Wetrogene Wetrüger.
Novellctte von M. Heim.
Nachdruck verboten.
1. Fortsetzung.
Zweites Kapitel.
Die Familie des Gutbesitzers Merber war im Wohnzimmer versammelt. Draußen plätscherte der Regen herab und machte, wie schon seit einigen Tagen, die Erntearbeit unmöglich. Herr Merber hatte daher anaefangen, sich in die heutige Zeitung zu vertiefen, durfte sich dieses Genusses jedoch nicht nngesiört erfreuen; denn hinter ihm stand sein elfjähriger Sohn Karl und las ihm über die Schulter, wenn man stoßweises, lautes Aussprüchen jeder einzelnen Silbe lesen nennen kann, vor ihm aber hatte der achtjährige Ernst Posto gefaßt und schlug nach den auf der Rückseite des Blattes abgebildetcn Kühen und springenden Pferden mit der Peitsche.
Schüchterne Versuche Vater Werbers, der Knaben Aufmerksamkeit auf ihre beiden andern Brüder zu lenken, von denen der Eine den Andern auf den Schultern sitzen hatte und galoppirend mit lautem „Hu hu hü!" in der Stube umhertrug, hatten stets ein mißbilligendes Räuspern seiner Gemahlin zur Folge. F-ran Merber, eine behäbige Dame in der Mitte der Vierziger, verfolgte die Belustigungen ihrer Sprößliuge mit mütterlichem Wohlwoll n, bis plötzlich Herr Merber junior dem Sopha der Mama zu nahe kam, über ihre Fußbank stolperte und ihre» Liebling envaö unsanft zu ihren Füßen rollen ließ, worüber sich natürlich ein großes und allgemeines Lamento erhob..
Die Einzige, die nicht einstimmte, war Fräulein Fanny Werber, sie saß etwas abseits an einem mit Schreibmaterialien und Büchern bedeckten Tische, ihr Hündchen neben sich, das die Gewohnheit hatte, die Vorderpfoten auf die Tischplatte zu stützen und den Kopf bescheiden auf eine Seite zu legen, weshalb sie ihm den Namen „Commis" gegeben hatte.
Fanny hatte den Kopf in die Hand gelehnt, daß die Locken sich um ihre weißen Finger ringelte», und die lang bewimperten Augenlider sinnend niedergeschlagen. Um ihre frischroten Lippen spielte ein schalkhaftes Lächeln. Dachte sie daran, wie sie vor wenigen Tagen im festlichen Saal getanzt, wie sic auf bewundernde Augen getroffen, wohin sie geblickt? Dachte das schöne Mädchen an den großen, stattlichen Herrn, dessen Arm sie so fest umschlungen, der in nicht undeutlichen Ausdrücken darauf hiugewiesen, daß es nicht unmöglich sei, Fesseln, die man gezwungen auf sich genommen, wieder abzustreifen? Oder dachte sie an den andern, den kleinen, schmächtigen jungen Mann mit dem feinen Gesicht, dem mädchenhaft sanften Ausdruck, der so feurig davon gesprochen, daß Hindernisse, welche die ganze Welt schrecken könnten, vor der wahren Liebe in Nichts zusammensiuken? O, es war doch ein schöner, schöner Abend gewesen.
„Da siehst Du's nun wieder, Bernhard, was Deine stete Nachlässigkeit gegen die Kinder zur Folge hat!" klagte Frau Merber. „Sie könnten Dir auf den Kopf steigen, Du würdest ihnen kein Wort sagen, und die ganze Last der Erziehung liegt immer auf meinen Schultern. Eugen, mein Kind, hast Du Dir sehr wehe gethan? - Geht mir aus den Augen, ihr großen Taugenichtse, ihr werdet noch einmal euren kleinen Bruder todtschlageu und Eure Mutter ins Grab bringen.
„Wollte Gott, der Hauslehrer wäre erst hier", seufzte Herr Merber, seitwärts nach seiner Gattin schielend, ob sie ihn noch ansehe, oder ob er schon wagen dürfe, sich wieder seiner Lektüre zuzuwendcn.
„Damit Tu vollends Deine Vaterpflichten von Dir schieben könntest, nicht wahr?" rief Frau Merber und sie hätte wahrscheinlich dem gutmütigen Gatten noch eine lange Strafpredigt gehalten, wäre indessen ihre Aufmerksamkeit nicht auf die so schnöde fortge- wicsenen drei ältesten Knaben gelenkt worden, die sich zu trösten suchten, indeni sie den Ball gegen den Spiegel schlugen und in Papas Hut aufsingen.
Noch suchte die verzweifelnde Mutter nach einem Wort, daö die Größe ihrer Leiden erschöpfend ausdrückte, als Käthe, die alte Wirtschafterin, den Kopf durch die Thürspalte streckte und meldete:
„Es ist ein Mensch da, der sich au Stelle des weggelaufenen Kutschers vermieten will."
„Wie sicht er aus?" fragte Frau Merber, bevor ihr Gatte noch den Mund geöffnet. „Wenn er ein Bummler ist, wie der Vorige, so danken wir für ihn." .
„Er sagt, er trinke nie einen Tropfen," berichtete Käthe, die sich bemüßigt gefühlt hatte, den Ankömmling gleich vor der Thür einem gründlichen Examen zu unterwerfen.
„Laß ihn hereinkommen," sagte Herr Merber. „Wir brauchen so nötig einen andern Kutscher," wandte er sich entschuldigend au seine Gattin. „Du weißt, wir müssen noch nachmittags zur Stadt schicken —"
„Guten Tag!" sagte der Eintretende.
Beim Klang dieser Stimme erhob Fanny schnell den Kopf, aber da der ihr gegenüber befindliche Spiegel voll und groß die hohe Gestalt des zukünftigen Kutschers zeigte, hatte sie nicht einmal nötig, sich umzusehen.
„Wie heißen Sic?" fragte der Hausherr.
„Anton Schulze, mein Herr."
Anton Schulze hatte offenbar noch nicht oft herrschaftliche Zimmer betreten, denn er blieb, verlegen seine Mütze in den Händen drehend dicht an der Thüre stehen und musterte, den linken Fuß vorgestellt, den Oberkörper nach rechts übergebeugt, welche Stellung er wahrscheinlich für bescheiden hielt, mit naivem Erstaunen die Gegenstände um sich her, und dabei ruhte sein Blick einige Zeit auf dem Spiegelbilde des eifrig schreibenden Fräuleins.
— Hoffentlich waren seine Verdienste über seinen bisherigen Lohn erhaben gewesen, denn sonst hätte die gar so armselige Kleidung ein ungünstiges Zeugniß für ihn abgelegt; der Regen und die anfgeweichten Wege halten ihn vollends in einen erbarmungswürdigen Zustand versetzt, aber zu leugnen war nickt, daß der weiße Hemdtrageu, das lose geschlungene Halstuch ihm nicht übel standen.
„Verstehen Sie mit Pferden umzugehcn?" fragte der Hausherr. —
„Leben Sie solide, und kann man sicher sein, daß Sie sich nicht beirinken, wie Ihr Vorgänger?" fügte Frau Merber hinzu.
Die Antwort auf beide Fragen lautete zufriedenstellend, und Schulze hob noch besonders hervor, daß er sich das Schicksal seines Vorgängers als Warnung dienen lassen werde, der ihm unter Thränen der Rene geklagt, welche gute Herrschaft er verloren. Er hielt es für seine Pflicht, dem armen Menschen, an dessen gestriger folgenschwerer Trunkenheit er sich nicht ganz unschuldig wissen mochte, dereinst wieder zur gnädigen Aufnahme zu verhelfen.
„Haben Sie Zeugnisse?"
Schulze beförderte ein schmutziges, zerknittertes Papier aus der Westentasche und reichte, es ehrfurchtsvoll betrachtend, dasselbe zwischen den Fingerspitzen dem Hausherrn.
„Also in der Residenz ist Ihre erste Stelle gewesen! Aber werden Sie sich dann auch in die ländlichen Verhältnisse finden können?"
„Ich hoffe, den Herrn und die gnädige Frau zufrieden zu stellen. Nur hätte ich eine kleine Bitte."
„Nun?"
„Ich möchte nicht mit den andern Dienstlcutcn zusammcn- schlafen."
Herr Merber glaubte schon seine Hoffnung, hier einen geeigneten Ersatz zu finden, würde in den Brunnen fallen, .denn wie würde seine Gattin jemals in diese Anmaßung billigen? Aber zu seinem Erstaunen sagte Frau Merber ganz freundlich:
„Gut, es soll damit sein, wie sie wünschen."
„Halten Sie denn die Pferde bereit, wir wollen noch diesen Nachmittag ausfahren," sagte Herr Merber, als man über die näheren Bedingungen einig geworven. Nachdem der Kutscher zögernd das Zimmer verlassen, wandte er sich ängstlich an seine Gattin. —
„WaS meinst Du, liebe Elise?"
„Er bat offenbar einmal in besseren Verhältnissen gelebt, der arme Mensch," sagte Frau Merber lebhaft, „es wundert mich, daß Du ihm das nicht gleich ausahst, aber Dein Scharfblick war nie besonders. Ein gebildeter Mensch ist er gewiß, wer weiß, in welchen vornehmen Häusern er gelebt hat I Und den wolltest Du mit unser» Knechten znsammenstecken? Es wundert mich, wie Du auch nur einen Augenblick so unvernünftig sein konntest, lieber Bernhard!"
(Fortsetzung folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von Bernhard Hotmann in Wildbad.