Hin Waterhsrz.
Roman in Origtnalbearbeitung nach dem Englischen von Clara Rheinau.
03) (Nachdruck verboten.)
Ziemlich in der Nähe, Mademoiselle. Er hat eine große Praxis in unserm Viertel, denn er macht keine große Rechnungen und nimmt sein Geld — Gott vcrgelt's ihm — wenn wir eS am besten entbehren können. Andere wollen sofort bezahlt sein, aber er ist sehr gut in diesem Punkte, darum holen wir auch ihn immer."
„Das ist ganz schön; aber er ist vielleicht kein geschickter Arzt — seine Art gefällt mir nicht."
„Ah — hm — ein wenig unfreundlich, 'S ist wahr; und wenn er wegen unserem Sterben sich auch manchmal irrt, nun dann sind wir ihm um so dankbarer, wenn er uns noch einmal durchreißt."
„Ich verstehe und freue mich, dies zu hören. Kommen Sie jetzt mit mir herunter."
Mvre Charamanre folgte Helene die Treppe hinab und fragte sich im Stillen, was diese Engländerin nun wohl im Sinne haben möge. In dem kleinen Zimmer der Hauswirtin schrieb Helene hastig ein Billet. „Sie werden gewiß noch einen Gang für mich thun," sagte sie, „und für den Kranken, dem wir Alle ja jo gern dienen. Wir müssen den besten, den allerbesten ärztlichen Rat für den Besten der Menschen haben."
„Ah, Mademoiselle ist seine Braut," rief die lebhafte Französin, plötzlich den Ernst der Lage vergessend und energisch in die Hände klatschend.
»Ich sehe schon; 'S ist alles klar." „Frau, Sie sind thöricht," ries Helene heftig.
„Aber," bemerkte die Andere, „das ist hart, aber möglicherweise richtig," fügte sie nach kurzer Ueberlegung bei, „denn nur thörichte Frauen arbeiten für nichts und füllen ihre Zimmer mit Fieberkranken, vor welchen ehrliche Mieter die Flucht ergreifen."
„Sie werden Ihren Schaden ersetzt bekommen."
„Tausend Dank, Mamsell I Aber es geschah nicht des Geldes wegen, daß ich für diese beiden Männer Sorge getragen."
„Ich glaube Ihnen — Sie sind eine gute Frau."
„Dies war Monsieur EharamanteS Ansicht bis zum letzten Tage seines Lebens," bemerkte die Französin mit großer Selbstgefälligkeit; „und er mußte es doch am besten wissen, der Gute."
„Sie werden diesen Brief in mein Hotel besorgen," sagte Helene; „dort wird man Ihnen die Adresse deö berühmtesten Arztes von Paris geben. Suchen Sie ihn auf und Überbringer, Sie ihm dies Billet. Keine Summe wird mir zu groß sein, wenn er sogleich mit Ihnen kommt."
„Demnach sind Sie reich — sehr reich, Mademoiselle?"
«Ja, sehr reich —wie man sagt. Eilen Sie, Madame."
Möre Charamante hastete von dannen, und Helene kehrte in das Krankenzimmer zurück.
„Sie sind also entschlossen, ihn zu Pflegen ?" fragte der Doktor. „Sic wissen gewiß, daß Sie dieser Aufgabe gewachsen sind?"
„Ganz gewiß."
Der Arzt zog ein kleines Fläschchen aus
der Tasche und reichte rS Helene. „Lasten Sie ihn dies sogleich nehmen. Ich werde in einer halben Stunde wiederkommen und ihn zur Ader lassen, wenn er nicht ruhiger geworden ist, schlägt auch dies fehl — wie ich fürchten muß," fügte er bei, sich seiner früheren Prophezeiung erinnernd, „dann ist es vorbei mit meinem früheren Patienten."
„Ich Zweifle nicht an Ihrer Kunst," sagte Helene nun mit fester Stimme, „aber ich möchte noch einen zweiten Arzt hören, ehe man den Kranken zur Ader läßt."
„Wie Moidemoisellc wünscht," versetzte Doktor Gravat mit einer Verneigung; „aber ich habe bei Hunderten derartiger Kranken den Aderlaß angewcndet."
„Ich habe bereits nach einem weitern Arzte geschickt."
„Den besten Arzt in diesem Viertel haben Sie," dies darf ich wohl sagen," versetzte Doktor Grawat, sich abermals verneigend, „und wenn Sie vielleicht zu Monsieur Legrange in der nächsten Vorstadt geschickt haben, so kann ich Ihnen nicht vorcnthaltcn, daß er einfach ein Quacksalber ist, dem ich nicht einmal das Leben einer Gans anvertrauen würde; Madame Charamante hätte Ihnen besser raten sollen,"
„Ich nehme unendliches Interesse an dem Kranken," sagte Helene leise und nicht ohne Rücksicht auf die Gefühle des Arztes, „und ich kann ihn nicht der Sorge eines Einzigen anvertrauen, so geschickt dieser tn seinem Berufe auch sein mag. Ich habe nach dem berühmten Arzte in Paris gesandt."
„Wir haben sehr kostspielige Aerzte hier," bemerkte Gravat ironisch. „Der Besuch eines solchen würde tausend Francs kosten."
„Ich würde gerne hunderttausend geben."
„Sie — Sie würden hunderttausend Francs geben? Sie sind also nicht arm, wie jene Beiden, sondern eine reiche Ander, wandte, die — man herbeigerufen. Sie haben nach dem berühmtesten Arzt der Hauptstadt geschickt, — das wird Mafont sein, wenn er sich überhaupt herbeilößl, hierher- zukommen. Mademoiselle, ich liebe meinen Beruf und ehre jene, welche ihn in unserem Lande berühmt gemacht; erlauben Sie, daß ich die Ankunft Doktor Mafont's hier erwarte. Vielleicht wäre eS auch gut, nicht gleich bei ihm zu erwähnen, daß ich von einem Aderlaß gesprochen habe. Ah, der große berühmte Mann l" Er zog seinen Stuhl vor das Feuer, wärmte seine Hände an der Glut und erwartete geduldig das Kommen seines berühmten Kollegen, dem der Erfolg geworden, nach welchem er selbst so eifrig, aber vergebens gestrebt hatte. Gravat arbeitete angestrengt für seinen LebenSunter- halt und war wohl bekannt in den Vorstädten rings um seine Wohnung, er hatte längst die Hoffnung aufgegeben, berühmt zu werden. „Wer ist sic?" fragte er Antonio, gewohn- hiitShalber des jungen Mannes Puls fühlend, der bis vor kurzem noch selbst zu seinen Patienten zählte.
„Die einzige Freundin, die uns geblieben," war die Erwiderung; „mir schien, sie kam wie ein Engel in unsere Mitte."
„Eine sehr energische und — sehr reiche Dame, Monsieur Barelti; sie ruft den großen Mafont hierher, aber ich fürchte, er wird nicht kommen, selbst nicht für den Preis, den sie zahlen kann."
„Ruhe!" rtef Heleue, die den Platz neben
neben dem Krankenlager eingenommen, „er
schlummert jetzt."
„Ruhe, ja, das ist notwendig. Bitte, sprechen Sie nichts» mir, HerrBaretti," sagte der Doktor nun ganz demütig uud folgsam. Er geriet in große Erregung, als man das Rollen von Wagenrädern auf der engen, schlecht gepflasterten Straße hörte und deutlich vernahm, wie Möre Charamnte in ihrem gewöhnlichen scharfen, schneidenden Tone dem Kutscher ihre Anordnungen zurief. Der Wagen hielt an, und wenige Minuten später öffnete sich die Thür; ein schmaler, ernst aussehender Herr erschien in der Stube, der Reihe nach die Anwesenden musternd, als sein Blick auf Helene haften blieb. „Fräulein Dertng, wie ich vermute?" sagte er mit einem Lächeln, welches seine ernsten Züge sehr einnehmend machte, „die Schreiberin eines eigentümlichen, ernsthaften BilletS an mich, dem ich nicht umhin konnte, Folge zu leisten. Ich bin Doktor Mafont."
„So habe ich ihn denn gesehen." murmelte der arme Gravat. „Blicken Sie her, Herr Barelti, der größte Mann Frankreichs ist in der Stube."
„Ich werde ihn dafür halten, wenn er unfern Oberst rettet," versetzte Antonio.
Doktor Mafont studierte seinen Patienten mit Aufmerksamkeit, von den Augen eines eifrigen Schülers aus der Ferne beobachtet, und wandte sich dann wieder Fräulein Dc- ring zu. „Ich werde etwas verschreiben, das Sie, bitte, sogleich machen lasten; sollte aber das Fieber andauern, so würde ich einen Aderlaß vorziehen."
„Ha l" rief Gravat, sich erfreut die Hände reibend.
„Das Gehirn des Kranken scheint sehr überreizt zu sein," fuhr Mafont fort; „ein Aderlaß mag ihn retten. Der Mann ist seit einigen Wochen krank; wer hatte ihn in Behandlung ?"
„Ich, mein Herr," versetzte der arme Kollege deö großen Mannes, mit zitternden Schritten näher tretend, „Doktor Gravat, Ihnen zu dienen."
„Was haben Sie verordnet?" fragte Mafont.
„Ein Kauderwelsch von medizinischen Benennungen folgte, und Dokior Mafont hörte zu, rieb sich das Kinn und blickte von der obersten Staffel seiner Ruhmesleiter auf den bescheidenen Kollegen herab. „Sie hätten nichts Besseres thun können," sagte er. „Der Rückfall ist nicht Ihre Schuld; der Patient ist über seine Kräfte angestrengt worden."
„O, mein Herr — meine Schuld, wie ich fürchte," ries Helene händeringend.
„Beruhigen Sie sich, mein Fräulein. Mit gehöriger Sorgfalt werden wir Ihren Freund noch durchdringen," sagte Mafont ermutigend; „ich habe schlimmere Fälle gesehen, uud dieser Kranke ist sehr kräftig gewesen — einer Ihrer englischen Riesen vermutlich?" Er lachte freundlich, aber Helene fand keinen Grund zum Lachen. Das Rezept war geschrieben, und der große Mann schickte sich zum Weggehen an- „Ich lasse ihn in guten Händen zurück," sagte er sich verneigend zu Helene; doch, wenn nötig, stehe ich wieder zu Diensten, Madame."
„Und Sie glauben, daß er genesen wird?" fragte Helene, ihm daS Geleite gebend.
(Fortsetzung folgt.)
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Skdakiton, Druck und Beilag von Beruh. Hosmaunin Mlbbad.