Die Abgründe.

Novelle von F. Stöckert.

20) (Nachdruck verboten.)

Er lebt!" wie ein erlösender Aufschrei kam es von ValeniinenS Lippen, und dann brach unaufhaltsam ein Thränenstrom aus ihren Augen. Kopfschüttelnd sah ihr Vater sie an, langsam ging ihm ein Verständnis aus von dem, was da in ihrer Seele vorging. Nun wohl ihr, daß sie weinen konnte, Thränen sind die größte Wohlthat nach solchen Stunden seelischer Spannung und Aufregung.

Lege Dich hier hin," sagte ihr Vater, sie nach einem Sopha führend, «und weine und ruhe Dich aus I"

Sorglich legte er eine Decke über die ihm willenlos folgende Tochter, und verließ sie dann, die Thür hinter sich zuschließend, damit sie durch nichts gestört wurde.

9.

Tiefer Frieden lag über dem kleinen Landhause, in welchem Erica jetzt wieder weilte. Im Hellen Morgrnkleide schritt sie heute, an einem köstlichen Frühlingsmorgen, durch den Garten, überall grüßten sie liebe, bekannte Blumen: Veilchen, Crocus, Nar­zissen , ihr junges Gesicht aber war nicht mehr so frühlingshell, wie es sonst gewesen, ehe sie Staufen nach der Residenz gefolgt. Zweifel darüber, ob sie recht gethan, ihn ohne Abschied zu verlassen, Reue, Sehn­sucht, alles das hatte sich eingegraben in ihre weichen Züge, mit dem sorglosen Blumen­leben , da war es nun einmal vorüber für alle Zeit, nun des Schicksals Hauch auch ihre reine Stirn gestreift.

Sie wußte, daß ihre Mutter Staufen eingeladen hatte. O daß er käme! Wie gern wollte sic all seine harten Worte ver­gessen, und alles versuchen, ihn glücklich zu machen. Wahre Liebe vermag ja viel, und ach, sie lieble ihn doch so sehr, erst jetzt, seit sie getrennt durch ihre Schuld, ihre Uebereiiung, war es ihr so recht klar geworden, wie er doch allein ihres Lebens Glück und Stern. Immerfort sah sie sein blasses, nervöses Gesicht, er bedurfte gewiß so sehr der Pflege, der Ruhe, und wer sollte ihn weiter pflegen wie sie?

Auf der Veranda, die nach dem Garten hinausführte, ordnete das Mädchen jetzt den FrüstückStisch, steckte die Spiritusflamme der Kaffeemaschine an und legte die eben ange­langten Zeitungen hin.

Erica Halle Veilchensträußchen gepflückt, einen Morgengruß für ihr Mütterchen, die da jeden Augenblick mit ihrem weißen Häub­chen und dem Strickkörbchen am Arm heraus­treten mußte. Sie legte die Blumen neben die Taffe der Mutter und setzte sich, die Zeitungen unterdes , bis sie erschien, ein wenig durchzusehen.

Theaterbrand in W. las sie. W., das war ja die Vaterstadt ihres Mannes. Wie manches Mal hatte er ihr davon erzählt, mit lebhaftem Interesse las sie weiter: Das SchauspielDie Abgrünge" waren zum ersten Mal im Theater W. gegeben worden und der Dichter deS Stückes, ein Sohn der Stadt, war zu der Aufführung aus der Stadt gekommen. Leider habe man in ihm den einzigen Verunglückten zu beklagen, in dem Gedränge und der Finsternis sei er ge­stürzt.

Erica war leichenblaß geworden, sie hatte keinen Blick mehr für das liebliche Bild des stillen Gartens, der herrlichen Landschaft mit dem in der Morgensonne glitzernden Rhein. Vor ihren Augen erstanden andere Bilder, Bilder des Schreck.-ns, der Verzweif­lung , Feuer und Rauchwolken. Flammen züngelten empor zum nächtlichen Himmel, Menschen drängten sich und stürzten in wilder Aufregung hinaus aus dem Thcater- gebäude, wo sie Unterhaltung gesucht, und ln dem Gedränge hob man einen Mann auf, ihren Mann! Leblos, blutüberströmt wurde er auf eine Bahre gelegt! So lautete der Schluß des Berichtes.

Jmmea wieder starrte sie auf die grau­sammen Worte: «Leblos, blutüberströmt!"

Sie bemerkte eS nicht, daß die Kaffee­maschine überkochte, und das braune Naß sich über die weiße Serviette ergoß, hörte nicht, wie die Thür geöffnet wurde und ihre Mutter jetzt heraustrat.

Erschrocken blickte die alte Dame auf ihre Tochter.

«Gott im Himmel! Was ist geschehen?" fragte sie, indem sie zu der jungen Frau herantrat.

«O Mutter, Staufen! Es ist so furcht­bar," stammelte sie, «leblos, blutüberströmt, hier steht cS."

Die Frau Rätin griff nach der Zeitung und las den Bericht. Auch sie war tief er­schüttert, aber doch nicht so ganz hoffnungs­los wie Erica.

«Du wirst natürlich hinfahren," sagte sie.

Gewiß!" rief Erica und sprang auf, so schnell wie möglich. O, ich will ihn pflegen, will unablässig den lieben Gott bitten, daß er ihn mir erhält, denn Mutter, Du kannst es glauben, er ist kein schlechter Mensch, wenn er auch das schreckliche Stück geschrieben hat, das das ihm nun zum Verderben wurde," setzte sie leise wie schau- dernt hinzu.

Schon nach kaum zwei Stunden be­fanden sich beide Damen in dem Zuge, der nach W. führte. Die Frau Rätin hatte sich nicht ensschließen können, Erica allein die traurige Reise machen zu lassen, da man doch nicht wissen konnte, wie man alles finden würde. Im günstigsten Falle, wenn es sein Zustand zulteß, gedachte sie Staufen gleich mttzunehmen, aber er konnte ja ein Sterbender sein, vielleicht schon tot. Be­kümmert blickte sie auf Erica, während solche Gedanken sie beschäftigten; auch auf deren Gesicht lagen die Schatten der Sorge, der tnnern Angst; keine aber wagte, um die andere nicht zu beunruhigen, solchen trüben Gedanken Worte zu geben, so wurde die Fahrt den ziemlich schweigsam zurückgelegt.

Ihr Ziel war jetzt erreicht, im rosigen Schein der Abendsonne lag die freundliche Stadt vor ihnen. Ueberall war ein Blüten und Duften, weißer Blütenschnee auf den Bäumen, dazu zwitschernde Vogelstimmen, eine Nachtigall schmetterte im Gebüsch und doch in all dieser Frühltngsschönheil gab Se auch so großes menschliches Elend.

Da lag, jäh heruntergestürzt von seiner stolzen Höhe, Staufen im heftigen Fieber auf seinem Krankenlager. Der Sanitötsrat fürchtete eine Gehirnentzündung, die weniger durch den Fall oder die Slirnwunde ver­ursacht sei, sondern hauptsächlich durch Ueber-

reizung deS Gehirns, durch Aufregungen und das ganze ruhelose Treiben der Resi­denz. Schon längst hätte er dieser den Rucken wenden und irgend ein stilles Fleck­chen Erde in schöner Natur aufsuchen müsf n, diese Fahrt hierher wäre für seinen Zustand geradezu verderbenbringend gewesen.

(Fortsetzung folgt.)

Neueste Nachrichten.

Liebenzell, 22. Juni. Gestern vormit­tag um 9 Uhr begannen vor dem Schwur­gericht in Tübingen die Verhandlungen in der bekannten Mordaffaire. Die des Galten- mords beschuldigte frühere Löwenwirtin Faas bestritt jede Schuld und giebt an, daß auch ihr Vater unbeteiligt gewesen sei. Gestern wurden 18 Zeugen vernommen, während auf heute Freitag 30 vorgeladen sind. Unter den heutigen befinden sich zwei gewichtige Zeugen, welchen die Faas zugestanden habe, daß ihr Vater der Mörder gewesen sei; es sind dies der zweite Mann der Angeklagten, ein Arbeiter Buchmann aus Offenbach, sowie ein Friedrich Erhardt aus GleiSzcllen. Der Andrang zu der Ver­handlung seitens des Publikums ist ein außergewöhnlicher.

Tübingen, 22. Juni. Die Gatten­mörderin Marie Faas von Liebenzell wurde heute abend nach dreitägiger Verhandlung, nachdem in der SchwurgertchtSsitzung vom 5.7. März 1894 wegen desselben Reats Freisprechung erfolgt war, zum Tode ver­urteilt.

London, 23. Juni. General Buller meldet aus Kaatbofch unterm 22. Juni: Die Infanterie ist, nachdem sie 22 Meilen marschiert war, heute hier eingctroffen. Die Kavallerie besetzte Stanterlon, ohne Wider­stand zu finden. Der Feind ist gestern ab­gerückt. nachdem er die Etsenbahnbrücke in die Lust gesprengt und noch weiteren Schaden angrrichtet hatte.

London, 23. Juni.Daily Chronicle" meldet aus Paardekop von gestern: Die Schiffsbrigade vom KriegsschiffForte" wurde abberufen. (Infolge der chinesischen Wirren die also hier ihren Einfluß auf den Buren- krieg erkennen lassen.)

Berlin, 23. Juni. Der deutsche Kon­sul in Tschifu telegraphiert: Die Verluste desJitis" betragen 7 Mann tot, darunter Leutnant Hollmann; 14 Mann verwundet, darunter der Kommandant schwer. Wir haben jetzt täglich Kriegsschiff-Verbindung mit Taku.

Ein weiteres Telegramm von gestern besagt: Die Beschießung der Niederlassungen in Tientsin dauert fort. Die meisten Ge­bäude stad niedergebrannt. Vom Entsatz­korps und aus Peking liegen keine Nach­richten vor.

Berlin» 23. Juni, nachm. Der hies. chinesische Gesandte teilte dem Auswärtigen Amt mit, daß der deutsche Gesandte in Pe­king sich in Sicherheit und wohl befinde.

Humoristisches.

.-. (Moderne Dienstboten.)Du, Leni, bist du mit deiner neuen Gnädigen zufrieden?" I wo I ... Die tritt zum Beispiel in die Küche, ohne vorher anzuklopfen I"

(Aus der Kaserne.Was, das Kom- mißbrot schmeckt euch nicht? Ich werde euch schon Patriotismus beibringen!"

Redaktion, Druck und Verlag von Beruh. Hosm » nu in Wildbad.