierig sein, die Zustimmung Deutschlands zu diesen Vertragsforderungen zu erlangen.
Eines der klügsten politischen Dokumente
London, 28. Juli. Zur deutschen Antwortnote schreibt der bekannte Politiker Garvin in der Wochenschrift „Obser- oer", die Note sei eines der klügsten politischen Schriftstücke, die man seit Jahren gesehen habe. Der einzige Zweifel sei, ob sie nicht für ihren Zweck zu klug sei- Je länger man sich in Baris mit der Note und Len Erklärungen der deutschen