(Enztalbote)
Amtsblatt für M'dbad. Chronik und Anzeigenblatt
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Druck der Buchdruckerei Wilddader Tagblatt; Verlag und Schriftleitung Th. Gack in Wildbad.
Kummer 228 Fernrnf 17S Wildbad, Montag, den 1. Oktober 1923 _ Fern ruf 178
58. Jahrgang
Zwei Ausnahmezustände
Berlin und München
Ein in Berlin lebender bayerischer Jurist schreibt uns: Deutschland steht wieder einmal unter Velagerungsrecht. Darunter leidet auch die Presse und jeder, der mit ihr zu tun hat. Man darf nicht alles sagen, was man meint, nicht einmal alles, was man weiß.- Gleichwohl ist eine sachliche Betrachtung erlaubt, die feststellt, was bis jetzt geschehen ist und was Sie nächste Sekunde dieser schweren Zeit bringen wird.
Ueber Nacht (im buchstäblichen S-iunj sind zwei Ausnahmezustände geschaffen worden, ein bayerischer und einer des Reichs. Wie greifen die beiden Notverordnungen ineinander? Vergleicht man denWortlaut, fo könnte man auf denGe- danken kommen, daß die Münchner Erklärung das Aus- führungsgefetz der Berliner Maßnahmen darstelle, nur eben in bayerischer Lesart. Aber dies ist nicht der Fall. Vielmehr ist die Reichsregierung von der Ernennung des Herrn v. Kahr zum bayerischen Generalstaatskommissar und von d^m Erlaß der bayerischen Notverordnung überrascht worden. Das Kabinett Stresemann muhte, um Mitternacht zu einer Sitzung zvsammentrekm und eine Verordnung aosarbeiten, die zwar m ihren Grundgedanken bereitsgeplant war, nun aber plötzlich dem bayerischen Vorgehen anzugleichen war. Das ist jedoch nicht ganz geglückt. Ja, boshafte Kritiker, die es auch in dieser trostlosen innerpolitifchen Lage noch gibt, behaupten, die Reichsregierung habe mst ihrem Erlaß einen Leg en stoß gegen Bayern geführt. Das ist wiederum nicht der Fall. Trotzdem geht die Gleichung Berlin-München nicht ganz! auf. Es sind schwer lösbare Unterschiede vorhanden. Worin liegen sie?
Der bayerische Generalstaatskommissar ist unumschränkter Z i v i l d i k t a t o r. Er ist befugt, nach Paragraph 17 des Wehrgesetzes die Hilfe der Wehrmacht anzurufen. Die Anordnungen und Verfügungen des Geller rlstaatskommissars, so heißt es weiter in dem Erlaß des bayerischen Staatsmini- s.sriums, gehen denen aller anderen Behörden „mit Ausnahme der obengenanten" vor. Die „obengenannten" Behörden sind: Gerichte, Verwaltungsgerichte und Militärbehörden. Das sieht nun so aus, als unterständen die Militärbehörden, also die bayerische Reichswehr, dem Genernlstaats» b.-minsisar n i ch t. Da dieser aber unumtchränkter Diktator ist und die Hilfe der Wehrmacht anfordern kann, verfügt er tatsächlich auch über die Reichswehr. Wie ist aber das Verhältnis »wischen Zivil- und Militärbehörden nach der Berliner Verordnung gestaltet? Paragraph 2 d-eser Verordnung bestimmt, daß die vollziehende Gewalt auf den Reichswehr- minister übergeht, der sie auf M'litärbefehlshaver übertragen kann. Also Reichswehrminister Dr. Geßler kann die "allziehende Gewalt auf den Münchner Milltärbefehlshaber General von Lossow übertragen. Er kann es! Aber der bayerische Protest würde nicht ausbleiben. Der Reichsmehrminister kann aber noch mehr, nämlich im Einvernehmen mit -ein Reichsminister des Innern Zrvilregierungskommissare ernennen.
Man stelle sich vor, welcher Zusammenstoß entstehen konnte, wen» es dem Demokraten Geßler einfiele, im Einver- mhmen mit dem sozialdmokratischen Reichsinnenminister Sollmann in Bayern Unterdiktatoren zu ernennen. Aber es fällt ihm natürlich nicht ein, und so bedenklich auch die organischen Unterschiede zwischen dem Berliner und Münchener Ausnahmegesetz erscheinen, es gibt eine vernünftige und ausgleichende Lösung, nämlich wenn der bayerische Diktator von Kahr dem Militärbefehlshaber von Lossow in München als Zivilkommissar zur Seite tritt. Dann ist er Regierungskommissar nach Reichsrecht und Staatskommissar nach bayerischem Willen. Der Reichstag, dem die Berliner Ausnahmeverordnung zur Annahme unterbreitet worden soll und in dem doch die baye:sichen AdaeordneDur ihren Einfluß geltend machen werden, kann diese goldene Brücke bauen und so die Lücke füllen, tue zwischen den norddeutschen und den bayerischen Diktdturparagraphen klafft.
Die Währungsbank
Das Neichskabinett hat den ersten, verfehlten Entwurf der Währungsbank einer gründlichen Umänderung unterzogen, d:e besonders darauf abzielt, die Einwirkung der Wirtschaft auf die neue Notenbank zu beschränke. Während nach dem ersten Entwurf die Regierung nur das Recht hatte, einen vorläufigen Präsidenten zu ernennen, soll sie nach dem neuen Plan zur Besetzung aller maßgebenden Stellen berechtigt werden. Es soll ein Verwaltungsrat eingesetzt werden, in dem nicht nur die Wirtschastsgruppen, sondern nun auch die Gewerkschaften vertreten.sind, obgleich diese von den Zwangsabgaben für die Bank n:cht betroffen werden. Dieser Verwaltungsrat schlägt den Präsidenten vor, die Regierung kann den Vorschlag annehmen oder bestätigen. Die Aufnahme der Gelverkschastsvertreter in den Auf
sichtsrat gibt der Bankoerwaltung einen vorwiegend panischen Charakter.
Um eine größere Sicherheit der neuen Noten zu erzielen, :st die Höhe der Notenausgabe von 2.3 auf 1,2 herabgesetzt und die hypothekarische Belastung von 3 auf 4 Prozent erhöht worden. Die Beteiligung soll nicht mehr rach dem Wehrbeitrag, der die Neureichen nicht ersoffen kann, sondern nach der Zwangsanleihe vorgenommen werden. Die Verzinsung wird von auf 6 Prozent reduziert. Dagegen wird die Zuständigkeit der Währungsbank bedeutend erweitert. Der alte Entwurf sah nur bankmäßige Geschäfte mit dem Reich vor. Der jetzige Entwurf gestattet aber auch Geschäfte mit der Reichsbank in der Form, daß die Währungsbank Eoldwechsel diskontieren darf. Die eigentliche Kreditgewährung blieb noch der alten Vorlage ausschließlich der Neichsbank überlassen, die sie nur gegen kurzfristige Warenwechsel vornehmen durste. Der Geschäftsbereich der Währungsbank ist in dem abgeänderten Entwurf genau umschrieben. Der wirtschastspolitischs Einfluß der Reichsbank, die im Gegensatz zur Währungsbank vom Reiche beaufsichtigt wird, bleibt jedoch u. a. bestehen.
Deutscher Reichstag
Me Anträge belr. Aufhebung des Ausnahmezustands ^
Berlin, 29. Sept.
In der gestrigen Sitzung beantragte Abg. Neuhaus- Düsseldorf, die politische Aussprache, die erst am Dienstag erfolgen soll, sofort zu eröffnen. Die unerhörte Behauptung des Zentrumssührers Marx, daß die Rheinlands von Preußen immer schlecht behandelt worden seien und daß sie nun ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen wollen, dürfe nicht länger unwidersprochen bleiben, da sie im Rheinland größte Verwirrung Hervorrufen. Abg. v. Guerard (Ztr.) erklärt, die Worte seines Parteifreunds Marx seien mißverstanden oder entstellt worden. Er (Guerard) lege sin Treu- bekentnis zum Reich und zu Preußen namens der rheinischen Vertreter ab. Der Antrag Neuhaus wird abgelehnt.
Cs folgt die Aussprache über die Anträge der Kom- mMisten und der Deutschnationalen Volkspartei je auf Aufhebung der neuesten Ausnahmeverordnung des Reichspräsidenten vom 26. September. Die Anträge werden einerseits von Abg. Könen (Komm-), anderseits von Abg. G r ä s-Thüringen begründet. Letzterer führt aus, die Arbeit des gegenwärtigen Kabinetts sei nach außen die völlige Kapitulation, nach innen der Belagerungszustand für das ganze Reich. Zu einer solchen Regierung könne man kein Vertrauen haben. Die Veranlagung des Deutschen schreie jetzt geradezu nach einem Diktator. Auf Bayern blicken die Deutschen mit sehnsüchtigem Hoffen; Herr v. Kahr an der Spitze des bayerischen. Ausnahmezustands bedeute ein völkisches Programm. Anders liege es mit der Ausnahmeverordnung Eberts im Reich, die willkürlich ohne Reichstag erlassen worden sei. Die Rechte werde nicht ruhen, bis auch im Reich ohne Sozialdemokratie regiert werde wie in Bayern. Das deutsche Volk müsse seine Freiheit bis zum letzten Blutstropfen verteidigen, deshalb müsse man eine andere Regierung haben. Minister Sollmann erklärt, daß die Regierung zu den beiden Anträgen sich äußern werbe. Darauf wird die Aussprache auf Dienstag verschoben. In dieser Sitzung wird der Reichstag die Erklärung der Reichsregierung über -die Einstellung des passiven Widerstands entgegennehmen.
Neue Nachrichten
Sozialisierungsvorfchläge der Gewerkschaften Berlin, 30. Sept. Von gewerkschaftlicher Seite sind dem Reichsfinanzminsiter Hilferding folgende Vorschläge vorgelegt worden: Das Reich soll an den Erträgnissen der Privatwirtschaft beteiligt werden und zwar in der Weise, daß z. B. A k- tiengesellschaften usw. ihre Geschäftsanteilscheine um ein Drittel erhöhen, das an das Reich abzutreten sei. Alle Privatunternehmun-gen in Handel Verkehr und Gewerbe mit über 100 Arbeitern oder einem Anlagekapital von mehr als einer Million Goldmark soll durch Reichsgesetz in Gesellschaftsform gebracht und gleichfalls mit der Drittelabgabe belastet werden. Die übrigen kleineren Betriebe solle eine Reichsgewerbesteuer von einem Viertel ihres Reinertrags treffen. Auf inländischen Grundbesitz soll eine erststellige Grundschuld von einem Viertel des vom abgabepflichtigen Eigentümer angegebenen Werts zugunsten des Reichs eingetragen werden. Weiterhin soll das Erbrecht dahin abgeändert werden, daß Verwandte des dritten und weiteren Grads überhaupt nicht mehr erbberechtigt sein sollen, für diejenigen ersten und zweiten Grads soll die Erbschaftsberechtigung auf einen Betrag von 100 000 Goldmark
vejchrankk werden; was darüber an Erbmasse vorhanden fft. soll dem Reich verfallen. Die Landwirtschaft soll wesentlich höher besteuert und der Steuereinzug gründlicher vorgenommen werden. Weiter wünschten die Gewerkschaften/ daß die Betriebsräte zur Ueberwachung der Steuererhebung herangezogen werden. — Da Reichsfinanzminister Hilferding selbst der Sozialdemokratie angehört, wird man in den Vorschlägen sein eigenes Programm zu erblicken haben.
Die Löhne der Bergarbeiter
Berlin, 30. Sept. Für die Lohnwoche vom 24. Sept. bis 1. Okt. wurden im Rsichsarbeitsministerium vom Schlichtungsausschuß die Vergarbeiterlöhne (ohne die Freikohlen usw.) auf den Arbeitstag festgesetzt im Ruhrgebiet auf 280. Sachsen 168, Oberschlesien 180, Mitteldeutschland 1S7.5 Mil, lionen Mark.
Nach Cayenne verschleppt
Elberfeld. 30. Sept. Nach bei der „Bergisch-Märkische« Zeitung" eingeangenen Nachrichtn sind die im Schlageter- prozeß zu langjährigen Freiheitsstrafen „verurteilten" An, gehörigen der Organisation „Heinz" «adowski, Zimmermann, Becker, Pnllmann, Bisping und Werner in Cayenne einge, troffen. '
Generalstreik im Ruhrgeblel
Gelsenkirchen, 30. Sept. Die Kommunisten haben vis Antwort auf die Einstellung des passiven Widerstandes zu einem 24stündigen Proteststreik gegen die Regierung Strese- mann-Hilferding und die Arbeiter- und Vaucrnregierunq oufgerufen. Im Gelsenkirchener Bezirk schloß sich etwa ein Drittel an, die Arbeitswilligen wurden mit Gewalt aus den Gruben herausgeholt. Die Franzosen waren in Alarmbereitschaft, brauchten aber nicht einzugreifen
In Bochum wurde beim Generalstreik eine Versammlung unter freiem Himmel, bei der aufreizende Reden gehalten wurden, von der Polizei auseinandergeirieben.
Ruhe ln Bayern
München, 30. Sept. In Bayern ist bisher die Ruhe von, keiner Seite gestört worden. Der Generalstaatskommissar oonKahrhat eine beträchtliche Sammlung erreicht. Hinter , ihm stehen geschlossen die bayerische Reichswehr, die Landespolizei, die Vereinigten vaterländischen Verbände (frühere Einwohnerwehr, „Bayern und Reichs und die Beamtenschaft von Verkehr und Verwaltung). In Opposition stehen außer )en Linksparteien die Nationalsozialisten und der Kampfbund (die den Nationalsozialisten jetzt angesthlos- senen Verbände „Oberland" und „Reichsflaggs"), die darüber erregt sind, daß Kahr die am letzten Mittwoch geplanten 14 Massenversammlungen der Nationalsozialisten verboten hat. Vor dem „Völkischen Beobachter" kam es zu einer Kundgebung für Hitler, der vom Ferrster aus eine beruhigende Ansprache hielt. Die Menge ging dann ruhig auseinander. Man glaubt, daß zwischen v. Kahr und Hitler eine Verständigung zu erzielen ist.
Die „Bayerische Staatszeitung" erklärt, es sei unrichtig, von einer Diktatur in Bayern zu sprechen. Von einen: Gegensatz zwischen Bayerischer Negierung und Reichsregierung könne keine Rede sein. Die bayerische Regierung habe von ihrem Entschluß Berlin sofort Kenntnis gegeben. Die Vollmacht sei Herrn von Kahr übertragen worden, weil man von seinem Einfluß auf die rechtsstehenden Kreise in Bayern dos Beste für die Erhaltung der Ruhe erwartete. Darin habe man sich nicht getäuscht. In Berlin werde man hoffentlich einsehen, wie unrecht man bisher Kahr getan habe, daß man ihn auch nur des Gedankens für fähig hielt, Bayern vom Reich loszutrennen.
Daffenfun-e
Del einer Durchsuchung des Hauses der sozialdemokratischen „Münchener Post" wurden Maschinengewehre, Munition und Handgranaten gesunden und beschlagnahmt.
Der Reichswehr-minister hat nach der Soz.dem. Korresp das nationalsozalistische Hauntblatt „Völkischer Beobachter" im ganzen Reich außerhalb Bayerirs verboten.
Der Ausnahmezustand im besetzten Gebiet verboten
Düsseldorf, 30. Sept. General Degoutte hat den deutschen Behörden die Ausführung der Ausnahmeoerordnuug des Reichspräsidenten ohne besondere Erlaubnis in jedem Fall verboten.
Aufhebung von Sperrmatznahmen
Berlin, 30. Sept. Nachdem die Reichsregierung den Abwehrkampf an Rhein und Ruhr abgebrochen hat, haben der Reichspost- und der Reichsverkehrsminister die von ihnen ergangenen Anordnungen, soweit sie den ALwehrkampf betrafen, aufgehoben.