Gin Waterherz.
Roman in Originalbearbeitung nach dem Englischen von Clara Rheinau.
80 ) (Nachdruck verboten.)
43. Kapitel.
AIS Frank Nord sein Zimmer verließ und die Treppe nach der Straße hinunterschritt, kehrte auch der Mann langsam wieder um, der vorsichtig, Schritt für Schritt, dir Hand an das Ohr gelegt, um jede Bewegung im oberen Stockwerke zu vernehmen, im Hinaufgehen begriffen war, und langte vor dem Exprästdenten auf dem Boulevard an. Er nickte im Vorübergehen dem Portier zu, der ihn ohne Anstand eingelassen, als er nach Oberst Nord fragte» in der Meinung, er bringe Nachrichten von der verlorenen Tochter. Er fühlte sich darin noch bestärkt, als der Oberst jetzt unmittelbar nach dem Fremden das Haus verließ, und dachte, die beiden Herren gingen wohl gemeinschaftlich auf eine fruchtlose Suche. Daß der späte Besucher jener Paulo Baretti war, nach welchem so viele ausschauten, und der sich gewiß nicht persönlich in die Höhle des Löwen wagte, kam ihm natürlich nicht in den Sinn. Zudem war Paulo ganz glatt rastert, wodurch sein Gesicht ein gänzlich verändertes Aussehen halte. Durch einen Zufall in seinen .Plänen begünstigt, trat Bareilt auf die andere Seite der Straße und wartete, nach welcher Richtung Frank Nord sich entferne. Dann folgte er ihm in einem Abstande von wenigen Schritten.
In den Kaufläden erlosch ein Licht nach dem andern, aber die Straßen waren hell erleuchtet, und Tausende befanden sich noch unterwegs. In den KafsS herrschte reges Treiben, und in dem Menschenstrome, der hier vorüberflutele, fühlte Paulo sich sicher und unbeobachtet. Er schalt sich einen Narren, daß er sich so lange in seinen Zimmern verborgen gehalten, da sich doch ein einzelner auf diesen überfüllten Boulevards so leicht verlieren konnte. Die Luchsaugen der Polizei konnten nicht von jedem Vorübergehenden Notiz nehmen, und hier fand er doch des Abends die ersehnte Zerstreuung und Sicherheit unter seinen Mitmenschen. Ihn allein aufzufinden, war ganz unmöglich; Hunderte von Verbrechern und Sträflingen verbargen sich in Paris vor dem Auge des Gesetzes, und Niemand entdeckte sie, obschon sie k>!- stänbig wie die harmlosesten Menschen in den Straßen waren. In Gesellschaft seiner beiden Damen wäre es freilich gefährlicher gewesen, sich zu zeigen; Eiste wäre sofort von der Polizei bemerkt worden, aber er allein war vollkommen sicher, wie er zuversichtlich hoffte. Und wenn jenem verwünschten Frank Nord, der seit Jahren sein bitterster Feind gewesen, zufällig ein Unfall zustoßen sollte, wen würde dies viel kümmern? Hinter der Brandyflasche auf dem Boulevard der Italiener harte Paulo über diese Frage nach- gegrübelt, und je mehr er sich jenem Zufall näherte, wo er mehr einem wilden Tiere als einem Menschen glich, desto fester stand sein Entschluß den Verhaßten aus der Welt zu schaffen. Ob er mit dem Gedanken umging, * auf offener Straße seinen Feind anzugrrisen, war nicht zu erraten; er folgte ihm einfach in einer sicheren Entfernung, denn er wußte, daß Nords Augen nicht weniger scharf waren. Er .beobachtete ihn wie rin Panther, mit
blutunterlaufenen Augen, und wartete auf eine günstige Gelegenheit, seine Rache zu befriedigen.
Oberst Nord hielt sich an diesem Abende in den breiten belebten Straßen; er hielt jeden Gendarmen, der ihm begegnete, mit einer Frage an; mehrere Civilpersonen blieben bei ihm stehen, und Paulo erriet an dem Schauder, der ihn überlief, daß es verkleidete Polizisten waren. Frank Nord ging weiter zu einem der vielen Bahnhöfe zu Paris und auf ein Bureau, wo wieder viele, für Paulo unheimliche Männer, in langen Mänteln, mit Degen an der Seite, sich in den Gängen und an den äußeren Thüccn hcrumtrieben — und kehrte endlich auf den Boulevard der Italiener zurück. Paulo schickte ihm eine Verwünschung nach, als die HauSthürc sich hinter ihm schloß, aber er ging nicht weg. Die Leute kehrten aus dem Theater zurück» in den Casss war eS noch lebendig, eine Gefahr für ihn stand nicht zu befürchten. Baretti benutzte die Zeit, die ihm noch gegönnt war, um im dem nächsten Cass eine Flasche Brandy zu leeren und fand sich dann betrunkener, als zuvor, und weniger auf seiner Hut wieder vor Frank Nords Hause ein. „Oberst Nord ist zurück- gekehrt, wie ich weiß," sagte er mit heiserer Stimme zu dem Portier.
„Ja, er ist vor einer Viertelstunde heimgekommen. Wünscht Monsieur —"
«Ja, Monsieur wünscht," unterbrach ihn Baretti. „Ich bringe ihm wettere Nachrichten. Im ersten Stocke, nicht wahr?"
„Ja, Monsieur, im ersten Stock." Der Portier war sehr schläfrig und fand nichts Auffallendes an dem späten Besuch. Zu jeder Stunde bet Tag und bei Nacht kamen Leute um den englischen Obersten zu sprechen; eS wurde nie still im Hause, nachdem Frank Nord darin Quartier genommen.
Mit möglichster Vorsicht, aber ziemlicher Unsicherheit erstieg Paulo Baretti abermals die Treppe; das Treppenhaus war erleuchtet, aber ganz verödet. Nur das dumpfe Geräusch der vorüberollenden Wagen unterbrach hie und da die Stille. Paulo befand sich jetzt auf einem geräumigen VorplaH und las den Namen „Frank Nord* ans der ihm gegenüberliegenden Thüre. Er murmelte eine Verwünschung und balltte drohend die Faust. Nur diese Thüre zwischen ihm und dem Verhaßten, der ihn zu Tode Hetzen wollte I Könnte er nur dieser Hetze und Frank Nords Leben ein Ende machen — in der Vorstadt St. Honors batte er ja «in sicheres Versteck, und wenn der Sturm vorübergedraust war, konnte er zu Tony gehen. Er war sich nicht recht klar darüber, was er jetzt vornehmen solle, und bezweifelte fast, ob es klug gewesen, sich zum zweiten Male hierher zu wagen. Dem Portier war sein Gesicht schon bekannt, was eines Teils von Vorteil, im Hinblick auf seine Zukunft aber auch von Nachteil für ihn sein konnte; eS war wohl am besten wenn er sich einmal in der Abenddämmerung, che die Treppe erleuchtet war, hierherschleichen und Frank Nord in der Dunkelheit begegnen würde. Plötzlich trat er aus den Fußspitzen näher an die Thüre heran und hielt den Atem an vor Erstaunen über den Anblick eines kleinen Drückers, der im Schloß war — ein Versehen, das ihm ganz unerwartet zu Hülfe kam. Paulo öffnete vorsichtig und trat in eine matter! euchtete
Halle. Eine halb offen stehende Thür führte in ein ebenfalls nur schwach erhelltes Zimmer, in welchem das laute Ticken einer Standuhr das einzige Geräusch bildete. Ohne Zögern schwankte Baretti durch die Halle und lugte in das Gemach. „Er schläft!" murmelte er triumphierend, und in der nächsten Sekunde hatte er die vordere Thüre wieder zugemacht, und Alles war, wie eS gewesen, ehe sein böser Geist ihn hergeführt hatte. Erst als Frank Nord eine Minute später aus dem zweiten Stockwerk herabkam, wo er eine kurze Besprechung mir einem Mieter gehabt hatte, wurde eS wieder lebendig in dem großen Treppenhause. Plötzlich blieb der Oberst lauschend stehen; ein seltsamer dumpfer Laut erreichte sein Ohr, und von einer unbestimmten Angst erfaßt, stürzte er mit dem lauten Rufe „Antonio!" inseine Gemächer hinein.
Doch auf der Schwelle trat ihm ein geisterbleicher Uhnhold in den Weg, ei» kurzer verzweifelter Kampf entspann sich, und Paulo Baretti fiel schwer zu Boden.
„Baretti —elender Mörder I" rief Nord und trat zu dem Sopha, auf welchem regungslos die Gestalt eines Mannes lag. Paulo schaffte sich wieder auf die Füße und taumelte aus den Obersten zu, mit einer seltsamen Angst seinen Namen rufend; Nord packte den hilflosen, Schurken fest beim Kragen.
,No — Nord — Frank Nord!" keuchte Baretti hervor. „Allmächtiger, wer — wer ist es — den ich getötet?"
„Ihr eigener Sohn l" donnerte der Oberst ihm ins Ohr.
44. Kapitel.
Sein eigener Sohn I Paulo Baretti stieß ein wildes, verzweiflungSvollcS Heulen aus, das Frank Nord noch lange in den Ohren klang, und entglitt den Händen seines Opfers, wie eine unförmliche Masse zu Boden sinkend. „O nur das nicht!" schrie er. „Um aller Heiligen willen, sagen Sie das doch nicht — oder bringen Sie mich um. Nicht Tony — nicht mein armer Junge. O, jeder Andere, nur nicht Tony!"
Mehr denn je glich er einem wilden Tiere, als er auf allen Vieren nach dem Lager seines Sohnes hinkroch, den er im Schlafe überfallen. „O Tony, Dir wollte ich ja kein Leid zusügen," stöhnte er laut. »Ich glaubte, es sei Nord. Wie kommst Du in dieses HauS? Was thust Du bet ihm und ferne von mir ? O er ist tot, tot, tot! Nie mehr wird er zu mir sprechen!"
Der Oberst zog ihn ein paar Schritte von Antonio weg; Paulo kreischte auf und versuchte sich wieder seinem Sohne zu nähern. „Rührt mich nicht an!" tobte er. „Laßt mich zu ihm — es ist mein Sohn! — der einzige Mensch in der ganzen Welt, der je ein freundliches Wort für mich hatte — und ich habe ihn umgebrachi. O, warum spricht er nicht?"
Inzwischen hatte sich daS Zimmer mit Neugierigen gefüllt, und mehrere Lichter beleuchteten das grausige Bild: der Mörder schreiend und sich selbst mit Anklagen überhäufend, auf dem Boden kauernd; der Verwundete auf dem Sopha unter den Händen des Obersten; die Gendarmen an der Thüre, als ob die Vergeltung bereits ihre Boten gesandt, um den Mörder auf frischer Thal zu ergreifen.
(Fortsetzung folgt.)
Arbakito», Druck und Verlag von Beruh. Hssma « » in Wldbatz.