Gin WaterHerz.
Roman in Originalbearbeitung nach dem Englischen von Clara Rheinau.
74) (Nachdruck verboten.)
»Ich hoffe es, denn ich möchte jede Note davon noch einmal hören. Ich verstehe nichts von Musik, aber diese ist vortrefflich, sonst würden sie da unten nicht unaufhörlich brüllen. Ich bin glücklich. Ich möchte den Jungen sehen. Hoffentlich bringen sie ihn zum Vorschein mit Lorbeeren gekrönt. Ich bin entsetzlich glücklich heute Abend." Die Hellen Freudenthränen strömten aus den Augen und in das Parterre hinunter auf den kahlen Schädel eines stattlichen Franzosen, der vor Wut mit den Zähnen knirschte und mit heftigen Geberdcn zu Paulo htnaufdrohte. Aber dessen Augen waren verschleiert er bemerkte ihn nicht.
Die Operette war vorüber; der Vorhang fiel, und ein rasender Beifallssturm brauste durch das HauS. Antonio Baretti war einer unter Tausenden, der auf diese Weise Erfolg errang; und die Krittler, welche Zeugen seiner Niederlage halten sein wollen, waren von Begeisterung hingerissen. Laute Rufe nach dem Komponisten erschollen, in welche Paulo Baretti mit der vollen Kraft seiner Lungen einstimmte. Er war in der höchsten Erregung und machte mehr Lärm, als irgend ein Anderer. Er vergaß selbst die Anwesenheit Elste's, und die Verwünschungen, die er damals auf dem Barstofter Hasendamm seinem Sohne nachgeschickt, waren längst entschwunden. „Tony! Tony!" brüllte er halb von Sinnen, aber der Name ging unter in dem allgemeinen Getöse. Er lehnte sich halb über die Loge hinaus und schwenkte seinen Hut, bis die Leute über seine Heftigkeit lachten, aber durch unaufhörliches Verlangen nach dem Komponisten die Aufregung im Gange hielten.
Endlich erschien Antonio, von donnerndem Beifall begrüßt; aber er Hörle nur seines Vaters Stimme, sah nur seines Vaters Angesicht in diesem Augenblicke redlich verdienten Triumphes. Fast hülflos blickte er hinauf nach dem unförmlichen Manne, derdiewetß- behandschuhlen Hände in der Luft hin- und herschwenkte und brüllend und tobend sein ganzes weißes Gebiß zur Schau stellte. ES war das Gesicht, das in jener Unglücksnacht io Wclston zwischen den Binsen hervorlugte, das Gesicht, welches er später in Friedrich DeringS Hause gesehen, und das immer eine schlimme Vorbedeutung für ihn gewesen war. Er vergaß seinen Triumph beim Anblicke desselben und machte dem Publikum eine ungeschickte Verbeugung, welche jedoch als natürliche Verlegenheit seiner großen Jugend gutgeschrieben und ebenfalls beklatscht wurde. Antonio bemerkte den Obersten nicht, der in seinen Bcisallsbezeugungen weniger auffällig war und nicht ahnte, daß ihm in diesem Hause die größte Ueberraschung seines Lebens bevorstehe. Denn als Antonio Baretti sich zurückgezogen, wurde der Vorhang an Paulo's Loge von zwei weißen, bebenden Händen bei Seite geschoben, und ein bleiches, blondes Mädchen in Abendtoilette erschien plötzlich an Paulos Seite, während eine große dunkelhaarige Frau im Hintergründe sie zurückzuziehen suchte.
„Er ist eS — haltet mich nicht! Vater!" tönte Elste'S Stimme durch das Haus, und der gellende Schrei durchzuckte die Anwesen
den , während Frank Nord wie verzaubert von seinem Sitze aufsprang.
Er hörte die Stimme und erkannt« sie auf der Stelle. „Elfte!" kam es heiser und gepreßt von seinen Lippen, als er des bleichen Gesichts seines Kindes ansichtig wurde, das sich in hoher Erregung ihm zuwandte. Er vergaß Paulo Parelti von Alsako; er bemerkte nicht, daß noch eine andere, kaum weniger als Elfte erregte Frau sich in der Loge befand, oder daß das Publikum auf die seltsame Gruppe aufmerksam geworden war. Er verließ seine Loge» rannte den Corrl- dor entlang, mit beiden Ellenbogen sich feinen Weg durch die Menge bahnend, welche eben im Begriff stand, das Theater zu verlassen. Noch ein halbes Dutzend Herren, in eifrigem Gespräch über den unerwarteten Erfolg dieses Abends begriffen, verstellten ihm den Weg zu seinem Kinde, und auch diese schob er ohne alle Rücksicht unsanft bei Seite.
„Monsieur, sind Sie von Sinnen?" rief einer derselben entrüstet.
„Ja, meine Herren! — der tolle Nord!
— toll vor Freude! Platz da! Ich muß mein Kind suchen!" rief er außer sich, und die Wildheit des Mannes drängte wkilere Vorstellungen über seine Unhöflichkeit zurück. Der Logenwärter stellte sich im in den Weg, aber Frank Nord riß ihn mit aller Macht bei Seite. „Die Loge mit der jungen Dame!" schrie er. „Aufmachen — rasch! rasch I"
„Alle Logen auf dieser Seite sind im Augenblick leer, mein H'rr," war dir Entgegnung.
„Es ist nicht wahr!" rief Nord; die Dame wartet hier auf mich. Sie rief mir
— meine Tochter! Habt Ihr sie nicht gehört, Mann?"
„Ah, die irrsinnige junge Engländerin I Vor einer Minute wurde sie die Treppe hinabgetragen, Monsieur. Es war diese Loge hier. VoilL!" Er öffnete die Thüre; ja, es war die richtige. Der Vorhang war herab- geriffen und lag über den Stühlen, welche in der Verwirrung des Rückzuges umgeworfen worden waren. Mehrere Handschuhe und zerdrückte Bouquets lagen auf dem Boden, und in einer Ecke glitzerte ein kleiner Brillantknopf wie ein feuriges Auge. Nord warf einen Blick auf die Loge und deren Inhalt und eilte dann hastig hinweg. Unten auf dem Korridor stieg Antonio Baretti's Gestalt wie aus dem Grabe vor ihm auf. „Elfte ist hier!" rief er aus.
„Ich weiß es. Folgen Sie mir, um's Himmels willen, wir werden sie noch einholen. Hier gilt cs, ein abscheuliches Verbrechen durchkreuzen." Mit derselben tollen Hast rannten sie aus dem Theater auf die Boulevards, wo ein fröhliches Menschengewimmel herrschte. Auf der Straße drängten sich die Equipagen; die Marmortischchen aus dem Pflaster waren von Kunden umringt; die Kellner hatten alle Hände voll zu thun, die Nachfragen nach Kaffee und Kognac zu befriedigen. Myriaden von Gasflammen beleuchteten das abendliche Bild. Es war eine Welt voll heiteren Lebens und Treibens, in welche die beiden Männer sich stürzten, aber von Elfte Nord war keine Spur mehr zu entdecken.
40. Kapitel.
Paulo Baretti befand sich mit seinen beiden Begleiterinnen längst sicher in seiner Wohnung, im ersten Stockwerke eines Hauses
der Vorstadt St. Honorö, als Frank Nord und Antonio noch eifrig nach ihnen suchten. In der Theaterloge hatte sich ein kleiner Kampf entspannen und dann war die ohnmächtige Elfte in Paulos starken Armen die Truppe hinuntergrlragen worden. Als sie wieder zum Bewußtsein kam, half man ihr aus dem Wagen in einem menschenüberfüllten Stadteile, der ihr vollständig fremd war; und als der Kutscher abgelohnt und entlassen war, brachte man sie in einen anderen Wagen und fuhr beinahe den gleichen Weg wieder zurück nach Paulos Wohnung. Paulo Ba- reitt hatte seine Verfolger auf eine falsche Fährte gebracht, und die Nachforschungen der Polizei wurden in verkehrter Richtung begonnen. Trotzdem war Paulo von der Notwendigkeit größter Vorsicht überzeugt. Er wußte, daß nun allenthalben Spione in den Straßen sein würden, und er fürchtete Frank Nord, von dessen Charakter er, wie so viele andere, eine unrichtige Meinung hatte. Dabei haßte er ihn von ganzer Seele für das vermeintliche Unrecht, welches er ihm in Al- sako zugefügt, und wollte sich keine Gelegenheit entgehen lassen, Vergeltung zu üben. Niemals sollte Frank Nord seine Tochter Wiedersehen — lieber wollte er sie töten, das schwor er sich an diesem Abende. Oder er konnte sie auch mit seinem Sohne verheiraten und sich dadurch jeder Strafe wegen Ver- heimlichuung ihresAufenhalteS entziehen. Auch dies wäre eine großartige Rache! Möglicherweise würde dann der Oberst in seiner Wut und Enttäuschung Hand an sein Leben legen und damit die Geschichte zu einem erwünschten Abschluß bringen. Frank Nord war der Einzige, der Paulo Schaden bringen konnte. Lag er erst tot im Leichenhause, so hatte Paulo leichtes Spiel; dann gab es keinen mehr, der ihn verklagen, ihn wegen Elst's Raub zur Rechenschaft ziehen undjetzt da er reich geworden, sein altes Sündenregister der Welt bekannt geben würde. Wäre er nur in jener Nacht auf der Wolstoner Brücke in die ihm gestellte Falle gegangen!
Frank Nord's Tod schien ihm der einzige Ausweg aus diem Netze, welches ihn gegen seine Berechnungen ganz zu umspinnen schien. Er wagte sich nicht mehr aus dem Hause, denn man suchte »eifrig in Paris nach ihm, und er fand seinen Namen, sowie seine und Elfis Personalbeschreibung tu den gelesevsten TagcSblättcrn. ES war gut, daß er in Paris war, daß der erste Stock, den er bewohnte, nach franzöfifcher Mode, in jeder Hinsicht als sein eigenes Haus galt, in welches Niemand Zutritt halte, als der Agent des Hausbesitzers , um dir Miete zu erheben. Und dieser konnte ihn als einen Herrn Johnson und schätzte ihn wegen der Pünktlichkeit seiner Zahlungen. Die Bewohner der übrigen Stockwerke wußten nichts von ihm, und Dienstboten, die ihn hätten verraten können, besaß er nicht. Frau Baretti besorgt: allein den kleine» Haushalt; sie befürchtete, ihr Galle gebe zu verschwenderisch fein Geld aus, ohne an das „morgen" zu denken, und bestand darauf die Dienerschaft zu entlassen.
(Fortsetzung folgt.)
Merk's.
Ein wenig Rücksicht von beiden Seiten, Das überbrückt die schroffsten Weiten. Wer nur die eigenen Wege kennt,
Geht den, der Glück und Frieden trennt.
Maktia«, Drrck und Verlag vou Le ruh. Hofmaou iu WUbbab.