Daß. letztere anders wird, daß insbesondere auch die Mit­glieder der bürgerlichen Kollegien mehr als bisher ihre selbständige Meinung entschieden vertreten und sich im Einzelfalle gegenseitig unterstützen, das ist der Wille der Reutlinger Wählerschaft. Und daran wird, hoffen wir, auch Herr Oberbürgermeister Hepp auf die Dauer nichts ändern.

Vermögenssteuer und Landwirtschaft in Württemberg. Soeben ist im 1. Band des 27. Jahr­gangs des Finanzarchivs von G. Schanz eine Abhandlung von Ministerialdirektor Dr. v. Pistorius erschienen, welche sich mit der Vermögenssteuer in Bezug auf die Landwirt­schaft in Württemberg beschäftigt. Der Verfasser weist auf die Siegeslaufbahn hin, welche die Vermögenssteuer als Ergänzungssteuer für die Einkommenssteuer in Deutsch­land angetreten habe. Während sie in Preußen, Hessen, Braunschweig, Sachsen-Gotha, Oldenburg, Schaumburg- Lippe, Sachsen und Baden bereits vorhanden ist, steht ihre Einführung in Bayern, Württemberg, Elsaßf- Lothringen zur Debatte. In Württemberg ist sie be­kanntlich durch eine im Mai vor. Jrs. von der Regier­ung den Ständen vorgSlegte ausführliche Denkschrift vor­bereitet worden. Ter Verfasser vertritt die Ansicht, daß die willkürfreie Feststellung des gemeinen Ertragswertes dort, wg ein gutes Grundsteuerkataster vorhanden ist, wie dies in Württemberg der Fall sei, auf erhebliche Schwie­rigkeiten nicht stoßen werde. In Staaten mit einem Grundsteuerkataster, das, wie das Württembergische, den objektiven durchschnittlichen Reinertrag der Grundstücke zum Ausdruck bringe, könne beispielsweise bestimmt wer­den, daß alle landwirtschaftlichen Grundstücke, oeren Ver­kehrswert das 40igfache des Grundsteuerkapitals nicht übersteige nach dem Ertragswert, die übrigen landwirt­schaftlichen, sowie alle sonstigen Grundstücke aber nach dem Verkehrswert zu veranlagen wären. Als Ersatzwert wäre ein Vielfaches des Steuerkapitals, etwa das 25igsache, gesetzlich zu bestimmen. Der Vexfasser betont jedoch, daß auch äuf diesem Wege die Frage der Ausscheidung der­jenigen Grundstücke, deren Wert nicht durch die lano- wirtschaftliche Benützung, sondern durch andere Mo­mente beeinflußt ist, in unbedingt befriedigender Weise kaum zu lösen sei.

Deralte" EisenbahnerverbanV. TerSchwä­bische Eisenbahner", das Organ des Verbandes der württ. Eisenbahn- und Dampfschisfahrtsunterbeamten" schreibt zur Jahreswende:Mit 8000 Mitgliedern treten wir in das neue Jahr ein. Der Ansturm der Gegner hat nicht vermocht, den stolzen Bau unseres Verbands zu erschüt- - lern. Das wenige Mauerwerk, das abgebröckslt ist, wird bald wieder ausgebessert sein.- Die monatlange fieber­hafte Agitation der vereinigten Gegner.hat also

kein anderes Resultat gehabt, als den Verlust von rund 1000 Mitgliedern, von denen, wie wir bestimmt wissen, ein sehr erheblicher'Prozentsatz nicht einmal in den neuen Verband eingetreten ist ... . Damit ist die Berbaudskrisis überwunden und gelöst. Der Oeffentlich- keit ist bewiesen, daß der gegnerische Ansturm nicht etwa den Wünschen der Eisenbahner selbst entsprach, sondern künstlich ln sie hineingetragekr wurde, aus parteipoliti­schen und agitatorischen Rücksichten."

Das Reichsgesetz über den Versicherungsver­trag, das am l. Januar ds. Js. in Kraft getreten ist, hat nicht nur- die für alle Beteiligten wünschenswerte Rechtseinheit herbeigeführt, sondern auch in vielen Punk­ten für die Versicherten einen besonders günstigen Rechts- Zustand geschaffen. Hierher gehören die Bestimmung n des Gesetzes für den Fall, daß der Versichern' seine P-.ä- mie nicht am Fälligkeitstermin entrichtet. Während näm­lich nach Z 284 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches der Schuldner bei Nichteinhaltung des Leistnngstermins sofort , in Verzug kommt, ist der Versicherungsnehmer in diesem Falle ausnahmsweise günstig gestellt, indem für ihn der Verzug mit den in den Versicherungs-Bedingungen ge­nannten Folgen nicht ohne weiteres eintritt, sondern erst nach einer Mahnung in eingeschriebenem Brief und dem Ablauf der darin erteilten zweiwöchigen Zahlungsfrist. Und diese Mahnung erfolgt erst nach der gewöhnlichen Zahlungsaufforderung durch den Jnkässovertreter der Ge­sellschaft. Wenn also säumige Prämienschuldner demnächst von' ihrer Versicherungs-Gesellschaft solchen eingeschriebe­nen Brief erhalten, so mögen sie sich, anstatt über die Gesellschaft Klage zu führen, daran erinnern, daß dieser die Mahnungen im eigenen Interesse der Versicherten vom Gesetz auserlegt sind.

Ter Verwaltungsbericht der württ. Verkehrsanstalten

sin das Etatsjahr 1908 zählt auf: Eisenbahnlänge 1981,36 Kilo­meter, 1)74 Stationen, 772 Lokomotiven, 22 Triebwagen, 1979 Personenwagen (plus 130 gegenüber dein Vorjahr), 10 798 Ge­päck-, Güter- und Postwagen (plus 358), außerdem 110 Privat- gütcrwagen. Die Zahl der beförderten Personen berechnet sich auf 6Ö107560 (plus 2650066^:4,61 »/<,). Die Einnahm. ans Pein Personenverkehr betrugen 24715968 (plus 5,89 Proz.). Die Ge­samteinnahmen aus dem Personenverkehr, einschließlich Gepäck- mid Hnndeverkehr etc. 25996924 (plus 1483867). Die Ein­nahmen ans dem Güterverkehr betrugen 42128985 ( 1499808 3,44 Proz.) Die Gesamteinnahmen der Staatseisenbahnen ans dem Betrieb haben 74637701 (plus p26783 M) betragen. Die Betriebsausgaben 58207104 ( 99243). Als Betriebsüberschuß ergaben sich M. 16430597,10 (plus 426026). Im Etat waren 18380000 M als Ueberschuß vorgesehen. Der Fehlbetrag von 1949402,90 M wußte aus dem Eisenbahnreservefonds gedeckt wer­den, dessen Vermögen am 31. März 1909 676473,25 M betrug. Das Gesamtanlagekapital betrug am 31. März 1909 746650442M gegen 722049980 M im Vorjahr. Das Anlagekapital verzinst sich mit 2,25 Proz. gegen 2,26 Proz. im Vorjahr. Der Be- triebsnbcrschnß der Staatsbahn ist hinter dem Zinsenbedars um 2946183 M (im Vprjahr 2079438 M) -zurückgeblieben. Die Bo­den s e e-D a m p s s ch i f fa h r t wurde mit sieben Dcunpfschtf- Ün, einer Dampfbarkasse, drei Schleppbooten und zwei Trajektkähnen betrieben. Der Betriebsüberschnß beläuft sich auf 175559 M, gleich 74555 M mehr als der Etatssatz vorgesehen hatte. DiePost - und T «1 e gra p he n v e r w a l t u n g hatte wn 31. März 1909 11036 Postanstalten, 2136 Telcgraphenan- stalten, 23526 an Fernsprech-anstalten allgeschlossene Teilnehmer Plus 1454). Die Gesamtzahl der Postversendungsstücke betrug wie im Vorjahr rund 387 Millionen Stück. Der Gesamtwert her Geld- -und Wertsendungen 1727391764 M, das ist etwa 100 Mil­lionen weniger als im Vorjahr. Dieser Rückgang ist zum Teil aui Postüberweisungs- und Scheckverkehr znrückzufiihren, der einen Gesamtumsatz von rund 78 Millionen anizuweisen hat. t-le Zahl der Telegramme betrug 2387804, die der Fernsprech­verbindungen 52415895 (plus .24/2 Millionen). Die Gesamt­einnahmen der Postverwaltung beliefen sich ans 26558687 M, die wesamtansgaben ans 18869242 M, der Ueberschuß 7639445 M, -das ist 65501 M mehr als im Elatssatz und 1169530 M mehr

als im Vorjahr. Das Anlagekapital der Post- und Telegraphen- verwaltung war nach dem Stand vom 31. März 190p M 42871468.

Stuttgart, 10. Jan. In den letzten Tagen weilte hier Erzherzog Ferdinand von Oesterreich zu Be­such bei dem Herzog Mbrecht von Württemberg. Gestern nahm der Erzherzog an der Frühstückstafel im Wilhelms­palast teil. Heute ist er wieder von hier abgereist.

Stuttgart, 10. Januar. Zum Milchkrieg. Die Milchlieferung seitens der Gewerkschaften hat zur Folge, daß, setzt auch die Milchhändler vielfach ihre Milch für 19 Pfg. anbieten gegenüber einem früheren Preis Von 2122 Pfg. pro Liter. Wie dieSchwäbische Tagwacht" mitteilt, wird die Milchliefernng seitens der Partei und und der Gewerkschaften dauernd erfolgen, da sie vertrag­lich -gesichert sei. Die Milchhändler Stuttgarts würden demnach wenig angenehmen Zeiten entgegensehen.

Stuttgart, 10. Januar. Der Privatdozent für Geo­physik an der Berliner Universität Dr. phil. Friedrich Bildling maier wurde an das Kaiser!. Marine-Ob­servatorium in Wilhelmshaven berufen. Geboren 1875 in Lauffen a. N., studierte Bildlingmaier Mathematik und Physik in.Tübingen bei Brill und in Göttingen unter Voigt,» war 1897/99 Assistent am physikalischen Institut der Technischen Hochschule zu Dresden, stand seit 1900 im Dienst der deutschen Südpolar-Expedition, arbeitete 1900/1901 am magnetischen Observatorium in Potsdam und habilitierte sich 1907 in der Berliner philosophischen Fakultät für das Fach der Geophysik.

Ravensburg, 10. Jan. Die Blättermeldung, daß Pater Benno Nur ach er sich in London verheiratet habe, ist, wie der Oberschwäbische Anzeiger auf Grund direkter Nachrichten aus Rom erfährt, völlig unrichtig. Pater Auracher befindet sich in Italien und steht in reger Verbindung mit hohen Kreisen des Vatikans. Die An­gelegenheit seines Verschwindens wird binnen kurzer Zeit in befriedigender Wejse aufgeklärt werden.

Freuvenstavt, 10. Jan. Einem einstimmig gefaß­ten Beschluß des Bezirksausschusses derDeutschen Pa r- t e i und des Jungliberalen Vereins zufolge wurde die Kandidatur für die bevorstehende Landtagsersatzwahl dem Schultheißen Max Walther in Aach angetragen. Er hat sich eine kurze Bedenkzeit Vorbehalten.

Friedrichshufen, 10. Jan. Die Beisetzung der ver­storbenen Gattin des früheren Ministerpräsidenten, Frau Angelika von Mittnacht, erfolgte gestern, entsprechend dem Wunsche der Verblichenen, in aller Stille und Einfach­heit auf 'dein alten Friedhof. Die Verstorbene ruht jetzt an der Seite ihres Gatten. An der Beisetzung beteiligten sich nur die nächsten Anverwandten und Deputationen des Offizierskorps des Grenadierregiments Nr. 123 in Ulm und des Infanterieregiments Nr. 124 in Weingar­ten, von denen auch Kränze niedergelegt wurden. Wei­terhin waren Kränze eingetroffen vom König und der Königin, sowie von den Mitgliedern des Königlichen Hauses.

Nah und Fern.

Der Blaserturm in Ravensburg,

der auf dem Marktplatz steht, wurde 1553 zu baue» angefangen und 1556 vollendet. Der alte Bläserturm war nämlich am 23. November nachmittags zwei Uhr eingefallen. Es waren drei Menschen auf ihm, nämlich der Tnrmbläser selbst, seine Frau, welche schwanger ging, und ein 16jähriger Sohn der beiden. Der Tnrmbläser kam mit heiler Haut davon, während die Frau und der Sohn umkamen. Den ersten Stein zum Bau legten der damalige Bürgermeister Balderich und etliche Ratsherrn.

! Baninspektoren waren Jakob Reuchlin von Haldeck, Kvnrad Gel- derich und Melchior Adelgis. Den Grundriß hat Johann Hart- Häuser, ein Goldschmied, gemacht. Die wunderbare Rettung des Turmblüsers wurde in den Turm eingehauen mit folgenden Reimen:Zn einem Wunder allhie steht geschrieben. Daß der Bläser ist lebendig blieben."

Kleine Nachrichten.

Durch einen merkwürdigen Unglücksfall verlor Josef Schnei­der, Anwalt in Senzenberg im Bühlertal zwei Tiere im Werte von ca. 1100 Mark aus seinem Stalle. Eines seiner Pserde wurde nachts los, überstieg die niedrige Krippe und wurde von einer Kalbel durch Hornstöße schwer verletzt. Das tödlich getroffene Tier kam zu Fall, wobei es ans die Kalbel zu liegen kam. Morgens wurde dieses erdrosselt aufgefunden. Das schwer verletzte Pferd mußte getötet werden.

In der Brauerei Wulle in Stuttgart brach Montag früh im Mälzerdigebäude Feuer aus, das zuerst einen gefähr­lichen Umfang anznnehmen drohte, von der Feuerwehr jedoch rasch bewältigt werden konnte, ohne großen Schaden anznrichten.

In der vorvergangenen Nacht gerieten in der Wirtschaft zur Sonne in Feuerbach einige Feuerbacher mit hier be­schäftigten Kroaten zusammen, wobei ein Feuerbacher einem Kroaten mit einem Messer in den Unterleib Stiche beibrachte, so daß diese -an den erlittenen Verletzungen ans dem Wege zum Krankenhaus starb.

Neben der Zichoriensabrik von Franck Söhne in Lud­wig s b n r g ist die Werkstatt des Knblers Grat samt allen Holzvorräten in Brand geraten. Das Feuer konnte erst nach harter Arbeit ans seinkn Herd beschränkt werden.

Am Samstag abend wurde in E tz l i n g « >c der Wirt einer Restauration in der Pliensaustraße von dem 23 Jahre alten Flaschner Bischofs, der wegen ungebührlichen Betragens aus der Wirtschaft entfernt worden war, ans der Straße mit einem Messer in den Oberschenkel gestochen. Die Verletzung ist be­deutend, jedoch nicht lebensgefährlich.

'In dem Kölner Vororte Ehrenfeld stürzte Montag Nach­mittag ein Dachdeckergerüst ein. Der Dachdeckermeister wurde getötet, ein Lehrling starb ans dem Transport ins Kranken­haus; «in Geselle wurde lebensgefährlich verletzt.

Im Zementwerk in Lauffen verunglückte der etwa 40 Jahre alte Maurer Scherf dadurch, daß er der Hochspann­leitung zu nahe kam und durch den elektrischen Strom auf der Stelle getötet wurde. Der Verunglückte hinterläßt eine Witwe mit nenn unversorgten Kindern.

Berichtssaal.

Kreihepr von Münch.

Stuttgart, 10. Jan. Vor dem O b e r l a n d e s g e r i ch t wird die Berufung des Freiherrn von Münch gegen ein Urteil des Landgerichts Rottweil verhandelt. Freiherr von Münch war vom Amtsgericht Rottweil ans Antrag der Staatsanwalt­schaft wegen Geisteskrankheit entmündigt worden. Freiherr von Münch focht die Entmündigung an, wurde jedoch vom Landgericht abgewiesen, r, Zn Beginn der Verhandlung lehnte Freiherr von Minch die Richter wegen Befangenheit ab', das Gericht beschloß das Wlehnnngsgesnch wegen Nichternstlichkeit desselben zurückznweisen. Freiherr von Münch wurde früher in verschie­denen gegen ihn anhängig gemachten Strafverfahren wegen Un­zurechnungsfähigkeit außer Verfolgung gesetzt. Wie bei der Verhandlung zur Sprache kam, hat der Berufungskläger schon Hunderte von Prozessen geführt, von denen die meisten zu sei­

nen Ungunsten Entschieden wurden. Die VerhalHlwV KE stut- gesetzt.

Stuttgart, 10. Jan. (Strafkammer). Am 18. September ereignete sich am Neubau für das Medizinalkollegium ein schwerer Unglücksfall. Auf einem Gerüst kippte ein mit Pack-i steinen beladener Marren um. Ein Backstein fiel einem Unten an einer Mürtelpfanne beschäftigten Arbeiter ans den Köpft Der Mann -erlitt einen Schädelbruch und starb nach einer Stunde Gegen den Bauführer und den Polier wurde nun Anklage we­gen fahrlässiger Tötung erhoben. Die Anklage ist der Ansicht, daß die beiden hätten dafür sorgen sollen, daß an der Stelle,; wo die Mörtelpfanne stand, ein Schutzdach angebracht worden wäre. Die Mörtelpfanne stand Tags zuvor noch weiter ent­fernt -vom Gerüst, sie wurde von Arbeitern näher an das Ge­rüst gerückt. Mer dies angeordnet hat, konnte nicht sestgestellt werden. Die Angeklagten machten geltend, sie hätten nicht gewußt, daß Pie Mörtelpfanne näher -an das Gerüst heran­gerückt worden sei, es sei dies ohne rhr Wissen geschehen. Auf Grund der Beweisaufnahme stellte der Staatsanwalt die Schuld­frage in das Ermessen des Gerichts. Die Strafkammer konnte sich nicht überzeugen, daß die Angeklagten ein Verschulden an dem Tod des Arbeiters treffe und erkannte auf Freisprechung.

Japanische Straßentypen.

So modern auch! im Lande des Mikado die Ein­richtungen und viele Formen der Lebensführung gewor­den sind, so hat sich doch vieles- in dem äußeren Bilde der Straßen und Häuser, in seiner bunten östlichen Viel­gestaltigkeit und Eigenartigkeit erhalten, so daß der Euro­päer selbst mitten in der Großstadt.Tokio den Eindruck einer fremdartigen Kultur und Weltanschauung nie verliert. Dje hastige Unrast unseres vielgeschäftigen Treibens fehlt; das beliebteste Verkehrsmittel ist selbst bei riesigen Entfern­ungen, die von einem Kuli gezogene zweiräderige Jin- rickscha, die dem ganzen Rhytmus des Straßenlebens eine -gemütliche Langsamkeit verleiht. Zwar gibt es in Tokio und einigen anderen großen Städten elektrische Bah­nen, ja auch, eine Unzahl Droschken und einige Auto­mobile, aber sie haben dem beschaulich stillen Volkscha- räkter der Japaner, der sich hauptsächlich auf der Straße auslebt, nichts von seiner Ruhe und Gelassenheit nehmen können. Die Straße wird zum Schauplatz des gesamten häuslichen Lebens; auf ihr entwickeln sich viele'der-in­timeren Szenen, die bei uns zwischen die vier Wände verbannt sind. Daher sind auch die starakteristischen Ty­pen, die der Straße ihre besondere Note verleihen, zahl­reicher und eigenartiger als bei uns, wie ein Aufsatz von Tr. Fritz Wertheimer inlieber Land und Meer" hübsch erläutert. Die Straßenhändler stehen voran. Ta ist zu­nächst der Mann mit den Bambuswaren, der seinen gro­ßen Karren mit Besen und Bürsten zieht und insbesondere sein Bambusgeflecht zum Sieden der Bohnen anpreist. Fast jede Straße' hat einen, zwei oder drei solcher, die ihre Ware oder Tragkörbe je nach der Jahreszeit kunst­voll arrangiert haben und auch erfahren sind, in den Vasen eines Hauses selbst die Blumen kunstgerecht und stilvoll zu ordnen. Weniges poetisch ist das Gewerbe des Lampia, des- Lampenverkäufers, der mit seiner nach euro­päischen Art konstruierten Lampen gute Geschäfte macht und die leichte, zerbrechliche japanische Ware verdrängt. Er geht init der Zeit und bringt auch schon elektrische Glüh­birnen aller Art, während sein Freund, der Mziunri oder Wasserverkäufer, seil dem Entstehen der Wasserleitungen von den Straßen so ziemlich verschwunden ist. Im Som­mer erscheint der Mushiya, der in kleinen Käfigen Grillen und Johanniskäferchen verkauft. Das Zirpen seiner Tier­chen ist seine Reklame, denn nian benutzt die Grillen als Wächter gegen Diebe, weil sie in der Nacht mit dem Singen aushören, sobald sich jemand naht. Auch der Kinyoya, der die schönen Arten der japanischen Goldfische verkauft, kommt nur zur guten Jahreszeit. Im Winter aber, wenn es kalt wird, blüht das Geschäft des Odenya, der in sei­nem Kessel ein Gemisch von süßen Kartoffeln und Kog- nak, der aus Gemüse gebrannt ist, feilhült. Auch Ver­käufer von Papierchen, die glückliche Träume bringen, und von besonderem Holz für heilige Feuer preisen ihre Waren mit lautem Geschrei an. Ein notwendiger Besu­cher, auf den der rauchende Japaner sehnsüchtig wartet, ist der Raoya, der Pfeisenoeiniger. Die japanische Pfeife mit der Spitze und dem kirschkerngroßen Pfeifenkopf aus Metall verlangt des östern einen Ersatz des zwischen die­sen beiden Teilen liegenden Bambusrohres. Da kommt denn der Raoya mit seinem Wagen, auf dem er einen kleinen Dampfkessel installiert hat. Der Dumpf treibt eine kleine Pfeife, deren schriller Ton schon von weitem den Pfeisemnann ankündi-gt. Er wechselt das Bambus­rohr aus und reinigt iw heißen Dampf Spitze und Pfeifen­kops vom Nikotin. Die ganze Prozedur kostet wir zwei Sen, da aber jede Pfeife mindestens einmal monatlich ge­reinigt werden muß, macht er doch gute Geschäfte. Tenn jeder Japaner har ja' seine drei Pfeifen, die kürzere, wenn er ausgeht, und zwei längere, in seinem Hause. Noch wichtiger ist freilich der Kufuya, der Lumpensamm­ler. Da es nämlich keine Kehrichtabfuhr gibt, so holt dieser Händler in seinem Riesenkorb alle die Abfälle, Zeitungen, Knochen, kurz all das, was man nicht mehr gebrauchen kann und das er dennoch verwertet. Eine noch unappetitlichere Beschäftigung betreibt der Lwai, der die Fäkaliengruben entleert und ihren Inhalt aufs Land schickt; er hat dies Recht vym Hausbesitzer gepachtet, dem er dafür am Ende des Jahres ein Geschenk bringt. Vor jedem Distriktsstandesamt sitzt ein Shoki und fertigt armen, schrcibunkundigen Leuten, für wenig Geld die notwendigen Urkunden aus. Groß ist die Zahl der Nahrungsmittel Händler, die die Straßen durch-ziels-en. Ta kommt in aller Frühe die Nato-Nato-Frau. Sic verlaust eine Art ja­panischen Käses, den man gewinnt, indem man gekochte Bohnen im Keller faulen läßt und ihnen dann die scharfe Shoyn-Sauce beimengt. Zwischen 5 und 6 Uhr tritt sie schon an, weil der Käse frisch ans dem Keller köipmcrr muß, um gut zu sein. Ter Sakanaya verkauft dann des Morgens seinen Fisch, der in der japanischen Nahrung eine so große Rolle spielt, und gegen ll Uhr erscheint der Joya, der Gemüsehändler, und wandert von Hans zu Hans. An allen Straßenecken stehen die Kuchenhänd­ler, um deren leckere Speisen sich die Jugend lüstern sam­melt. Läßt dann noch der Zeitungsmann, der Shimbuya, seine Klingeln ertönen, oder eine Bande Straßengaukler zeigt bei Musik und Trommelklang ihxx Künste, dann zeigt sich das japanische Straßrnleben von seiner be- i wegresten und lustigsten Seite.