Gin WcrterHerz.
Roman In Originolbearbeitung nach dem Englischen von Clara Rheinau.
78) (Nachdruck verboten.)
„O, ich weiß, wie die Leute über mein Weggehen reden werden," sagte die Unglückliche, welcher die Meinung der Welt über alles ging; „doch glaube ich, es muß sein. Ich kann ihm nicht entgegentreten, wenn Sie ihm alles sagen wollen."
»Ich würde ihn warnen, versetzte Elsie, „ich kann nicht sehen, daß er ermordet wird."
„Ich hatte ja nicht die Absicht ihn zu morden, ich wollte ja nur mein eigenes Leben retten. Doch die ganze Sache thut mir leid. Wenn Sie nur Schweigen darüber bewahren wollten."
„Nein, das ist nicht meine Pflicht, Frau Baritti."
„Ihre Pflicht ruft Sie zu ihrem Vater auf dem Boulevard der Italiener," rief diese, „um ihn vor Paulo, nicht Paulo vor mir, zu schützen; denn ich las Mord in meines Mannes Augen heute Abend."
„Allmächtiger Gott I Was meinen Sie damit? Sprechen St: die Wahrheit? Was sahen Sie?"
„Ihres Vaters Nachforschungen nach Ihnen machen Paulo zum Gefangenen hier. Wäre Frank Nord tot, wer sollte sich dann noch um Sie oder Bareltt kümmern? Er sagt es und ich denke es; und über diesen Punkt nachgrübelnd, suchte er heute Abend den Boulevard der Italiener auf. Sie versäumen Zeit, Elsie, wenn die Aussichten für ihn günstig sind, wie es wohl der Fall sein mag."
Warum haben Sie mir dies verheimlicht?"
„Ich hielt Sie für irrsinnig; ich wußte nicht, daß Sie unS betrogen. Wie hätte ich es sagen, wie hätte ich ihn zurückhalten können?"
Von einer neuen schrecklichen Angst erfaßt, erhob Elsie sich rasch. Besser, als sie erwartet, war es Frau Baretti gelungen, die Aufmerksamkeit Elftes von ihrem Vergehen abzulenken, Vor der Gefahr, die Ihrem Vater drohte, schwanden alle anderen Bedenken und Sorgen dahin. Es war das alte kummervolle Antlitz, in das Frau Baretti blickte, aber mit G'präge von Entschlossenheit, welche sie nie zuvor gesehen.
„Ja, Sie haben Recht," sagte Elsie, „ich muß augenblicklich meinen Vater aufsuchen und ihn warnen. Sie hätten mir dies schon früher sagen sollen."
„Mußte ich Ihnen nicht zuhören." war die mürrische Entgegnung. Frau Baretti befand sich in einer seltsamen Gemütsverfassung. Sie wußte selbst nicht, ob sie ihr beabsichtigtes Verbrechen bereute oder nicht — ob es gut für sie sei, daß jenes schwache Mädchen sie dabei ertappt habe. Sie fühlte sich sehr unglücklich, denn sie hatte durch ihre Verheiratung mit Paulo Baretti etwas Gutes zu thun geglaubt und konnte sich mit diesem großen Irrtum ihres Lebens nie versöhnen.
Ehe Frau Baretti sich d-ssen versah, stand Elsie zum Ausgehen angrkleidet vor ihr und blickte mitleidig auf sie herab. „Ich gehr jetzt, Fanny," sagte sie sanft. „Wollten Sie mich wegen meines Vaters nur in Angst versetzen, um mich rascher los zu werden, so tadle ich Sie nicht deshalb. Gott weiß
rS, wie gerne ich dies Haus verlasse, wie nur die Hoffnung, Sie vor einer bösen That zu b-wahren, mich bis heute hier zurückhielt."
„Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt," versetzte Frau Baretti.
„So leben Sie denn wohl," sagt« Elsie, „Ich danke Ihnen für die Güte, die Sie mir manchmal zeigten, ich vergebe Ihnen Ihre zeitweise Unfreundlichkeit."
„Und wenn Sir Paulo jetzt begegnen, werden Sie ihm nichts von all dem sagen? Vielleicht sinnt er gar nichts Böses gegen Ihren Vater. Vielleicht habe ich ihm Unrecht gethan, und Sie werden ihn unten auf der Straße finden."
„Auf irgend eine Weise muß ich ihn vor der Gefahr warnen, in der er schwebt. Ich kann Ihnen nicht vertrauen; Sie wollen mir kein Versprechen geben."
„So thun Sie, was Sie wollen. Ich habe nichts mehr zu sagen."
Elfte eilte rasch die Treppe hinunter; eS drängte sie zu ihrem Vater zu kommen, und dennoch hoffte sie, Frau Baretti'S Verdacht sei unbegründet gewesen.
Fanny Baretti saß nach Elst'S Entfernung in dumpfes Brüten versunken; sie überdachte ihre schreckliche Lage und suchte sich ihr zukünftiges Verhalten daraus abzuleiten. Die Aufgabe war eine zu schwierige für sie. „Ich habe keine Seele hier, an die ich mich wenden könnte," stöhnte sie; „und doch, was würden die Leute von mir sagen, wenn ich allein nach England zurückkehrte I" Schließlich beschloß sie, zu bleiben, Elsie's Rath zu befolgen und Paulo zu gestehen, zu welch' entsetzlichem Schritte seine Mißhandlung sie getrieben, als Schritte auf der Treppe ihren Gedankengang unterbrachen. Voll Unruhe riß sie das Fenster auf und stellte sich darunter, bereit um Hilfe zu rufen, sollte ihr Gatte, wütend über Elsie's Flucht und von dem grausamen Mädchen über alles unterrichtet, zurückkehren und seinen Zorn an ihr auszuiassm suchen. „Wäre ich nur gegangen, so lange es noch Zeit war, rief sie die Hände ringend.
Allein die Schritte gingen vorüber, nach dem zweiten Stockwerk hinauf, und Fanny war dankbar für den Aufschub, der ihr geworden. Fünf Minuten später schlich sie aus dem Hause, außer Stande, die qualvolle Ungewißheit, welcher Empfang ihr von Paulo bevorstehe, noch länger zu ertragen. Sie hatte schon zu Vieles erduldet; eS war Zeit, vor dem Elenden zu fliehen, dem sie in ihrer Selbstverteidigung das Leben hatte nehmen wollen. Aber diese Selbstverteidigung hatte so sehr einem Mordversuche geglichen, daß ein Schauer durch Fannys Körper ging, als sie an dem verschütteten Brandy und den Glasscherben vorüberkam, ehe sie die Treppe hinunter eilte, um in der dunklen Nacht zu verschwinden.
42. Kapitel.
Seit jenem Abende, da Antonio Baretti mit seiner Operette so großen Erfolg errungen, war alle Gemütlichkeit aus dem Hause aus dem Boulevard der Italiener gewichen. Ungeheure Erregung, eine fast unerträgliche Ungewißheit waren der Entdeckung Elsie's im Theater, sowie Jener, welche sie verborgen hielten, gefolgt; aber dazwischen tauchte immer wieder ein Hoffnungsschimmer auf, und Frank Nord und Antonio kannten keine Ruhe mehr. Oberst Nord streute sein Geld mit vollen
Händen aus; kein Mittel blieb unversucht, um sein Kind in seine Arme zurückzuführen; Hunderte von Spionen standen in seinem Dienste, und die Belohnung, die er für das Wiederfinden seiner Tochter auSgesetzt, lockte Tausende auf die Suche nach Paulo oder der jungen Dame, die er widerrechtlich gefangen hielt. Auf den Boulevards, in den Restaurationen, allenthalben hörte man Elsies Namen nennen, und es war, als ob die ganze Stadt sich für diesen Fall interessiere und in des Obersten Sache thätig sei. Obschon nun Frank Nord und Antonio beide demselben Ziele zustrebten, so suchten oder arbeiteten sie doch nicht gemeinschaftlich. Zwischen den beiden Männern hatte sich eine Scheidewand erhoben, die nicht leicht zu übersteigen war. Sie sahen einander nur selten, obgleich sie auf demselben Gange wohnten, und wenn sie früh morgens oder spät am Abende zufällig sich begegneten, so war eS nur ein kurzer, kühler Gruß, der von deS älteren Mannes Lippen kam.
Frank Nord war abermals hintergangen worden; er hotte abermals ringesehen, daß es sein Geschick sei, mit Menschen in Berührung zu kommen, die ihm kein volles Vertrauen schenkten ober ihn durch halbe Wahrheit narrten und so für immer ihn mißverstanden. Antonio Baretti, der Mann, den er so treulich in seiner schweren Krankheit gepflegt, und der auch seinerseits ihm treu, vielleicht dankbar, ergeben schien, war der letzte unter Jenen, welche Frank Nord mit Mißtrauen begegneten. Erst nach der Entdeckung Elsie's im Theater hatte der Oberst erfahren, wer Antonios Vater war, und wußte nun, daß er diesem alles Unglück der letzten Jahre zu verdanken habe. In dieser Beleuchtung erschien mancher Vorfall der Vergangenheit nicht mehr länger unerklärlich, und über Antonio ergoß sich eine Flut bitterster Vorwürfe, weil er ihm so lange die Wahrheit vorenlhalten. „Sie haben wie ein Feind, anstatt wie ein Freund an mir gehandelt I" rief er aus. „Vielleicht hätte ich längst mein geliebtes Kind zur Seite — Sie haben mir unberechenbaren Schaden zugefügt."
Vergebens erinnerte Antonio seinen Ankläger an dessen schwere Erkrankung, an die Notwendigkeit, sein Gemüt von Sorge frei zu halten; vergebens versicherte er, daß er nur auf eine paffende Gelegenheit gewartet, um das ganze düstere Leben seines VatcrS, der so zu sagen, der böse Geist auch seines Lebens gewesen, vor ihm zu enthüllen; Frank Nord wollte der Vernunft kein Gehör geben. Helene Dering hätte ihn vielleicht nicht mehr für einen Helden gehalten, wenn sie ihn in dieser Zeit gesehen hätte. Alle Selbstbeherrschung, die er bei den wichtigsten Vorfällen seines Lebens gezeigt, als ob er stärker wäre, als die Heimsuchungen, die ihn befallen, war gänzlich verschwunden, und zum ersten Mole in seinem Leben machte er sich der Ungerechtigkeit schuldig und zog die besten Absichten Antonios nicht in Betracht. Frank Nord war aber ganz aus dem Gleichgewichte, und selbst Helden müssen manchmal wie gewöhnliche Sterbliche bandeln.
(Fortsetzung folgt.)
Merks.
Der Arzt für zorneSkranke Herzen ist ein gutes Wort.
Akdakiton, Druck und Verlag von vrr uh. Hof« anui» Witthatz.