Nr. 199.

Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.

96. Jahrgang.

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Freitag, den 27. August 1920.

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Zur Lage.

Die polnische Gegenoffensive hat im Norden, also an der ostpreutzischen Grenze und im Zentrum, östlich von Warschau, fraglos große Erfolge gezeitigt, während in Gali­zien die Bolschewisten noch immer erfolgreich zu operieren scheinen. Dag die Polen sich nach der Wendung des Kriegs­glücks zu ihren Gunsten nicht zur Annahme der bolschewistischen Waffenstillstands- und Friedensbedingungen geneigt zeigen wür­den, war von vornherein klar. Sie wenden jetzt dieselbe Verschleppungstaktik an, wie vorher ihre Gegner, indem sie von den Bolschewisten verlangen, sie möchten zwecks Verhandlungen nach Warschau kommen, was diese wohl ablehnen dürs­ten. Außerdem wollen sie das völkische Selbstbestimmungsrecht nicht anerkennen, so wenig wie gegenüber Deutschland; denn sie fordern eine strategische Grenze, die wahrscheinlich weit über die ethnographische, d. h. über die durch die nationalen Be­völkerungsverhältnisse gegebene Grenze hinausgeht. Man sieht, die Polen halten sich weder an die amerikanischen noch an die englischen Vorschläge, nach denen das Selbstbestimmungsrecht als Grundlage für die polnisch-russische Erenzregelung gelten soll. Die Russen wollen auf solche Bedingungen natürlich nicht ei.ngehen, und sie haben auch schon den Kampf bis zur Ent­scheidung angesagt. Ob allerdings für diese Kampslosung auch die realen Möglichkeiten bestehen, das möchten wir vorerst be­zweifeln, denn die russische Militärorganisation ist doch mehr oder weniger improvisiert, und hatte nur dadurch Erfolge, daß das polnische Heer ebenfalls nach dem Programm derpolni­schen Wirtschaft" aufgestellt war. Jetzt ist durch Mitwirkung der Entente die polnische Kriegsrüstung und -führung nach modernen Gesichtspunkten durchgesührt worden, so daß die primitiven Methoden der bolschewistischen Kriegführung ver­sagten. Außerdem haben die Bolschewisten auch den von Süden aus ebenfalls mit französischer Hilfe operierenden Gegenrevo­lutionär, den General Wrangel zu bekämpfen. So schnell wird es also mit der Niederwerfung Polens nicht gehen, und das um so weniger als sämtliche Ententemächte fest zu Polen halten, und es auf alle nur mögliche Art unterstützen; denn die Aufrechterhaltüng Polens ist für die Entente eine Lebens­notwendigkeit, weil sie nur dadurch ihre WeltherrsHast auf­rechtzuerhalten vermag. Fällt die polnische Schranke, so ist eine Verbindungsmöglichkeit Deutschlands, Rußlands und Ja­pans gegeben, und damit wäre der Ententegewaltherrschaft ein starker Riegel vorgeschoben. Deshalb wird in allen Ländern der Entente, in Europa wie in Amerika auch immer und immer wieder das Gerücht von einem deutsch-russischen Bündnis ver­breitet, trotz aller deutschen Dementis. Die deutschen Aufforde­rungen, man möchte doch die Beweise dafür veröffentlichen, werden dabei stillschweigend übergangen. Die Hauptsache ist natürlich, daß die Völker der Ententestaaten für jede weitere Gewalt- und Haßpolitik aufgepeitscht werden.

Was wir schon vor der Konferenz von Luzern ge­sagt haben, daß sie nämlich keineswegs die Hoffnung auf irgend welche Uneinigkeiten der Alliierten in bezug auf die einzuschlagende Eesamtpolitik rechtfertige, finden wir heute be­stätigt. Taktisch scheinen England und Italien eine andere Politik bezüglich Europas verfolgen zu wollen als Frank­reich, dessen Ziel eben einzig und allein auf die völlige Einschnürung und dauernde Vergewaltigung Deutschlands ein­gestellt ist, während seine Bundesgenossen heute nicht mehr jenes Interesse an einer Haßpolitik gegenüber Deutschland haben, da sie anderweitig beschäftigt sind. Wenn es aber auf die Verhinderung der Orientierung Deutschlands nach Osten hin ankommt, dann sind alle einig. Das geht deutlich aus der Stellungnahme der beiden Ministerpräsidenten gegen­über den bolschewistischen Friedensbedingungen hervor, die für unannehmbar erklärt wurden, und an die damit im Zusam­menhang stehende offensichtliche Drohnote Englands an den bolschewistischen Vertreter in London. Ganz augenfällig tritt aber die Einigkeit der Alliierten in de: Aufforderung an de» Oberkommissar derfreien" Stadt Danzig in Erschei­nung, die Entladung des für Polen bereitgestellten Kriegs­materials im Danziger Hafen gegebenenfalls durch Truppen und Schiffe der alliierten Mächte sicherstellen zu lassen, falls die dortigen Hafenarbeiter sich weigern sollten, die Schiffe zu entladen. Es wird hier also der Friedcnsvertrag einfach nach dem Willen der Entente um gedeutet, indem man das nach diesem neutrale Danzig einfach .zwingt, die Polen durch Durchfuhr von Kriegsmaterial zu unterstützen. Wenn auf der Luzcrner Konferenz betont wurde, der Friede in Europa müsse dadurch hergestellt werden, daß die Sieger sich

müßigen, und die Besiegten ihren Verpflichtungen Nachkommen, so will man den Franzosen allerdings sagen, daß England und Italien die französische Gewaltpolitik in ihrem eigenen Inter­esse nicht bis zum Äußersten mitmachen, weil sie selbst genug mit sich zu tun haben, daß man aber den Versailler Vertrag unter allen Umstünden ausrechterhalten will. In diesem Sinne haben wir auch die Antwort des französischen Ministerpräsi­denten an seine Kollegien zu verstehen, daß ermit Ver­gnügen" mit den beiden Staatsmännern demnächst in persön­liche Verbindung treten werde. Der angelsächsisch-romanische Weltimpcrialismus ist heute so fest wie je, das mögen sich i n Deutschland jene Phantasten merken, die noch nicht genug an unserem furchtbaren Elend haben. 0.8.

Der Krieg Wische» Rußland und Polen.

Der ruffische Bericht.

Moskau, 26. Aug. (Durch Funkspruch.) In dem Abschnitt Brest-Litowsk sind örtliche Käinpfe mit wechselndein Erfolge im .Gange. Abschnitt Lemberg: Südöstlich der Stadt wird unsere Aktion erfolgreich fortgesetzt. Der Feind leistet Widerstand und geht zum Gegenangriff über. Im Abschnitt Halitsch haben un­sere Truppen den Fluß Gnilaja-Lipa erreicht und kämpfen um den Uebergang. In der Krim, und im Abschnitt Escherson auf dem rechten Ufer des DnjestrS werden die für uns erfolgreichen Kämpfe fortgesetzt.

Moskau, 27. Aug. (Durch Funkspruch.) Russischer Ope- rationsbericht vom 25. August. In den Abschnitten Lomsha und Bialhstok führen unsere Abteilungen Nachhutgefechtc. Im Abschnitt Brest-Litowsk besetzten wir eine Reihe Ortschaften noröstlich von Brest-Litowsk. Im Abschnitt Cholm örtliche Kämpfe. Abschnitt Lemberg: Nachttäglichen Meldungen zufolge brach unsere Kavallerie im Rücken des Gegners durch, erreichte die Stadt Sttyj und vernichtete dort 10 Truppentransporte, so­wie 18 Lokomotiven des Gegners. Abschnitt Krim: In der Gegend von Cherson drängen unsere Truppen nach den in den letzten Tagen für uns'erfolgreichen Kämpfen den Gegner in süd­licher und südöstlicher Richtung zurück. Im Abschnitt Orechow dauern die hartnäckigen Kämpfe mit wachsender Anspannung fort.

Der deutsche Situationsbericht.

Königsberg, 26. Aug. (Lagebericht.) Der polnische Vor­marsch ist anscheinend an der Linie OssoviecByalistok zum Stillstand gekommen. Abgedrängte bolschewistische Abteilungen lagen bis 8 Uhr Vormittags nordwestlich Kowno noch in: Kampfe mit den Polen. An der Zentrumsfront ist die Lage unver­ändert. Oestlich von Lemberg lokale Erfolge der Polen, die weiter südlich zur Besetzung der Dnjestt-Liuie führten. Bolsche­wistische Reiterei erreichte im Rücken der Polen westlich Lem­berg den Ort Sttyj, wo sie den Eisenbahnverkehr störte.

Die übergetretenen Russen.

Berlin, 26. Aug. Der Uebertritt der Russen auf ostpreußi­sches Gebiet ergibt folgendes Bild: Es sind bis gestern Abend rund 50 000 Mann auf ostpreußisches Gebiet übergetreten. Die Entwaffnung hat sich bis auf einen kleinen Zwischenfall reibungs­los vollzogen. Die Unterbringung, für die zunächst die Lager von Arys, Preußisch-Holland und Eydtkuhnen zur Verfügung stehen, wird nach Möglichkeit beschleunigt. Die Waffen werden teilweise zerstört, da eine sichere Bewachung nicht möglich ist. Der Gesundheitszustand der Russen ist leidlich, jedoch herrscht viel Elend unter ihnen. Vorkehrungen gegen Seucheneinschlep­pung sind getroffen. Die Abbeförderung der Internierten nach den Lagern im Innern Deutschlands begegnet Schwierigkeiten, doch soll heute abend bereits damit begonnen werden und vom 30. August ab sollen täglich 1500 Mann, später noch mehr be­fördert werden.

Englische Kriegsschiffe nach Danzig.

Paris, 26. Aug. Nach' einer Meldung desTempZ" aus London sollen britische Kriegsschiffe nach Danzig geschickt wer­den, mn die dort befindlichen Stteitkräfte zu verstärken.

Polnische Friedensbereilschast?

Paris, 26. Aug. Havas teilt nach einer Warschauer Mel­dung mit. daß der Vorsitzende der polnischen Friedensdelcgation in Minsk ersucht worden ist, mit Rücksicht auf die schlechte radio- telegraphische Verbindung mit Minsk sich in Brest-Litowsk ein­zufinden, um dort mit seiner Regierung zusammenzutreffen. Weiter wird von einer Kundgebung der polnischen Regierung berichtet, in der diese versichert, daß trotz der militärischen Er­folge ihre friedlichen Absichten die gleichen geblieben seien wie vor der Absendung der polnischen Delegation nach Minsk. Auch jetzt noch erstrebe Polen einen dauerhaften, auf Recht und Ge­rechtigkeit sich stützenden Frieden. Die Herstellung freundschaft­licher Beziehungen zum russischen Volk stelle nach Ansicht der polnischen Regierung eine der Grundlagen zur Beruhigung Ost­europas dar. Warum haben die Polen denn den Krieg vom Zaune gebrochen?

Die Entente bremst.

Paris, 26. Aug. Nach einer Warschauer Havasmeldung betrachtet man die Aufforderung der Regierung der Vereinigten

Staaten, daß die polnischen Truppen die ethnographische Grenze Polens nicht überschreiten sollen, als freundschaftlichen Rat, der dem von Amerika den beiden Kriegführenden gegenüber beob­achteten Wohlwollen entspreche.

Basel, 26. Aug. Die Pariser Ausgabe desNewyork Herald" meldet aus London: Die englische Regierung hat so­eben in aller Form ähnlich wie die amerikanische Regierung in einer Note an die polnische Staatsregierung diese wissen lassen, daß sic jede Unterstützung Polens verweigern müsse, falls die pol­nische Armee bei ihrer derzeitigen Offensive die ursprüngliche russisch-polnische Grenze überschreite.

Paris, 26. Aug. Wie derMatin" erfährt, soll Munster- Präsident Millerand der Regierung in Warschau zu ver­stehen gegeben haben, daß es notwendig sei, den Russen mäßige Friedensbedingungen zu stellen, damit der Frieden in Mittel­europa bald wieder hergestellt werde.

Italien für Aufnahme der Beziehungen

mit Sowjetrußland.

Paris, 26. Aug. Nach einer Radio-Meldung hat die ita­lienische Regierung auf die Note des amerikanischen Staatssekre­tärs Colby geantwortet, daß die Beziehungen zur Sowjetregie­rung wieder ausgenommen werden müßten, weil diese augen­blicklich die stärkste Macht in Rußland darstelle.

Die bolschewistische» Vertreter

immer noch in London.

London, 26. Aug. Reuter erklärt, Kamencw und Krassin haben bisher nicht um Zustellung der Pässe ersucht, doch wird ein derartiger Entschluß der russischen Vertreter nicht für n: scheinlich gehalten.

Fortdauer der feindlichen Lügen- und Hetzpropaganda.

BeAin, 26. Aug. DieTimes" veröffentlichen Einzelhe ttu über einen angeblichen Besuch Trotzkis in Deutschland. Der Zweck des Besuches soll dem Ab sch ü: st ' .es Abkommens über Munitionszufuhren an Sowrettußland und der Verhinderung von Munitionszufuhren nach Pole:, üker Danzig gegolten habe,. Ein großer Waffenhandel zwischen den Bolschewisten nnv sen Deutschen fände statt. Diese Mitteilungen sind frei erfunden. Trotzki hat den deutschen Boden seit KriegSbegiari überhaupt nicht betreten.

Zur Lage in Oberschleflen.

Fortsetzung der polnischen Ausstandsbew^gung.

Oppeln, 27. Aug. Die Aufstandsbewegung hat nunmehr aus die Kreise Groß-Strehlitz und Oppeln übergegriffen, in denen verschiedene Orte, darunter Malapane, von den Aufständischen besetzt worden sind. Die Familie des Grafen Strachwitz ist auS Groß-Stein geflüchtet. In Himmelwitz im Kreise Groß-Sttehlitz kam es zu einer längeren Schießerei zwischen Sicherheitspolizei und Aufständischen. Letztere bestehen, wie sich aus Gefangcnen- aussagen ergibt, aus lauter jungen Burschen im Alter von 18 bis 20 Jahren. Unter der beschlagnahmten Munition wurden einwandfrei Dumdum-Geschosse festgestellt. Der Parole auf Streikabbruch haben die polnischen Arbeiter nicht Folge geleistet. Deutsche Arbeitswillige werden an der Arbeit verhindert. Die Umbildung der Sicherheitspolizei zur Abstimmungspolizei unv der Abtransport der nicht oberschleflschen Beaniten ist im Gange. Die neue Polizei, die gegen die alte vermindert wird, kommt unter direkten französischen Befehl. Ueber die Art ihrer Bewaff­nung verlautet noch nichts.

Polnisches Militär im Ausstandsgebiet.

Die Blätter bringen eine Meldung der Kopenhagen»Na­tional Lidende" aus Warschau, worin es heißt: Der polnische Generalstab erläßt eine Erklärung, wonach die polnischen Trup­pen in Oberschlesien nicht etwa zur Besitzergreifung Oderschle­siens, sondern nur zum Schutz der bedrohten polnischen Bevöl­kerung eingerückt seien. Dazu bemerkt dieVossische Zei­tung": Wenn eine solche Erklärung des Warschauer Generat- stabcs tatsächlich vorliegt, so würde sie eine schwere Verletzung des Friedensvertrages bedeuten. Die Entente muß, falls sich die Nachricht bestätigt, nicht nur die sofortige Entfernung der pol­nischen Truppen vornehmen, sondern auch eine Entschädigung für den entstandenen Schaden herbeiführen.

Breslau, 27. Aug. Aus Oppeln wird hierher gemeldet: Gestern trafen hier Haller-Soldaten in Zivil ein. Sie wurden von den hier weilenden 500 Flüchtlingen aus Boguschütz erkannt. Zwischen den Haller-Soldaten und den Flüchtlingen kam es zu Schlägereien, wobei das französische Militär die Haller-Soldaten in Schutz nahm. Es widersetzte sich auch einer Verhaftung des Anführers der Haller-Soldaten durch die Sicherheitspolizei und geleitete sie zum Bahnhof. Als darauf die Menge den Bahnhof zu stürmen versuchte, zog ein französischer Offizier den Revolver. Es gelang jedoch, den Offizier unter Begleitung mehrerer fran­zösischer Soldaten in seine Wohnung zu bringen. Der Anfüh­rer der Haller-Soldaten wurde auf die framösifcke Hmwtw'ckw transportiert.