Die Gewaltherrschaft im Ruhrgebiet.
Frankreich sperrt die Kohlensendungen nach Deutschland.
> Ein« französische Rote.
Pari», i. Febr. Die sranz. Regierung hat gestern am späten Nachmittag dem deutschen Geschäftsträger eine Verbalnote überreicht, in der auf die angeblichen Verfehlungen Deutschlands gegenüber Frankreich und Belgien, die die Reparationskommisston am 18. und 26. Jan. 1923 festgestellt haben will, hingewiesen, und im Anschluß daran mitgeteilt wird, daß vom 1. Febr. ab keine Kohlen- und Koksfendungen aus der besetzten Zone in das übrig« Deutschland ausgeführt werden könnten. — Wie die „Agence Havas" meldet, trat die Einstellung der Kohlen- und Kokslieferungen aus dem Ruhrgebiet nach dem übrigen Deutschland heute um Mitternacht in Kraft. Von 12 Uhr ab sollen nur noch die Brennstoffe nach Italien weiter durch das unbesetzte Deutschland gehen. Bei Abgang und Ankunft werde eine Kontrolle ausgeiibt werden, um Unregelmäßigkeiten, die Vorkommen könnten, festzustellen.
Beginn der Kontrolle der Kohlentransporte.
Berlin, 31. Jan. Bis heute vormittag sind keine Mitteilungen über die Durchführung der Zollgrenze im Ruhr- gebiet eingetroffen. Eine Reihe von Militärkontrollstationen ist wieder eingerichtet worden, so in Ratingen-Ost. Kupferdreh, Hattingen, Rangierbahnhos Vorhalle. Länen- Süd, Recklinghausen-Hauptbahnhof und Friedrichsfeld bet Wesel. Die Militärkontrollstationen beschränken sich zunächst auf die Feststellung der nach dem unbesetzten Gebiet durchgehenden Kohlenzüge.
Eine neue Entscheidung der Reparation«- Kommission Uber die deutschen Kohlenlieferungen.
Paris, 31. Jan. Die Reparationskommission beschloß gestern mit drei Stimmen bei Stimmenthaltung des britischen Vertreters, daß Deutschland nach denselben Grundsätzen, wie sie das Programm der vorhergehenden Monate vorsah. im Februar zu liefern habe: 11L Millionen Tonnen Kohlen plus 20 Prozent von dem 8 300 000 Tonnen übersteigenden Mehr des Novemberertrags von Deutsch-Oberschlesien, also zusammen 11876 000 Tonnen. Außerdem ist die Ergänzungslieferung von 125 000 Tonnen gemäß den Deutschland durch die aus Polnisch-Ober- schlesien stammenden Kohlen zur Verfügung gestellten Mengen in dem Programm enthalten, vorbehaltlich der endgültig späteren Entscheidung der Reparationskomission auf die von Deutschland hiergegen erhobenen Einwände.
Fortführung der Militarisierung der Eisenbahnen.
Berlin, 31. Jan. Wie die Blätter melden, führen die französischen und belgischen Besatzungsbehörden sowohl im Ruhrgebiet als auch im altbesetzten Gebiet systematisch die Militarisierung der Eisenhabnen durch. Die Hauptzufahrtsstraße nach Hamburg ist durch das Eingreifen der franz. und beligschen Eisenbahner für deutsche Transporte gesperrt. Ferner müssen die Lebensmitteltransporte aus Holland umgeleitet werden, um in das Industriegebiet zu gelangen.
Der Widerstand gegen die Willkürherrfcha't.
Ludwigshafe», 31. Jan. Sämtlich« Beamte der Eisenbahndirektion wurden im Prästdialgebäude festgesetzt. Infolgedessen traten alle Eisenbahner vom obersten bis zum untersten Beamten in den Ausstand.
Koblenz, 31. Jan. Als gestern die Franzosen den Bahnhof Ehrenbreitstein besetzten, legten di« Eisenbahner die Arbeit sofort nieder. Das Rheintal ist von Koblenz ab von jedem Zugverkehr abgeschnttten.
Esse», 31. Jan. Nach der „Deutschen Bergwerkszeitung" hat Hugo Stinnes die Sachlieferungen aus dem bekannten Abkommen mit dem französischen Senator Lubersac seit dem Einrücken der Besatzungstruppen im Ruhrgebiet einstellen lassen.
Kundgebungen der Bevölkerung gegen die Verhängung des verfchärjten Belagerungszustands
Berlin. 31. Jan. Nach einer Meldung des Berliner Lo- kalanzcigers aus Essen wurde gestern abend die in Kraft
getretene Verordnung 6§er ble^Terhängung des verschärften Belagerungszustands von der Bevölkerung nicht befolgt. Die gesamte Einwohnerschaft war nach 10 Uhr abends noch aus der Straße und strömte zum Bahnhofsplatz. Dort wurden vor den Augen der Franzosen vaterländische Lieder gesungen und in Ansprachen wurde zum weiteren Durchhalten aufgesordert. Die Franzosen wagten es nicht, gegen die Menge vorzugehen. Das Berliner Tageblatt meldet aus Oberhausen, daß dort die Polk- zeibeamten es ablehnten, die ihnen auf Grund des verschärften Belagerungszustands von der Besatzungsbehörde zugedachten Aufgaben zu übernehmen. Sie wollen weder die Namen von Personen feststellen, die sie nachts auf der Straße treffen, noch die von den Deutschen abgegebenen Waffen der Besatzungsbehörde ausliefern, noch ein Verzeichnis der deutschen Polizeibeamten der Besatzungsbehörde übermitteln.
Fortdauer des Streiks tm Reichsbahndirektionsbezirk Mainz.
Mainz, 31. Jan. Der Streik der Eisenbahner im Reichsbahndirektionsbezirk Mainz, soweit er besetzt ist, besteht auch heute noch fort. Verhandlungen über die Beilegung des Streiks haben noch nicht stattgefunden. Die französischen Eisenbahner versuchen, einen notdürftigen Verkehr herzustellen. Ueber den Versuch ist man aber noch nicht hinausgekommen. Dabei sind einige Entgleisungen von Wagen und Lokomotiven an verschiedenen Orten des Bezirks zu verzeichnen.
Auch die Gewerkschaftsführer sotten ausgewresen werden.
Berlin, 1. Febr. Nach einer Meldung des „Vorwärts" will die Besatzungsbehörde, sobald alle führenden Amtspersonen über die Grenze des besetzten Gebiets gebracht worden sind, das gleiche System gegen dis Gewerkschaftler anwenden, wenn die Arbeiterschaft weiter in ihrer passiven Resistenz verharrt.
Eine deutsche Antwort
ouf «ngerecht.ertigte französische Beschwerden.
Berlin, 1. Febr. In fünf Noten hat die französische Regierung der deutschen Regierung Vertragsverletzungen vorgeworfen. Dagegen erhebt diese in einer vom deutschen Geschäftsträger in Paris übergebenen Note Einspruch, da das von der französischen Regierung beanstandete Vorgehen der deutschen Behörden die unvermeidliche Folge des von Frankreich durch die Ruhrbesetzung begangenen Rechtsbruches ist, 1. wenn die deutschen Mitglieder des deutsch-französischen Schiedsgerichts erklären, daß sie angesichts der gegenwärtigen politischen Lage bis auf weiteres an keinen Sitzungen mehr teilnehmen können. Die Reichsregiernng steht auf dem Standpunkt, daß nach dem Einmarsch ins Ruhrgebiet eine dem Sinn und Zweck des Schicds- gerichtsvertrags entsprechende Zusammenarbeit nicht erzielt werden kann. 2. rügen die Franzosen, daß die Hotelbesitzer Berlins Boykottmaßnahmen gegen die französischen Staatsangehörigen trafen, und behaupten, daß die Polizei die Hotelbesitzer zu diesen Maßnahmen verpflichtete. Tatsächlich nehmen viele Gast- Hausbesitzer Berlins französische Gäste vorläufig nicht auf. Aber die Behörden haben das nicht angeregt, sondern vielmehr davon abgeraten. § 277 des Friedensvertrags gewährt den alliierten Angehörigen gesetzlichen und Rechtsschutz. Das Verhalten deutscher Privatpersonen in ihrem Privatverkehr mit Ausländern wird aber durch diese Bestimmungen nicht betroffen. 3. beklagen die Franzosen, daß in Verletzung der. Artikel 278 und 277 des Friedensvertrags der Postdirektor in Essen zwischen dem französischen Kohlenkommissar in Essen und dem in Rotterdam keine telephonische Verbindung Herstellen wollte. Die genannten Kommissare sind nun aber Teile der Organisationen, die zur reibungslosen Belieferung Frankreichs mit Reparationen geschaffen wurden. Durch den Ruhreinmarsch sind die Abmachungen, die zu diesen Organisationen geführt haben, gebrochen worden. 4. wird ohne nähere Begründung Klage geführt darüber, daß in Verletzung des Artikels 225 des Friedensvertrags der französische Ausschuß für Nachforschungen nach Vermißten wegen feindseliger .Haltung der Bevölkerung sein« Arbeiten habe unterbrechen müssen. Tatsächlich beginnt nirgends die Bevölkerung
feindselige Handlungen. Einige Mitglieder des Ausschusses fon- den wohl Schwierigkeiten, in Hotels unterzukommen. Ferner hat die bayrische Regierung angesichts der gegenwärtigen Lage wegen zu befürchtender Zwischenfälle gebeten, die Exhumierung in Bayern vorläufig noch hinauszuschieben. Das sind aber alles keine Verletzungen des Vertrags. 5 wird erklärt, daß die deutsche Regierung den deutschen Gesellschaften verboten habe, französische und belgische Jntressen wahrzunehmen. Tatsache ist. d»ß die deutsch- Regierung den Gesellschaften keine solchen Anweisungen gegeben hat.
Japanische Arbertervertreter gegen die Besetzung
Hamburg, 31. Jan. Skach einem hier eingetroffcnen Kab'et- telegramm aus Tokio versuchten am 27. Januar die Delegationen von über 3» japanischen Gewerkschaften vor der französischen Botschaft ln Tokio gegen die Besetzung des Ruhrgebiets zu demonstrieren. Die Ansammlungen wurden von der Polizei zer- streut.
Wie die Franzosen km neubefetzten Gebiet Hausei-
Berlin, 31. Jan. In Essen waren beim Einmarsch »er Franzosen 18 Schulen mit Militär belegt worden, darunter eine höhere Mädchenschule in Altenessen, die am Ta»s vor dem Einmarsch der Franzosen neu eingeweiht wurde. Nachdem die Truppen in diesen Tagen weitertranspor- tiert worden sind, sind die Schulen, vor allem die höhere Mädchenschule, in trostlosem Zustand zurückgelassen worden. Die ganz neuen Bänke waren zerschlagen und zum Feueranziinden verwendet worden: dir Schulzimmer in höchstem Grade verunreinigt und die Klosetts mit Meist- brot verstopft worden. In der Bevölkerung herrscht hierüber große Erregung.
Zur auswärtigen Lage.
Endgültiger Abschluß
des deutsch-russische» Wirtschaftsabkommens.
Berlin, 81. Jan. Heute hat im Auswärtigen Amt der Austausch der Ratikikationsurkundcn zum Rapallovertrag zwischen dem Reichsminister Dr. v. Roseuberg und dem russischen Botschafter Prestinski stattgefunden. ^
Der DSlkerbnndsschrvsndel.
Paris, 30. Jan. Zu Beginn der ersten Sitzung d-s Völkerbundsrats, die gestern Morgen stattsand, begrüßte der Vorsitzende Viviani den neuen italienischen Vertreter Sa- landra und die Vertreter der neu in den Völkerbundsrat gewühlten Staaten Druguay und Schweden, Balenca und Vranting. Im Anschluß daran wurde über finanzielle Angelegenheiten des Völkerbunds verhandelt. Es ist weiterhin beschlossen worden, die Mitglieder des Völkerbunds zu ersuchen, bis zum 1. Juni 1923 Mitteilung zu machen über ihren Standpunkt hinsichtlich der im September vorigen Jahres durch die kanadische Delegation der Völker» bundsveriammlunq vorgelegten Abänderungsverträge zu Artikel 10 der Völkerbundsakte. Bekanntlich handelt es sich in diesem Artikel um eine gegenseitige Garantie sämtlicher Völkerbundsmitglieder hinsichtlich ihrer territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit. Der Artikel des kanadischen Abänderungsantrags sagt, daß, wenn Artikel 10 in Anspruch aenommen werden soll, der politischen "d -"waraphisch-N Lage der Staaten Rechnung zu tragen ist. Ein zweiter Antrag steht vor, daß kein Mitglied des Völkerbunds verpflichtet sein soll, zu einer Kriegsband, lung zu schreiten, ohne d's Ermächtigung seines Parlaments oder seiner sonstigen legislativen bezw. revräsenta, tiven Körnerschaft zu haben. — Der Antrag, daß sich die Staaten ihr Gebiet garantieren lassen wollen, zeigt, wie die Entente systematisch die neutralen Staaten für die Zwecke der Sickerung ihres Raubs durch den Völkerbund zu gewinnen trachtet.
Die enaiisch-amerikanischeu Auseinandersetzungen über die engftschen Kriegsschulden.
London, 30. Jan. Der politische Berichterstatter des „Daily News" schreibt, das britische Kabinett werde sich, wie man erwarte, in seiner heutigen Sitzung mit dem Bericht des Schatzkanzlers Waldmin über seine Washingtoner
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Der Weihnachtsfrrrrd
Von Hermann Kurz.
Alle wurden gewahr, daß die Augen des Kindes, obgleich sie einen schärferen und beweglicheren Ausdruck hatten, doch eine auffallende Ähnlichkeit mit den Augen seiner Pflegemutter zeigten, so daß dieser gemeinsame geistige Zug, der nur das Werk des innigen Zusammenlebens sein konnte, das Gepräge einer natürlichen Verwandtschaft auszudrücken schien.
„Warum soll ich denn meine« Vater verlassen?" fragte der Knabe.
„Ich bin nicht dein Vater," sagte der Schuster zu ihm. „Wir sind nur deine Pslegeeltern gewesen."
„Willst du denn nicht mehr meine Mutter sein?" rief der Knabe mit Tränen in den Augen, indem er sich von Erhard losriß und zu der Schusterin ging.
„Wir bleiben dir, was wir gewesen sind," antwortete ihm diese tröstend. „Ich hoffe, daß wir uns auch nicht von dir zu trennen brauchen. Gib acht, wenn du deine neue Mutter kennen lernst» wirst du schon zufrieden sein. Errätst du sie denn nicht? Du hast sie ja oft im Spatz deine zweite Mutter geheißen."
,Me Justine!" rief der klein« Erhard freudig und sprang feiner vielgeliebten Freundin zu. die ihn iu ihre Arme schloß und mit Küssen und Tränen bedeckte.
„Willst du jetzt?" fragte Erhard.
.Ja ich will!" antwortet« er mit so mannhafter Ent- bledenbeit in seiner kindliche» Stimme das alle mitte»
in der Rührung laut lachen mußten, was auf ihn selbst sehr ansteckend wirkte.
Nachdem Erhard gleichfalls den kleinen Springinsfeld als Sohn begrüßt hatte, sagte er noch immer lachend zu ihm: „Wir müssen einander jetzt näher kennen lernen. Nun sage mir einmal, was du bist. Dein Pflegevater sagt, du seiest einer von den Allerschlimmsten, deine Pflegemutter aber spricht, du seiest ein gutes Kind. Deine jetzige Mutter hingegen hat dich vorhin einen ungezogenen Buben geheißen. Wer hat denn jetzt recht?"
Der Knabe schwieg eine Weile lächelnd, dann sagte er getrost: „Alle drei."
Die beiden Paare brachen in ein schallendes Gelächter aus.
Als der Knabe sah. daß für ihn so gutes Wetter war, wuchs ihm der Mut, so daß er die Frage mit einer kecken Gegenfrage erwiderte. „Und was bist denn d u?" fragte er.
Erhard runzelte die Stirn ein wenig, denn der Vorwitz gefiel ihm nicht besonders,- da er aber sah, wie der Schuster unmäßig lachte und die Hände vor Vergnügen zusammenschlug, so bedachte er sich einer andern und antwortete dem Kinde ruhig: „Nun, du siehst es ja, ich bin ein Mensch mit fünf Sinnen."
„So!" sagte der Knabe. „Aber ich habe sieben."
Die Lustigkeit der Erwachsenen nahm zu, und auch Erhard konnte das Lachen kaum unterdrücken. „Wie jo denn?" fragte er.
„Mein Vater," antwortete der Knabe» „sagt immer, ich -ab« über meine fünf Sinne noch eine« sechste«^ und der
stecke in meinem Schnabel. Meine Mutter aber spricht, ich habe einen ganz besonderen Sinn für den Mutwillen und da habe ich gedacht, das müsse mein siebenter sein."
Nun mußte auch Erhard laut lachen. Er wechselte einen stummen Buck mit den anderen und sagte dann mit ausgehobenem Finger zu dem Kinde: „Nimm nur diesen siebenten Sinn recht in acht, damit er dir nicht zu einer bösen Nummer wird. Was brauchst du mich denn zu fragen, wer ich sei? Habe ich es dir nicht gesagt?"
Er hielt inne und sah den Knaben fragend an. Die Milde dieses Blickes, in Verbindung mit dem Ernste, der ans seiner Stimm« herausgeklungen hatte, bewirkte, daß der Knabe in dem rechten Tone» gleich weit entfernt von Uebermut und Erniedrigung, zur Antwort gab: „Mein Vater."
„Gib mir die Hand darauf, Erhard, daß du dich bemühen willst, ein guter Sohn zu sein. Ich gelobe dir dagegen, daß du an mir keinen schlechten Vater haben sollst." — Indem er ihm zum Pfände dieses Versprechens die Hand drückte, neigte er sich tiefer gegen ihn herab und setzte lächelnd hinzu: „Daß du mich aber nie als einen bösen Vater wirst kennen lernen, das kann ich dir gerade nicht schwören. Das muß jemand anders verhindern als ich. Weißt du, wer?"
Der Knabe blickte, gleichfalls lächelnd, auf Justine.
„Du bist auf gutem Weg," sagte Erhard, „aber doch nicht ganz aus der rechten Spur. Rate noch einmal: Wer ist es?"
«Ich selberl" sagte der Knabe, gleichsam verwundert