Nr. 87
Amts- und Anzeigeblatt für den OberamtsbezirL Calw
98. Jahrgang.
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Montag, den 18. April 1923.
Bezugspreis: Zn der Stadt mit TrSgerlohn S0V0 Mk. monatlich. PostbezugspreiS S400 Mk. ohne Bestellgeld. Einzelnummer 120 M. Schluß der Anzeigenannahme 8 Uhr vormittag-.
Neueste Nachrichten.
-iach Berliner Meldungen wird heute der deutsche Anßenmi- uistcr eine programmatische Rede über die außenpolitische Lage, also über die Reparationssrage, halten.
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Zwecks Klarstellung der Situation ward«« jetzt von amtlicher deutscher Seite zur Vorgeschichte des Ruhreinbruchs die offiziellen Schritte der deutsche« Regierung mitgeteilt, die unternommen wurden, um neue deutjche Vorschläge auf der Pariser Konferenz vorzubrmgeu. Die Vorschläge waren nicht angenommen worden, sodatz also die Verantwortung für das französische Vorgehen vollständig aus die französisch« Regierung und wahrscheinlich auch die Alliierten in der Gesamtheit fällt.
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Nach der Rede Poincare's in Dünkirchen ist mit einem Abwei- chen Frankreichs von seinem Gewaltstandpunkt nicht zu rechnen. Auch die Ausführungen des ehemaligen französischen Fi- nanzministrrs Marsal lassen den Weg erkennen, den Frankreich gehen will: Militärische und politische Beherrschung des gesamte» Rheingebiets — wirtschaftliche Beherrschung des Rheinlands, Ruhr- und SaargebietsI Zntressant ist aus der Dünkirchener Red«, daß Poincare sich gezwungen sieht, die, jenigen Volksgenossen zu beschwichtigen, die die Ruhraktton nicht gutgeheitzen haben» und das bisherige Ergebnis als Fiasko bezeichnen.
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Bon englischer Seite wir- aber treu der bisherige« Tradition die A lfsassung vertrete«, als ob die deutschen und französischen Erklärungen die Möglichkeit der Gewinnung einer Verhandlung« grundlage in sich tragen.
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Die französischen Forderungen.
Eine neue Heuchel- und Lügenrede Poincarö's.
Paris, 15. April Anläßlich der Enthüllung eines Kriegerdenkmals in Dünkirchen hielt PoincarL eine Rede, in der er auf die Ereignisse des Krieges, soweit sie zu Dünkirchen in Beziehung stehen, einging, um sich alsdann über das Repara- ttonsproblem zu verbreiten. PoincarS führte aus: Frankreich hat den Sieg teuer bezahlt. Wir haben unseren Toten geschworen, ihn uns nicht entreißen zu lassen. Vor dem Denkmal erneuern wir diesen Schwur. Weil Deutschland seine Verpflichtungen nicht erfüllt und weil wir selbst annähernd 1VV Milliarden für seine Rechnung haben bezahlen müssen, sin- wir zur Psandnahme geschritten und haben Sanktionen zur Anwendung gebracht. Seit 3 Jahren haben wir Geduld gehabt. Das hat uns jedoch nur Enttäuschungen eingetragen. Noch weiter neue Verfehlungen zu erdulden und Deutschland ohne Bürgschaften Aufschubfristen zu gewähren, die es forderte, das hätte uns dem vollkommenen Ruin ausgeliefert. Wir sind ins Ruhrgebiet eingedrungen. Die Besetzung dieses reichen Bergwerks- und Industriegebiets hat uns gestattet, erbauliche Feststellungen zu machen. Wir haben uns davon überzeugt, Laß uns Deutschland die Kohlen hätte liefern können, die es uns verweigerte, denn es hat sich so eingerichtet, daß es die Ruhrkohlen entbehren kann. Wir haben den Beweis erlangt, daß Deutschland in der Lage gewesen wäre, mit ausländischen Devisen zu bezahlen, verwendet es doch heute einen Teil davon, um Käufe im Ausland durchzuführen. Endlich haben wir an Ort und Stelle jene militärischen Organisationen auflösen und entlarven können, die Deutschland schon in Oberschlesien unter dem harmlosen Titel „Schutzpolizei" verbarg. Wir haben auch die Gewißheit gewonnen, daß, wenn man Deutschland ein zweijähriges Moratorium ohne Bürgschaften gewährt hätte, es nach Ablauf dieser Frist auf unser Zahlungsverlangen mit einer Weigerung und Herausforderungen geantwortet hätte. In diese Sackgasse hätte uns in fataler Weise die Politik der Mäßigkeit und Schwäche geführt. Die Pfänder, die Deutschland nicht geben wollte, und di« gewisse Alliierte im besten Glauben für unnötig hielte«, halten wir für unerläßlich. Was wir im Ruhrgebiet gesehen haben, hat uns gezeigt, daß wir uns nicht getäuscht haben. — Poincare erklärte darauf, daß Frankreich das Pfand nicht gegen einfach« Versprechungen herausgrbcn werde und daß es nur nach Maßgabe der geleisteten Zahlungen sich aus dem Ruhrgebiet zurückziehen werde. Sodann fuhr er fort: Frankreich hat durch sein Vorgehen keine Verkleinerung erfahren, im Gegenteil, es ist in den Augen aller derer gewachsen, die die Geradheit und Entschlußfähigkeit «chten. Selbst England «nd Amerika» die über die Opportunität
der Aktion anderer Ansicht gewesen find, haben sich nicht enthalten können, wenigstens die Beweggründe zu billigen und die Berechtigung der französischen Forderungen anzuerkennen. Der Meinungsumschwung, der sich zugunsten Frankreichs in de« Vereinigten Staaten «nd im britischen Reich vollzogen und von dem der Abgeordnete Loucheur noch in den letzten Tagen Beweise erhalten hat, ist sicher zum großen Teil darauf zurückzuführen, daß Frankreich es verstanden hat, seinen Willen durchzusetzen und daß es mit seinen Freunden in der Hand hält, was Donar Law mit Recht die „Schlagader Deutschlands" genannt hat. Wir gedenken jedoch niemand zu erdrosseln, fuhr Poincare fort. Wir haben nur den einen Wunsch, uns bezahlt zu machen und uns vor dem finanziellen Zusammenbruch zu bewahren. Die Anschuldigungen imperialistischer Bestrebungen, die die deutsche Propaganda fl) gegen Frankreich erhebt, sind nichts als Dummheiten und Kindereien. Sein verständiger Mensch kann ernstlich glauben, daß Frankreich, das die Menschenrechte proklamiert (!) und das der Volkssouveränität den vollkommensten Ausdruck gegeben hat, den tollen Gedanken hegt, fremde Völker unter sein Joch zu bringen und sich Gebiete gegen den Willen der Bewohner anzueignen. Auch die Borwürfe einer Hand voll Franzosen können Frankreich nicht von dem Ziel abbriugen, das es sich gesetzt hat. Uns genügt es, die Unterstützung des Landes und die Billigung des Parlamentes zu haben. Es ist bekannt, gewisse Leute, di« uns nicht ermutigt haben, in das Rnhrgebiet einznziehen, möchten heute unser Unternehmen übertreibe« und sagen unserer Operation Schwäche nach Sie werden uns nicht verhindern, ohne llebertreibung das Unternehmen progressiv zu entwickeln. Wir werden das Programm beharrlich durchführen, das die belgische und die französische Regierung in gemeinsamer llebereinkunst aufgestellt haben. Sie werden auch das lange vorgesehene Werek nicht stören, ebensowenig unsere Kaltblütigkeit und unser Vertrauen. Andere Gegner behaupten mit etwas plumpem Sophismus, die Ruhrbesetzung Habs die Preise in die Höhe getrieben. Als ob die Teuerung des Lebensunterhalts nicht von unserer Wittschafts- und Finanzlage abhängig wäre und als ob diese nicht von den ungeheuren Schulden käme, die wir aufnehmen mußten, um die deutschen Zahlungen zu ersetzen. Gewisse Gelegenheitspessimisten übertreiben die unglücklichen Zwischenfälle und gehen sogar soweit, durch unvorsichtige Bemerkungen den Widerstand des Deutschen Reiches zu ermutigen. Wenn man diese Kritiken anhört, dann wird man an die Rede von Demostenes erinnert, der jene schlechten Athener anklagte, die bei jedem Erfolg zitterten und seufzten und die Augen niederschlugen und die in dom Augenblick, in dem das Glück dem Auslaiche zu lächeln schien, auf Agora mit triumphierendem Lächeln spazieren gingen. Wäre es möglich, daß es auch in Frankreich derartig verblendete Bürger gibt? Wenn sich einige finden sollten, so stellen sie eine geringe Minderheit dar, denn die Gesamtheit des Landes ist entschlossen, das zu Ende zu führen, was begonnen wurde. Die Aktion wird mit dem vollkommenen Wiederaufbau unserer verwüsteten Departements und der Wiedererhebung Frankreichs enden. Vergeblich wird Deutschland von uns auch nur eine einzige Minute des Schwankens erwarten in dem Unternehmen des Durchhaltens, wie wir es ohne Gewalt (I) und ohne Provozierung (I) bisher durchge- führt haben. Es wird bis zum Ziel voranschreiten und dann durch einen dauerhaften Frieden und durch eine Wiederherstellung das Werk unserer Toten vollenden. Damit werden wir ihnen die beste Huldigung Vorbringen, die sie von den Ueberlebenden erwarten könen.
PoinearL vergleicht die französische Vorsicht mit der englischen.
Paris, 15. April. Aus der Rede Poincares in Dünkirchen ist noch folgende Stelle anzuführen: Im 18. Jahrhundert waren unsere Nachbarn jenseits des Kanals — zu Recht oder zu Unrecht — davon überzeugt, daß Dünkirchen und Calais ein Revolver sei, ans das Herz von England gerichtet. Sie entschlossen sich, niemals zu gestatten, daß diese französische Waffe wieder aufgerichtet würde. Sie fürchteten sich also und vielleicht fürchteten sie sich vor der wirtschaftlichen Konkurrenz dieser Häfen. Was haben sie getan, um diese vermeintliche oder wirkliche Gefahr abzuwehren? Vom Vertrag von Utrecht bis zum Vertrag von Amiens, von Paris zum Vertrag von Versailles hatten sie in Dünkirchen Kommissare und den Hafen beaufsichtigt. Dadurch haben sie bis zum Jahr« 1783 alle Wiedererhebungsver- silche erstickt. Also, wenn England glaubte, daß in der Nähe seiner Grenze eine militärische oder maritime Gefahr bestehe, zögerte es nicht, in voller Freiheit Maßnahmen zu ergreifen, die es auf lange Zeit hinau zur Wahrung seiner Sicherheit für notwendig erachtet hat. Nach
einem Krieg, den wir Seite an Seite für die Verteidigung unserer objektiven (!) Rechte durchgeführt haben und der uns eine unlösbare Interessengemeinschaft geschaffen hat, kann sich da England wundern, daß wir unsererseits unsere Grenzen gegen neue Einfälle sichern und eine Nation, deren Optimismus unheilvoll scheint, verhindern wollen, heuchlerisch ihre geheimen Vorbereitungen zu treffen. Der Friede« hat uns in dieser Richtung nur unvollkommen« «nd provisorische Garantien gegeben. Man hatte uns bessere versprochen, die uns aber alsdann verweigert wurden. Wer kann also annehmen, daß wir nicht das Recht hätten, uns im Einvernehmen mit unseren Alliierten ^egcn eine Gefahr zu sichern, so wie England sich gegen unsere vermeintliche Bedrohung geschützt hat. Wenn wir eine Lelticn des Durchhaltens und der Beharrlichkeit notwendig hätten, wir könnten sie von unseren Freunden selbst empfangen.
Immer neue Ungeheuerliche
Bedingungen Frankreichs.
Paris, 16. April. Der dem Elysee nahestehende ehemalige Finanzminister Marsal hat gestern in Lyon ans dem Kongreß der Republikanischen Vereinigung eine Red« gehalten, in der er sich mit dem Reparationsproblem beschäftigte und u. a. sagte, territoriale, wirtschaftlich« und finanzielle Garantien müßte» bis zur vollkommenen Erfüllung der Reparationsverpflichtungen als Pfand in der Hand Frankreichs bleiben. Eine internationale Kontrolle über die Gebiete der Rheinebene müsse ihm gestatten, jtt>e« deutsche« Einfall zu verhindern, solange Preußen über dieses Gebiet politisch herrsche. Auch die preußischen Ambitionen auf das Saargebiet «Ltzten endgültig beseitigt werden. Wirtschaftliche Abkommen müßte« für die Zukunft das industrielle Gleichgewicht in diesen Gegenden st «her stellen. Der für die Fabriken in Lothringen, Belgien, Luxemburg und der Saargegend notwendige Kokd müsse diese« Gebieten gesichert werden. Dafür müsse das lothringische Eisenerz von den Fabriken Westfalens ausgenommen werden, die übrigens auch für ihre Konstruktionsarbeiten halbfertige Lothringer Produkte erhalten könnt«». Weitere Abkommen, hauptsächlich betreffend Düngemittel, Farben und Textilien, müßten «ruf einer politischen Basis ein wirtschaftliches Gleichgewicht herbeiführen, das endlich zu wahrem Frieden führe. So werde die Besetzung des Ruhrgebiets noch mehr in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, als in militärischer, wenn sie mit Macht und Beharrlichkeit nach einem praktischen und klar aufgestellten Programm durchgeführt werde, Belgien und Frankreich endlich den Frieden, die Wiederherstellung und das Elück bringen, das sie erstrebten.
Das Ergebnis der Pariser Konferenz.
Paris, 14. April. In der belgischen Botschaft hat heute mittag ein Frühstück stattgefunden, an dem außer den belgischen Ministern Theunis und Jaspar die franz. Minister Poincare, de Lasteyrie, Maginot, Reibel und Le Trocquer, sowie der Abg. Loucheur, der Senator Lubersac und die belgischen Vertreter in der Reparationskommisfion, Delacroix und Bemelmann teilnahmen. Heute nachmittag wurden Theunis und Jaspar vom Präsidenten der Republik empfangen. Um 6 Uhr abends reisten sie nach Brüssel zurück. — Wie Havas mitteilt, hat der belgische Ministerpräsident Theunis nach Schluß der heute vormittag stattgehabten Beratung zu den Journalisten gesagt: „Wir haben eine Sitzung des Auffichtsrats des Ruhrgebiets abgehalten. (Mit solchem Zynismus sprechen Räuber und Wegelagerer, aber keine Staatsmänner.) — Nach der gleichen Quelle haben die Ministerpräsidenten der beiden Länder beschlossen, demnächst aufs neue in Brüssel miteinander zu konferieren.
Paris, 14. April. (Wolfs.) Die belgisch-franz. Konferenz ist um 11 Uhr 45 zu Ende gegangen. Heute nachmittag findet keine Sitzung mehr statt. Nach der Sitzung der Konferenz wurde heute mittag folgende amtliche Mitteilung ausgegeben: Die französischen und belgischen Minister sind heute vormittag aufs neue zusammengetreten. Sie haben die gemeinsamen Weisungen vorbereitet, die an ihre Oberkommissare in den Rheinlanden und an General De- goutte ergehen sollen und die die in den neubesetzten Gebieten eingeführte Zentralverrechnung und deren Kontrolle, die Verwendung des Ertrags der Beschlagnahmungen usw. betreffen. Es wurde beschlossen, daß die verschiedene« Waren und die Produtte, die iu den besetzten Gebieten beschlagnahmt wnrden, um die von beiden Regierungen oder ihren Staatsangehörigen gemachten Bestellungen von Sachlieferungen zu decken, diesen direkt zur Verfügung