Nummer 303
ader Tagmatl
(Enztalbote)
Amtsblatt für W^düad. Chronik und Anzeigenblatt
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Fernruf 17»
Wildbad, Samstag de« 29 Dezember 1923
Fernruf 179
58. Zahrgam?
Politische Wochenschau
Die Weihnachtsglocken klangen in diesem Jahr wie sonst seit Mrnschengedenken tief und voll von den Türmen, und wie sonst mischte sich mit dem Herzschlag aller lebenden Wesen m ihren Ton die Hoffnung der Menschen. Ist doch das Weihnachtsfest dasjenige Fest, das bei Jung und All von allen Feiertagen des Jahrs am meisten zum Gemüt spricht. Das alte Jahr mit seinen Leiden und Enttäuschung gen geht zu Ende, zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Wo wäre das Herz, das nicht sehnsuchtsvoll und hoffend schlüge, wenn der Fuß ein neues Gestade betritt? All das, was das alte Jahr nicht gehalten hat, erhoffen wir vom neuen. Und das alte Jahr ist uns so viel, beinahe alles schuldig geblieben.
Der Ueberzeugung hat sich niemand mehr verschließen können, selbst ein Poincare nicht, daß der Vertrag von Versailles eine Unmöglichkeit geworden und von An- fang an gewesen ist. Die Türken zerrissen mit dem Schwert den Friedensvertrag von Sevres. Der Vertrag von Neuilly, der das kleine Oesterreich erdrückte, wurde freiwillig von den »Siegern" ermäßigt. Dieser Tage ist auch der Vertrag von Trianon, der aus dem tausendjährigen ungarischen Reich ein bpottgebild machte, zugunsten der Ungarn, wenn auch nicht hinsichtlich des Eebietsraubs, so doch in seinen wirtschaftlichen Bestimmungen gründlich gemildert worden. Der Vertrag, der einzig und allein noch in seiner ganzen Unsinnigkeit und barbarischen Härte besteht, das ist der Vertrag von Versailles, den in der unseligsten Stunde der deutschen Geschichte Reichs« Legierung und Reichstag sich aufzwingen ließen. Diese Schuld pflanzt sich fort bis zum heutigen Tag, und wie lange noch? War es Verwegenheit, wenn das deutsche Volk in dieses Jahr 1923 mit der Hoffnung eintrat, auch der mit Deutschland geschlossene Vertrag müsse an sich selbst in die Brüche gehen? Statt dessen kam aus den nichtigsten Gründen die schnödeste Verletzung und Ueberschreitung des Vertrags durch das Frankreich Poincares und seines gefüg- samsn Trabanten, Belgiens. Am 11. Januar dieses Jahrs marschierten die Heere dieser beiden Verbandsmächte über den Rhein in das Ruhrgebiet ein. Und sie stießen auf ein ach so schwaches Geschlecht. Wohl wurde der passive Widerstand ins Werk gesetzt, der den Feinden so sehr zu schaffen machte, daß wenigstens die Belgier nahe daran waren, sich wieder zurückzuziehen und den Franzosen allein das Wagnis zu überlassen. Und die deutsche Bevölkerung des betroffenen Gebiets hat Wunder des Heldenmuts vollbracht. Aber dem passiven Widerstand fehlte beinahe nur die Hauptsache: die feste, rücksichtslose Entschlossenheit den frechen Ueberfall bis in die letzten Folgerungen hilwin ^ bekämpfen. Es ist der Fehler der Regierung des damaligen Reichs-, kanzlers Dr. Cuno gewesen, die immer davor zurückschreckte, die letzten Mittel anzuwenden, die doch notwendig waren, wenn man den feindlichen Rechts- und Vertragsbruch überhaupt bekämpfen wollte. Das Stirnrunzeln der Parteien, K« Drohungen von Reichstagsfraktionen schienen ihm zu gefährlich. Cuno hat es nicht verstanden und er war wohl auch nicht die richtige Natur dazu, die Helle Empörung des deutschen Volks über den brutalen Einfall auszumünzen. .Cuno hat es versäumt, sich die nötigen Vollmachten geben s zu kaffen; er hätte sie erhalten so gut wie Strefemann und dann Marx sie erhalten hat, und nötigenfalls hätte er, wo das Reich m Gefahr war, sogar eine Diktatur erreichen können. Hat man doch auch gegen Sachsen und Thüringen, im ganzen Reich jetzt noch den militärischen Ausnahmezustand. An der Halbheit der Gegenwehr ist der passive Widerstand gescheitert, wie der Krieg durch die llntentschlos- senheit eines Bethmann Hollweg verloren worden ist. Diejenigen. die an der Ruhr für die deutsche Sache ihr Leben in die Schanze schlugen, sind kläglich im Stich gelassen worden. Dazu kam der Erbfehler seit 1918, alles mit der Noten- presse machen zu wollen. Wir waren einfach fertig, als Dr. Strefemann am 12. August d. I. Cuno im Reichskanzleramt ablöste; der Kampf an der Ruhr war verloren, verloren durch die halben oder verkehrten Maßregeln der Reichsregierung, verloren aber auch durch die Schuld der Parteien, die sich von ihren Sonderintereffen wieder nicht so weit und so lange frei machen konnten, um die Regierung in der gefährlichsten Luge des Reichs rückhaltlas zu unterstützen und ihr womöglich noch dem äußeren Feind gegenüber das Rückgrat zu stärken.
Es wäre darum aber doch noch nicht notig gewesen, den Kampf durch bedingungslose Kapitulation aufzugeben, wie Reichskanzler Strefemann glaubte tun zu Essen. Hatte sich die Reichsmark bis dahin immer noch auf dem erträglichen Stand von 40 000 gegen einen Dollar gehalten, so sprang sie nunmehr um das Zehn- und Hundertfache absatzweise in den Abgrund hinunter. Das Ausland hatte das Vertrauen zu Deutschland verloren. 4,2 Billionen votiert die Berliner Börse heute. Deutschland ist ein wirtschaftliches Trümmerfeld mit 5 Millionen Arbeitslosen, ein gefährlicher Nährboden für die Unzufriedenen- Und wenig - Wie gefehlt, daß Mitteldeutschland den Aufftand von 1320
Tagesspieqel
Der neueste Bericht des deutschen Geschäfksträgeers t« Paris, von Hösch, bestätigt, daß auch die zweite llnte>» redung mit Poincare kein anderes Ergebnis gehabt habe, als baß dieser sich bereit erklärt habe, weitere Vorschläge der Reichsregierung anzuhören.
Der Pariser Garankieausschuß, ein Unterausschuß der EnffchädigunZskommission, hak von der Reichsreaierung Auskünste über den Ernährungsskand in Deutschland eiu- gefordert.
Die französische Kammer hat eine Vorlage angenommen, wodurch die Zahl der Abgeordneten von 626 auf 577 vermindert wird.
Die Moskauer Sowjekregierung sott beschlossen haben, ihren Handelsvertreter in Paris zurückzurufen. In Paris will man die Abberufung auf englische Umtriebe zurückführen.
Auf den japanischen Prinzregenten Hiro Hiko gab ein j.uger Mann einige Schüsse ab. Die Fensterscheiben des ttzraftwagerts, in dem der Prinz fuhr, wurden zertrümmert, ex selbst blieb unverletzt. — Das japanische Ministerium ist zi /ückgekreten.
hätte wieder ausflmnmen sehen, nur wahrscheinlich in weit ausgedehnterem Maßstab und größerer Verbreitung, stand doch hinter den Plänen die sächsische Regierung eines Zeig- ner, Liebmann und Böttcher. Dem raschen Eingreifen der Reichsregierung ist es zu danken, daß Deutschland vor einem gräßlichen Brudermorden von unabsehbaren Folgen bewahrt geblieben ist, — ein Beweis wiederum, wie durch entschlossenes Handeln in gefährlichen Lagen Gutes geschaffen und Uebles verhütet werden kann.
Daß die nationale Unzufriedenhe't auch auf der Gegenseite zu Explosionen führten konnte, lag nahe Der Münchner Putsch vom S. November ist als eine solche Explosion anzusehen. In seinen tiefsten Ursachen ist dieser merkwürdige Vorgang bis heute noch nicht ganz geklärt. Nach Behauptungen. die man heute in München vielfach hört, soll der Putsch hervorgelockt worden sein, um die nationalistische Bewegung, die man an die Namen Hitler und Ludendorff zu knüpfen pflegt, durch ihr vorzeitiges Losschlagen zu Fall zu bringen. Durch die bevorstehende Verhandlung gegen die Haupkbeteiligten vor dem Münchner Volksgericht — die bayerische Regierung hat die Verweisung des Falls vor den außerordentlichen Staatsgerichtshof in Leipzig als einen Eingriff in die bayerische Grrichtshoheit abgelehnt, und die Reichsregierung scheint um des lieben Friedens willen stillschweigend zugestimmt zu haben — wird hoffentlich die volle Wahrheit zutage gefördert und das Rätsel erschlaffen werden, wie der bedeutendste Feldherr des Weltkriegs in eine Sache hineinverslochten werden konnte, die man fast komisch nennen möchte, wenn sie nicht durch die ebenfalls noch nicht aufgeklärte Maschinengewehrsalve der Augsburger Schutzpolizei einen so blusigen Ausgang genommen hätte.
In letzter Stunde hat sodann die Regierung, nachdem wertvolle Wochen und Monate durch den Hader der Parteien des Reichstags vergeudet worden waren, in dem Kabinett Marx wieder einen Halt bekommen und es konnten die wichtigen und schweren Aufgaben in Angriff genommen werden, von denen die wirtschaftliche und schließlich die nationale Lebensmöglichkeit des deutschen Volks abhängt. Vor allem ist dies die Durchführung der Währungsreform und die Rückkehr zu einem wertbeständigen Geld, wie man sagt. Es hat lange gebraucht, bis man eingesehen hat, daß die hunderterlei wirtschaftlichen Zwangsgesetze und Verordnungen, Steuern und Steuerchen die kranke Wirtschaft nicht heilen, sondern in Grund und Boden hinein verpfuschen, und ^daß man jetzt fördern muß, was man vor wenigen Monaten noch mit schweren Strafen belegte. Diese Zeit der wirtschaftlichen Verirrungen ist hoffentlich vorbei für immer. Man hat sich wieder auf die alte Wahrheit besonnen, daß das wahre Geld und das wahre Gold allein aus der Arbeit kommt und daß daher dis Arbeit, die Erzeugung auf jede Weise gefördert werden muß, statt daß man sie, wie bisher, durch Verordnungen und eine verkehrte Steuerpolitik geradezu erdros- elte. Die Reichsregierung scheint jetzt den richtigen Weg be- chritten zu hab»n. Er wird für das deutsche Volk dornenvoll ein und schwere Opfer werden gebracht werden müssen, von allen ohne Ausnahme, aber es bleibt kein anderer Weg übrig, nachdem man das Uebel der »Inflation" hat so weit sich in die deutsche Wirtschaft hat einfressen lassen, daß heute weit über 400 Trillionen Papiermark herumschwimmen. Möge sich die Regierung nicht in Einzelheiten im Richtigen versehen, dann wird ihr das Volk trotz allem Schweren willig folgen, und in diesem Sinn Glück auf! fürs neue Jahr.
Noch lastet freilich auf dem deutschen Nacken der Fuß des übermütigen Siegers, noch find wir nicht H"-" im eigenen
Haus und sind gefesselt durch jenen Vertrag von Dersaikler. Noch steht es im Belieben Poincares, uns „Abkommen" und Verträge als Diktate aufzuzwingen und „Sanktionen" anzuwenden. Aber das kann nicht länger so fortgehen, tiefer als jetzt kann Deutschland nicht mehr hinabgedrückt werden. Es wird und muß etwas geschehen, das der grausamen Peinigung ein Ende macht. Was den Türken, Oesterreichern und Ungarn gelang, sollte das den Deutschen, die an Volkszahl dreimal s« stark sind wie diese drei Völker zusammengenommen, nicht gelingen? Der Vertrag vvn Versailles darf so, wie er ist. nicht bestehen bleiben, sonst geht Deutschland zugrunde, und da werden die 60 Millionen Deutsche doch noch zuvor ein Wörtchen mitzureden haben. Die ersts Aufgabe der Negierung in der Außenpolitik ist und bleibt die Aufhebung desFriedensvertrags, und das wird um so eher gelingen, je erfolgreicher ihre Arbeit ist, das Reich im Innern zu festigen und im Reichshaushalt wieder Ordnung zu schaffen. Es muß geschehen, was möglich ist; aber möglich i K, was nötig ist. Keine wertlosen papierenen „Proteste" mehr, dafür unbeugsame Entschlossenheit! Mag sich Poincarö auf der Höhe seiner Macht wähnen, — allem Anschein nach hat er sie bereits überschritten! In den letzten beiden Der- irauensabstimmungen in der französischen Kammer war die dagegen stimmende Minderheit bereits so stark wie nie seit 1920. In England wird Poincare nie wieder eine Regierung, finden, mag am 15. Januar eine Regierung der Arbeiterpartei oder einer Koalition gebildet werden, die ihm so willenlos folgte wie die Bonar Laws oder Valdwins. Im it«» lienischen Senat hat Mussolini der Ruhrpolttik Poincares eine offene Absage gegeben. Und die Stimme der italienischen Regierung hat durch das gegen Frankreich ge- richtete spanisch-italienische Bündnis — das war doch das tatsächliche Ergebnis des Besuchs des Königs Alfonfo in Rom — eine andere Gewichtigkeit als bisher. In den Vereinigten Staaten aber ist man darüber hinaus, das „arme zerstörte Frankreich" zu bemitleiden und zu begönnern. Die Wanderreden Lloyd Georges haben in Amerika aufklärsnd gewirkt, noch mehr vielleicht die scharfen Angriffe, die das frühere amerikanische Mitglied der Entschädigungskommission, Herr Boyd e n, nicht nur gegen die Ruhrbesetzung, sondern aegen Poincares Cnsichädigungspolitik überhaupt richtete. Wenn daher am 15. und 21. Januar die Sachverständigenausschüsse Amerikas, Englands. Frankreichs, Italiens und Belgiens zusammentreten, so wird man sich erinnern müssen, daß damit ein Vorschlag des amerikanischen Staatssekretärs Hughes verwirklicht wird, gegen den sich Poincare erst mit Händen und Füßen sträubte und den er mit allen Ränken zu Hintertreiben suchte. Gewiß werden wir nicht allzuviel vvn den Ausschüssen erwarten dürfen, aber es ist doch festzustellen, daß in der Tatsache der Ausschußberatung schon eine Ablehnung der seitherigen französischen Politik durch die übrigen Verbandsmächte liegt. Entweder müßten die Ausschüsse einig sein, also die französischen Forderungen an Deutschland billigen, dann wären sie nicht nötig gewesen, oder aber sie sind nicht einig, dann steht Poincare vor der Wahl, sich löblich zu unterwerfen oder mit seinen Belgiern Polen, Tschechen und Serben von den übrigen Verbündeten sich endgültig zu tren- nen. Es könnte scheinen, als ob Poincare sich auf die letztere Möglichkeit einzurichten beginne Anders ist ja dieSchwe n- kung seiner Politik kaum zu erklären, die plötzlich mit dem seither scharf bekämpften bolschewistischen Rußland die Fühlung auszunehmen sucht, um es mit Afghanistan gegen England in Asien auszuspielen, wie er seinerzeit di, Türken gegen England und Griechenland ausgespielt hat, dasselbe Griechenland, das er jetzt für den „Kleinen Verband" und als Gegengewicht gegen die verstärkte Geltung Italiens im Mittelmeer zu gewinnen trachtet. Ob Frankreich damit einen vollen Ersatz gewinnt in einer Zeit, wo der franzö fisch e F r a n k e n so sehr sinkt, daß man es für nötig befun- den hat, einen Teuerungsdiktator einzusetzen, mag dahingestellt bleiben; bis jetzt haben die Vorpostenstaaten Frankreich nur viel Geld gekostet, — man denke nur an di« loiüngst ihnen bewilligte Kriegsrüstungsanleihe von 800 Millionen Franken und anderes.
Man hat das Gefühl, daß etwas Neues sich Bah« brechen will und kommen muß, und damit eröffnet sich für Deutschland in seiner tiefsten Not an der Schwelle zum neuen Jahr wenigstens eine Hoffnung. Daß sie nicht wieder zu Enttäuschungen führe, wird nicht zum wenigsten von Deutschland selbst abhängen- Darum wünscht das deutsche Volk seiner Regierung vor allem Festigkeit, die die erste Probe zu bestehen hat gegenüber dem unerhörten Urteil, das von dem französischen Kriegsgericht in Düsseldorf am 27. Dezember über deutsche Verwaltungs- und Polizei« ieamte gesprochen wurde. 30 Jahre Zuchthaus, 38 Jahre Ge» ängnis neben verschiedenen schweren Geldstrafen für die selbstverständliche Pflichterfüllung bei dem Versuch einer bezahlten Rotte von Sonderbündlern, Landesverrat und Gewalttaten zu begehen. Das ist der schimpflichste Peitschen- schlag ins Gesicht der deutschen Nation, — das Weihnachts- aekckenk Poincares an die Deutschen. Das Matz ist übervoll.