Gin MaterHerz.
Romen in Originolbearbeitung nach dem Englischen von Clara Rheinau.
3) (Nachdruck verboten.)
2. Kapitel.
Am folgenden Tage bemerkte Frank Nord sogleich, daß sein Schiffer ihn mit tieferem und ernsterem Interesse betrachtete. Die kühle Eröffnung betreffs des Gefängnisses hatte den ehrlichen Mann förmlich niedergedrückt, und er hielt es für hart, möglicherweise einen Taschendieb umherrudern zu müssen. Frank Nord wurde in seinen Augen ein Mann, auf den man scharf aufpassen mußte; seine merkwürdige Offenheit sollte wahrscheinlich nur eine Falle sein, aber Robert Schmitt war auf seiner Hut.
Der Fremde saß heute wieder in tiefe Gedanken versunken, ohne zu rudern im Stern des Bootes. Eine finstere Entschlossenheit prägte sich in seinen dunkeln Zügen aus, er sah nicht aus wie ein Mann, der vor irgend einer Gefahr feige zurückweicht, und dennoch scheute er seine Ankunft in Wolston, als einem Orte, der voll bitterer Erinnerung für ihn war oder in welchem er Glück und Frieden zu finden gehofft hatte, bis der rauhe Fährmann vom Tode und von den Veränderungen, die in fünfzehn Jahren sich vollziehen können, zu reden begonnen. Erst als der Aveny sich plötzlich zu einer jener see- ähnlichen Wasserflächen erweiterte, die man in den östlichen und nordöstlichen Teilen Englands mit dem Namen „Broad" bezeichnet, da schlug er mit der flachen Hand auf sein Knie und lachte laut.
.Robert Schmitt, Sie sind das armseligste Geschöpf auf Erden I Ich wollte, Sie wären in Chestwich ertrunken, ehe mir Ihre häßliche Physiognomie vor Augen gekommen. Die Nords von Wolston nicht zu kennen ! Jedermann wird ihren Namen hier kennen; denn Wolston ist seit Generationen das Heim der Nords; und ihr Heim soll es bleiben, denn ich bin für immer zurückgekommen.*
Robert Schmitt enthielt sich jeder Erwiederung aus diese aufgeregte Rede, fühlte sich aber ungemein erleichtert, als sein Passagier eine Börse aus der Tasche zog. .Hier ist ein Sovereign, (1 Sovereign — 20 Mark,) für die Reise, Schmitt, und drei Thaler für die Rücksahrt — eine Summe die meiner Freigebigkeit überlassen war; und dieser zweite halbe Sovereign — für was mag dieser sein ?* Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, und Schmitt blickte verlangend nach dem glitzernden Goldstück.
„Für mich, hoffe ich,* rief er rasch und laut.
»Ja, für Sie, Schmitt, damit Sie sagen, „Alles Glück, für Frank Nord, und möge er am Ende seiner Reise seine liebsten Hoffnungen verwirklicht finden!"
Der Fährmann wiederholte voll Eifer die Worte seines so freigebigen Passagiers und barg vergnügt auch dieses Goldstück in die Tasche seiner roten Weste.
„Liebes, altes Wolston!" sagte Nord, als er sich anschickte, den Tornister wieder umzuschnallcn; „nicht im geringsten hat es sich verändert. Es scheint mir gerade, als wäre ich erst gestern hier gewesen, Schmitt; und all dieses Leben und Lärmen bringt mir die alten Zeiten so nahe, daß ich ihre
Stimmen in meinem Herzen Vernehmen kann, Sckmitt.*
Robert Schmitt zweifelte nicht an dieser Möglichkeit, aber jetzt da er ausbezahlt war, hatte er alles Interesse an seinem seltsamen Passagier verloren und bedauerte es nicht, daß das Ende ihrer Reise so nahe war.
Ein heiteres Leben und Treiben herrschte an diesem Morgen in Wolston. Aus den Fenstern der Schenke flatterten zahlreiche Fahnen, und an dem Ufer wie auf der eisernen Zugbrücke, welche mit der Hauptstraße in Verbindung stand, drängte sich eine vielköpfige Menge. In diesem Augenblick ertönte ein Flintenschuß, die Segel der Dachten welche sich um einen Preis bewarben, blähten sich im Winde, und am Ufer und auf dem Flusse herrschte große Erregung, als jetzt die erste Wettfahrt des Tages begann. Aber Frank Nord achtete alles dessen nicht, er lauschte den Stimmen der Vergangenheit; war doch die Stunde gekommen, wo er das Schicksal jener erfahren würde, zu denen sein ganzes Herz ihn hinzog.
„Die „Elsie" wird gewinnen,* rief Sckmitt in dem Boot in die Höhe springend. „Fünf Thaler gegen einen, die „Eiste* trägl den Sieg davon-*
„Die „Elsie* — wie?* fragte Nord; „ist dies der Name?"
„Ja; er steht in goldenen Lettern an der Seite."
»Ich nehme es als ein Zeichen, daß die „Elsie* meines Herzens sich hier befindet," sagte Nord. „Warum bleiben Sie nicht sitzen und rudern an das Ufer?"
„Wie Sie wollen, Herr; nach der Schenke oder sonst wohin?"
„Weg von der Schenke," rief der Andere rasch; „nach der linken Seite des langen Teiches. Auf dem alten Weg durch die Binsen kann ick diese Leute Vermeiden."
„Abrr ich kenne den Weg nicht, ich bin kein Wolstoner, wir ich schon früher sagte."
„So rudern Sie hinüber, ich werde Ihnen denselben zeigen."
Schmitt folgte der angegebenen Richtung, und das Dorf Wolston — oder wenigstens der größere Teil desselben, der auf der linken Seite der Zugbrücke lag — erschien ihnen bald wie eine schöne Landschaft jenseits des Flusses. Schmitt ruderte eine Strecke weiter zwischen den hohen Binsen hindurch, und dann lag vor ihren Augen das große weiße HauS des Friedensrichters Friedrich Dering mit einem Rasenabhang, der sich bis an den Rand des Wassers hinunterzog und von einer heiteren Gesellschaft, welche von diesem Rasenplatze aus voll Interesse der Wettfahrt auf dem Wasser zuschaute, belebt war.
„Eine hübsche Gruppe," sagte Nord, einen Augenblick die Gesellschaft* beobachtend, „Dering sollte in ihrer Mitte glücklich sein, wenn er überhaupt diese Fähigkeit besitzt, was ich sehr bezweifle. Und nun leben Sie wohl, Robert Schmitt, glückliche Reise nach Chestwich l*
Er war an's Ufer gesprungen, ehe das Boot nur angelegt halte, und der Schiffer blickte ihm kopfschüttelnd nach. „Ein toller Mensch!" murmelte er vor sich hin und stieß vom Ufer ab, um die Heimfahrt anzu- lreten.
Inzwischen war Frank Nord auf dem einsamen Wege weiter geeilt, bis er die Landstraße errichte. Mit der Hand auf dem
Gltterthore, das zu der Kirche und zum Friedhöfe von Woston führte, überfiel ihn eine plötzliche Bangigkeit, und er zögerte einzutreten.
„Soll ich?" murmelte er leise. „Wird mir dadurch rascher Gewißheit werden?"
Unentschlossen verweil« er noch einige Minuten außerhalb des ThoreS, dann öffnete er rasch und schritt langsam den Kiesweg entlang. „Ick bin niemals ein Feigling gewesen," sagte er vor sich hin. „Bester hier, als vor aller Augen in Wolston, wenn eS das Schlimmste ist — aber dies wird, dies kann eS nicht sein."
Der Friedhof von Wolston war klein, aber viele Generationen lagen darauf begraben. Die altertümliche Kirche mit ihrem seltsamen runden Turme und ihren verwitterten Grabdenkmälern lockte im Sommer viele Fremde an; besonders waren eS die Badegäste -aus dem nur wenige Stunden entfernten Kurorte Barstoft, welche das kleine Wolston im Sommer häufig zum Ziel ihrer Ausflüge machten.
Frank Nord ging um die Kirche herum und hielt vor einigen Grabsteinen inne, um das lange Gras, das die Inschriften überwachsen, bet Seite zu schieben. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr ihm, während er sich fest und stramm wieder aufrichtete. Es war keine neue Inschrift hin- zugekommen, seitdem er das letztemal hier gestanden und das Liebste, was er auf Erden besaß, in das dunkle, stille Grab hatte versenken sehen. „Zum Andenken an Elfte Nord, die geliebte Gattin von Frank Nord in Wolston. 22 Fahre alt." Die Elsie, ihre Tochter und die seinige, wegen deren er Tausende von Meilen gereist war, ruhte nicht hier. Dem Himmel sei Dank! Wäre sie nicht mehr am Leben, so hätte man sie an ihrer Mutter Seite zur ewigen Ruhe gebettet.
„DaS ist gut, daS ist gut," kam eS zweimal von seinen Lippen.
Mit verschlungenen Händen, das gefurchte Antlitz von tiefer Rührung bewegt, verharrte er regungslos vor dem Grabe, bis der Schlag der Turmuhr, welche die erste Stunde des Nachmittags verkündete, ihn aufschreckte. Er wandte sich ab und eilte raschen Schritt-S dem AuSgang zu. Hier erregte ein neues, sehr prunkvolles Grabmal seine Aufmerksamkeit, und er las im Vorübergehen die Inschrift; sie bezeichnet- die letzte Ruhestätte von Sophie Dering, der Gattin Friedrich DcringS von Wolstonhaus. „Sonderbar," dachte der Reisende, „daß auch er Witwer ist, gleich mir. Ich wußte nicht einmal, daß er verheiratet war. „Hm l Vielleicht hat der Tod seiner Frau ihn zu einem bessern Menschen gemacht, als mich der Verlust meiner Elsie. Um den Verstand konnte er ihn nicht bringen, denn er hatte keinen; und doch — jenes große HauS kostet Geld, und heutzutage hält es schwer, ohne Verstand sich Geld zu verschaffen. Ich werde seine Geschichte bald erfahren."
Frank Nord hatte jetzt endlich das ersehnte Ziel seiner Reise erreicht. Ein kleines schilfgedecktes Haus, von vielen Bäumen umgeben , etwas abseits an diesem Ende des Dorfes stehend, war eS, vor welchem er inne hielt, während sein Herz zum Zerspringen pochte und ein Thränenschleier seinen Blick verdunkelte.
(Fortsetzung folgt.)
Redaktion, Druck und B erlag von Bernh. Hosmannin Wildhqd.