Mr die Reichstagsumhl 1903.
Dritter Abschnitt.
Handelsverträge.
So wurden denn auch unter Caprivi die Handelsverträge geschlossen, die der Kaiser damals als „eine rettende Tat" bezeichnete. Diese Verträge bestehen mit fast allen europäischen Staaten und mit Nordamerika. Die Verträge sind auf 10 Jahre geschlossen und daher seit 1903 kündbar. Mit Frankreich besteht ein im Versailler Frieden festgelegter, unkündbarer sogen. Meistbegünstigungsvertrag, wonach jede Zollfreiheit oder Zollermäßigung, die irgend einem Lande gewährt wird, ohne weiteres auch für Frankreich gilt. Von besonderer Bedeutung ist wegen der Getreideeinfuhr der Handelsvertrag mit Oesterreich-Ungarn, der, ebenso wie der Vertrag mit Italien und der Schweiz im Reichstage anno 92 mit 243 gegen 48 Stimmen angenommen wurde. Die hervorragendsten Mitglieder der konservativen Partei stimmten für diesen Vertrag, in welchem u. a. der Zoll auf Weizen und Roggen auf Mk. 3,50 festgesetzt war. Es folgte 1893 der Vertrag mit Serbien und Rumänien, 1894 der mü Rußland: jetzt begannen die Konservativen gegen Handelsverträge zu stimmen. Die R egierung anerkannte schon damals, daß Deutschland seinen Bedarf in Brotgetreide nicht mehr selbst decken könne, und daß es daher die Brot- e.nfuhr mit Jndustrieproduklen bezahlen müsse, zu deren Ausfuhr langfristige Verträge erforderlich sind. In der Tat zeigt die Entwicklung der deutschen Wohlfahrt seither eine aufsteigende Tendenz, die sich in einer steten Abnahme der Auswanderung, einem Anwachsen der Spareinlagen der städtischen wie der ländischen Be- völkerungdemFortschrittederLebensversicherungen, dem Ausbau des Genossenschaftswesen, dem Fleischkonsum (der z. B. von 1883 —1900 um 40 Prozent stieg) statistisch nachiveifln läßt.
Bezüglich der Landwirtschaft ist eine Statistik des Ertrages nicht vorhanden. Daß jedoch ein Rückgang stattgefunden habe, ist zweifellos falsch und keinesfalls haben die Handelsverträge einen Rückgang gebracht, wie denn z. B. eine Reihe von europäischen Staaten, so Holland und Dänemark eine außerordentlich hoch entwickelte Landwirtschaft besitzen, welche unter völliger Zollfreiheit aller agrarischen Produkte erwachsen ist.
Tatsächlich hat in der Zeit dieser Handelsverträge eine zweifellose Förderung des landwirtschaftlichen Betriebes stattgefunoen, welcher eine größere Intensität in der Ausnützung des Bodens, eine ungemeine Steigerung in der Verwendung von künstlerischem Dünger, von Kraftfutter etc. ausweist und namentlich in den für Württemberg hervorragend wichtigen Zweigen der Viehzucht und der Milchwirtschaft zum Ausdrucke gekommen ist. Auch ist nicht etwa, wie behauptet wird, die landwirtschaftliche Bevölkerung der Kopfzahl nach zurückgegangen, sondern sie weist eine, wenn auch mäßige Erhöhung auf Dagegen hat sich z.B. die Anbaufläche für Weizen von 1893—1900 um 5000 Hektar, die von Hafer um 500 000 Hektar erhöht, der Pferdebestand ist von 3 800 000 auf 4 160 000, der Nindviehbestand von 17,5 auf 19 Millionen, der Schweinebestand von 12 auf 17 Millionen gestiegen.
Wenn trotzdem die Rentabilität der Landwirtschaft nicht in dem Maße zugenommen hat, wie man es von der Rentabilität der Industrie annimmt, so hat dies seine natürliche Ursache darin, daß der Betrieb der Landwirtschaft nicht in dem Maße seinen Umsatz steigern kann, wie es der Fabrikant oder der Kaufmann kann, wobei aber nicht unberücksichtigt bleiben darf, daß auch die Industrie trotz ihres gesteigerten Umsatzes an Rentabilität ebenso verloren hat, wie z. B. der Kapitalist durch die Herabsetzung des Zinsfußes der Staatspapiere.
?. örderrmg der Landwirtschaft u. d.Bo'kspartei Das Parteiprogramm der Volkspartei hat, öhilL das Interesse des Gesamtvolkes außer acht zu lassen, die Erhaltung und Kräftigung des bäuerlichen Mitteltzandes» die Steigerung der Ertragsfähigkeit des Bodens und der Leistungsfähigkeit der mittleren uud kleineren Betriebe als Ziel bezeichnet und sucht dieses Ziel durch planmäßige Nutzbarmachung der technischen
Fortschritte und Hilfsmittel, Schaffung selbstständiger Organe für die Landwirtschaft, durch Förderung der Viehzucht und der landwirtschaftlichen Nebenbetrieben zu erreichen. Zu den wichtigsten Faktoren zur Verbesserung der Lage der Landesgemei'den gehören die Forderungen nach Verbilligung der Eisenbahntarife und nach Ueber- nahme der Volksschullasten und der Wegbaulasten auf den Staat.
Die Aufwendungen des Staates aus die Landwirtschaft in Württemberg wuchsen, nach den amtlichen Publikationen von 1881 mit 458 000 Mark und Z 1891 jmit 750 000 Mk. 1901 auf 1 Million 549000 Mark.
Und wenn ein bauernbündlerischer Abgeordneter diese Ausgaben dadurch herabsetzen will, daß er behauptet, die Hälfte der Ausgaben werde auf Diäten und Prämierungen verwendet, so ist man ihm die Antwort nicht schuldig geblieben.
Bund der Landwirte.
Im Jahre 1893 wurde der Bund der Landwirte begründet, dessen Gründer ursprünglich vorjchlug, „man solle unter die Sozialdemokraten gehen", um den Forderungen der Agrarier Gehör zu verschaffen. Während bis dahin in Wissenschaft und Parlament die Ansicht vertreten war, daß Getreidezölle und namentlich hohe Getreidezölle nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für die Landwirte vom Uebel seien, fand sich nun eine Reihe von einflußreichen Großgrundbesitzern zusammen, welche ganz nach Art der Sozialdemokratie beschlossen, unter einseitiger Verfechnmg des eigenen Interesses und ohne alle Rücksicht auf die anderen Beoölkerungsklassen die Vorteile der Staatsgesetzgebung für sich auszunützen. Die Großgrundbesitzer gründeten den Bund der Landwirte.
Unter dem Drucke dieser kleinen, aber durch ihre gesellschaftlichen Beziehungen mächtigen Partei der Junker entschloß sich die Reichsregierung, die noch 1895 den Antrag Kanitz auf Verstaatlichung des Getreidehandels als „gemeingefährlichen Brotwucher" erkannt hatte, in dem neu vorgelegten Zolltarif die Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle zu bewilligen.
Der Zolltarif.
Am 25. Juli 1901 wurde der schon vorher ins Publikum gedrungene Zolltarifentwurf veröffentlicht, dessen charakteristische Eigenschaften waren: 1. daß für alle Arten von Waren Zölle eingeführt wurden, 2. daß für 4 Getreidearten Minimalzölle gegeben wurden, unter welche auch bei Handelsverträgen nicht heruntecgegangen werden sollte. 3. daß durchgängig eine wesentliche Erhöhung der Zölle in einseitigstem Interesse einzelner Berufsklafsen vorgeschlagen war. Der Tarifentwurf sollte nach den Erklärungen des Reichskanzlers und des Staatssekretärs Posa- dowsky keineswegs als ein Destnitivum betrachtet werden, vielmehr nur die Grundlage für die Handelsvertragsverhandlungen abgeben und es waren namentlich eine Reihe von Zollsätzen nur dazu bestimmt, gegenüber den Forderungen des Auslandes als Handelsobjekt zu dienen.
Der Zolltarif zählt nicht weniger als 946 einzelne Nummern, die fast alle gegenüber früher erhöht, und zum Teil erheblich erhöht wurden. Er ist ein „Kippe"geschäft zwischen Großgrundbesitz und Großindustrie. Das „Schmusgeld" haben die Bauern, Handwerker und Konsumenten zu zahlen.
Sofort erhoben die Agrarier die Forderung nach einem über den Regierungsentwurf weit hinausgehenden Schutzzoll für die Landwirtschaft und weiterhin die Bindung aller Zölle für die landwirtschaftliche Erzeugnisse in Form von Minimalzöllen, das heißt in der Weise, daß die Regierung auch bei Handelsverträgen an den Zollsatz gebunden sei und nicht nur, wie dies für den regulären Tarif gilt, die festgelegten Zollsätze nur gegen solche Staaten in Ansatz gebracht werden, mit welchen kein Handelsvertrag zustande kommt.
Schon im Februar 1902 erklärte der Reichskanzler, daß die im Tarif vorgeschlagenen Zölle die äußerste Grenze bezeichnen und daß jede Erhöhung das Zustandekommen des Gesetzes vereiteln würde. Die nämliche Erklärung gab er im Reichstage ab> als die Vorlage an eine Kommission verwiesen wurde. UM der Komisston die Beratungen zu ermöglichen, während der Reichstag nicht versammelt war, wurde ein be
sonderes Gesetz geschaffen, das den Komissions- mitgliedern für ihre Tätigkeit einen Akkordlohn von Mk. 2500 zusicherte. In 102, zum Teil tumultarischen Sitzungen erhöhte die Kommission alle Tarifsätze für landwirtschaftliche Erzeugnisse erhöhte auch die Minimalzölle der Vorlage und, beharrte hierauf trotz der wiederholten, definitiven Erklärung des Regierungsvertreters, daß all dies „völlig unannehmbar" sei. Das Zentrum, dessen arbeiterfreundlicher linker Flügel sich im Gegensatz zum grundbesitzenden katholischen Adel befand, verfiel schließlich auf die Bemäntelung der Brotverteuerung durch ein neues Gesetz, das bis 1910 in Kraft treten solle, wonach die Mehreinnahmen aus Zöllen teilweise für eine Witwen- und Waisenversorgung der Arbeiter verwendet werden sollen. Am 16. Oktober 1902 begannen die Beratungen im Plenum wieder, welche durchweg zur Annahme der Kommisstonsbeschlüffe führten.
Die Bolkspartei im Kampf um d. Zolltarif.
Die Volkspartei stand seit Einbringung der Vorlage geschloffen auf dem Standpunkte, daß die Zölle schon in Höhe der Regierungsvorlage nnannehmbar seien. Ohne sich auf den Pfennig hinauszubinden und ohne gegen einen mäßigen und auskömmlichen Schutzzoll Einwendungen zu erheben, sah sie voraus, daß die agrarische Begehrlichkeit der Konservativen, welche vomZentrum sekundiert wurde, durch die Linke nicht mit Erfolg werde bekämpft werden können, nachdem sich auch die Nationalliberalen unter Führung Baffermanns dem agrarischen Standpunkt zugeneigt hatten. Andere Taktik wählte die Sozialdemokratie, welche hoffte, und schon im November verkündete, sie werde das ganze Zolltarifgesetz im Wege der Obstruktion zum Scheitern bringen. Während die freisinnige Volkpartei und die freisinnige Vereinigung noch sachliche Verbesserungen versuchten, begannen die Parteien der Rechten die Anbahnung eines Kompromisses, welches unter Billigung der Reichsregierung den Tarif rasch und ohne sachliche Beratung durchdrücken sollte. Zunächst wurde die Geschäftsordnung bei namentlichen Abstimmungen geändert (Antrag Aichbichler), als dies die Beratungen nicht förderte, griffen die rechtsstehenden Parteien und mit ihnen die Nationalliberalen zu dem Mittel eines Bruches der Geschäftsordnung, indem sie gegen die Stimmen der Linken beschlossen, weder Beratung noch Abstimmung über die einzelnen Tarifpositionen zuzulaffen In fünf langen Sitzungen gab diese §bru- tale Vergewaltigung des parlamentarischen Rechtes Anlaß zu wüsten Szenen im Reichstage, vergebens mahnte Payer in eindringlichster Weise zur Mäßigung, die Majorität hatte mit der Regierung feste Abmachungen getroffen und der Antrag Kardorff gelangte zur Annahme. Wie eine Komödie nahmen sich sodann die Berichterstattungen der Kommissionsmitglieder aus, deren Beratung durch einfache Schlußanträge völlig unterbunden wurden. Jeder weitere Antrag, wie z. B. die Vorschläge Friedrich Hauß- manns betreffend die längere zollfreie Einfuhr oes Mostobstes, wurde abgelehnt. In der dritten Lesung wurde das Ergebnis der hinter den Koulissen getroffenen Vereinbarung zum Gesetz erhoben, wonach gegenüber den Kommissionsbeschlüssen die Mimmalzölle auf die vier Getreidearten in Höhe des Regierungsentwurfes wiederhergestellt, für Malzgerste im Gegensatz zu Futtergerste der Mmmalzoll auf 4 Mk. erhöht und einige Ermäßigungen der industriellen Zölle gegenüber den Kommisstonsbeschlüssen festgesetzt wurden.
In dieser Fassung wurde das Gesetz mit 202 gegen 100 Stimmen angenommen. Ein Teil der Konservativen (darunter Schrempf), stimmten gegen das Gesetz — um sich neuen Agitationsstoff gegen die angeblich immer noch zu niedrigen Zölle aufzusparen.
GctttctulliiyigcS
— Härten von Stahlwerkzeugen in Karbolsäure. Zum Härten von stählernen Werkzeugen wird die käufliche Karbolsäure empfohlen. Ohne baß die Härte geringer wäre, als die von in Wasser gehärteten Stücken, ist die Elastizität und Zähigkeit wesentlich größer.