Die Tochter des Meeres.
Roman von A. Nicola.
(Nachdruck verboten.)
93 .
I-XIV.
Lady Marian Biddulph, jetzige Gräfin von Marston, hatte ihre Angelegenheiten geordnet. Alles war zur Abreise bereit und ihres Vaters Leiche sollte in ihre letzte Ruhestätte beigesetzt werden.
Sie schien sür Alles, was rings um sie vorging, kalt und gleichgiltig zu sein. Sogar die alte, treue Haushälterin, Frau Aston, konnte sich nicht damit rühmen, daß sie den Grund des auffallenden Wechsels in Fer Haltung ihrer jungen Herrin kenne.
Es war am Abend vor dem Tage, an welchem der ganze Haushalt die Villa verlassen sollte, die sich als so nutzlos für die Genesung des Kranken erwiesen hatte-!
Lady Marian hatte ihre letzten Befehle erteilt, und sich in einen warmen Mantel hüllend,' verlnß sie ihr Zimmer, um in einer langen Promenade in den lauschigen Gängen, die ihr seit ihrem Aufenthalte hier so lieb und wert geworden waren, Erleichterung zu suchen.
Frau Aston traf sie an der kleinen Seitenthür, die in ihren Liedlingsgarten führte.
„Meine liebe Lady," bat sie, „bitte, gehen Sit an diesem trüben Abend nicht aus. Wozu auch, da wir so bald forkgehen, um wohl nie wieder zurückzukehren? Und es ist wirklich hohe Zeit dazu, denn hier kümmert sich Niemand mehr um Sie."
Die junge Erbin lächelte matt und sagte:
„Sie mögen Recht haben, liebste Aston . . . aber wir reisen morgen ab und ich will die schöne Umgebung noch einmal genießen."
Und mit freundlichem Lächeln und Kopfnicken ging sie weiter, und war im nächsten Augenblick den Blicken der treuen Dienerin entschwunden.
Sie eilte rasch vorwärts, denn die Dunkelheit mußte bald einbrechen, und sie wollte noch all den Plätzchen Lebewohl zu sagen, dir >hr während ihres Aufenthaltes in Cannes die liebsten gewesen waren.
Das interimistische Grab ihres verstorbenen Vaters und die Stelle auf welcher sie Rupert Falkner zum letzten Male begegnet, waren die Plätze, die sie am meisten interessierten.
Kein Wort von dem großen Wechsel in dem Schicksale des jungen Fremden war zu ihr in die Abgeschlossenheit gedrungen; sie dachte nur an ihn als an Jemand, der einen eigentümlichen Zauber auf sie ausgeübt hatte, und für dessen Liebe sie gern Rang und Reichtum hingegeben hätte. Und wenn ihre Gedanken bei Anderen verweilten, die ihren Lebensweg gekreuzt hatten und vielleicht nickt ohne Eindruck auf ihre jugendliche Phantasie gewesen waren, so schwanden diese doch wie flüchtige Phantome vor dem lebhaften Bilde dieses Letztgenannten und vor den traurigen Begebenheiten der jüngst verflossenen Zeit.
Endlich erreichte sie die wohlbekannte Stelle; fast erwartete sie die Gestalt des hübschen Fremden auf sich zukommen zu sehen, wie an jenem denkwürdigen Tage, den sie nicht wieder verg.ssen konnte.
Konnte es ein Gebilde ihrer Phantasie sein, oder war es eine Verwirklichung ihrer
Träume, die ihrem Auge sich darbot, als sie den Eingang des schmalen Thals erreichte?
Doch gewiß . . . dort war eine Gestalt, welche der Größe nach wohl der junge Unbekannte sein konnte. Aber sie wandte ihr den Rücken zu und Marian schlich sich leise und geräuschlos näher, als fürchte sie, die Erscheinung könne verschwinden, oder es erwarte sie Enttäuschung, wenn sie dem fremden Besucher näher käme.
Aber das Rauschen der welken Blätter unter ihren Schritten zog die Aufmerksamkeit der auf den grünen Rasen zurückgelehnten, regungslosen, und wie es schien, schlafenden Gestalt auf sich.
Der Fremde hob rasch den Kopf; dann sprang er auf, und . . . „Ernst! . . . Marian!" kam es zu gleicher Zeit von den Lippen der jungen Gräfin und des Gefährten ihrer Jugend.
Lord Ernst Belfort war es. Er hatte sich, seit sie einander nicht gesehen hatten, viel mehr verändert, als das Mädchen selbst, und Marian erkannte sofort, daß er nicht mehr der oberflächliche, ungestüme Jüngling wie früher war.
„Wie freue ich mich, daß Sie in Sicherheit sind, Ernst," sagte Marian, die sich rascher gefaßt hatte, als ihr Gefährte. „Aber cs ist allerdings eine große Ueberraschung, Sie hier zu sehen."
„Ebenso für mich, Sie zu sehen, Marian," enigegnete er rasch. „Mir sind so lange alle Mittel, etwas von der Außenwelt zu hören, abgeschnitlen gewesen, daß ich keine Ahnung davon hatte, daß Sie so fern von Ihrem eigenen Heim und daß Sie in tiefer Trauer sind," setzte er mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung hinzu. „Sie stehen doch nicht . . . allein?"
„Ich bin elternlos," enigegnete sie ruhig, „und stehe jetzt sehr vereinsamt da."
„Es thut mir leid, sehr leid," versetzte er ruhig. „Früher hätte ich Ihnen zum T^ost leicht etwas mehr als Teilnahme zeigen können . . . aber jetzt bin ich selbst hülf- los und habe nichts als Worte des Beileids."
Ein stolzer, mißtrauischer Blick traf ihn aus den Augen der jungen Gräfin.
„Soll ich daraus schließen, daß Sie Lord Belfort, der Nachkomme eines alten, edeln Geschlechtes, eine namenlose Abenteuerin geheiratet haben? Der Gedanke, daß der Freund meiner Jugend so schwach und un würdig gehandelt haben sollte, würde mir weh thun."
„So glücklich bin ich nicht, Lady Marian," sagte er kalt. „Eora ist nicht so leicht zu gewinnen, und ich habe ihre Ansprüche besser achten gelernt, als daß ich ihr wünschen möchte, einen befleckten und entehrten Namen anzunehmen. Ich bin aber jetzt bemüht, Coras gegenwärtigen Aufenthalt ausfindig zu machen, um ihr einige Hoffnung einzu- flößen, daß ihre Herkunft doch noch aufgeklärt werden wird, bevor sic irgendeines der unschätzbaren Wertstücke aus den Händen giebt."
Die junge Gräfin schreckte leicht zu« sammen.
„Wollen Sie damit sagen," fragte sie, „daß Sie etwas wissen, was sich auf ihre Herkunft bezieht?"
»Ich hoffe, daß cS eine Möglichkeit gibt, sie zu entdecken."
„Aber warum zeigen Sie so großes Inte
resse dafür," fuhr er fort. „ES kann der hochgeborenen Erbin von Biddulph wenig daran gelegen sein, wer die wirklichen Angehörigen eines armen Findelkindes sind. Und doch coursteren hier in der Gegend seltsame Gerüchte über ganz wunderbare Ereignisse. Haben Sie schon gehört, daß Graf Treville in Cora'S erstem Beschützer einen lang verlorenen Sohn wieder erkannt hat, der auch bereits mit Nelta Faro vermählt ist?"
Marian's Lippen erbleichten bei dieser Mitteilung. Sie war auf den Schlag, den Netta's Heirat vielleicht auf ihre angegriffenen Nerven ausüben würde, vorbereitet. Sie fühlte nur zu gut, daß sie Rang und Reichtum geopfert haben würde um des Mannes willen, der nach der Enttäuschung, die ihre Liebe erlitten hatte, nicht ohne Einfluß auf ihr Herz geblieben war. Doch die Mitteilung, daß eine Verbindung mit dem Manne ihrer Wahl ihr eine glänzende Zukunft geboten hätte, daß er ihr an Rang ebenso gleichgestanden hätte, wie in seinen persönlichen Vorzügen, war eine härtere Prüfung für sie, als sie ungerührt ertragen konnte.
„Die Zeit der romantischen Abenteuer scheint zurückzukehren," erwiderte sic verächtlich. „Vielleicht ist die nächste aufregende Entdeckung, daß Miß Cora die Angehörige irgend eines vornehmen Hauses ist. Aber ich kenne nun zufällig Niemand, der eine Tochter vermißt . . .Sie vielleicht, Ernst?"
Lord Belfort sah sie mit vorwurfsvoller Verwunderung an.
„Ich fürchte, ich bin mit meinen eigenen Angelegenheiten zu sehr beschäftigt gewesen, um viel auf anderer Leute Interessen Acht zu haben," enigegnete er ruhig, „aber jedenfalls werde ich mich bemühen, den Dienst, den Cora mir geleistet hat, zu vergelten."
„Jedenfalls begleiten Sie meine besten Wünsche zum Erfolg Ihrer Bemühungen," lautete der jungen Gräfin spöttische Erwiederung.
Während sie sich zum Gchen wandte, streckte sie Lord Belfort halb die Hand hin, sie dieser in seine beiden nahm und herzlich drückte.
„Leben Sie wohl, Marian ... ich Verstehe ihre Empfindungen besser als Sie selbst. Der Himmel schütze Sie! Und möge Ihnen ein höheres Glück zu Teil werden als der Rang und Reichtum, den Sie so hoch schätzen. Ich kann nie unsere kindliche Liebe vergessen. Wir haben weder Bruder noch Schwester, deshalb sollten wir uns zu einander hingezogen fühlen, um solche Bande zu ersetzen."
Diese sanften Worte erweichten Marians stolzes Herz wohl ein wenig, aber noch war der Schmerz der Wunde, die sie empfangen, nicht gestillt. Mit kalter Zurückhaltung, die sie später bitter bereute, entzog sie ihm ihre Hand mit den Worten:
„Leben Sie wohl, Lord Belfort ... ich meinesteils möchte nur die Vergangenheit mit all' ihren Sorgen und Aergernissen vergessen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Zukunft," setzte sie mit unsicherer Stimme hinzu, als wenn die Rührung einigermaßen die Obrr- hand gewänne.
Und dann entfernte sie sich schnell,
Lord Ernst blickte ihr in trauriger, doch mißbilligender Verwunderung nach.
(Fortsetzung folgt.)
Druck und Verlag von Bernh. Hofmanu in Wildbad. (Verantwortlicher Redaktmr Bernh. Hosmann),