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Die Reform der Arbeiterversicherung.
Die Grundzüge des Entwurfs.
Wie das „Zentralblatt für das deutsche Baugewerbe" mitteilt, ist nach einer „absolut authentischen" Information des Blattes der Entwurf für die in Aussicht ge- , stellte Abänderung der Arbeiterversicherungsgesetze vor einiger Zeit f e r t i g g e st el l t worden. Er umfaßt das ganze Gebiet des Arbeiterversicherungsrechts. Tie leitenden Grundsätze sind: auf dem Gebiete der Krankenversicherung größtmögliche Zentralisierung, auf dem Gebiete der Unfallversicherung Dezentralisierung der Verwaltung.
Die vorhandenen Arten der Massenorganisation sollen beibehalteu, jedoch soll auf ihren Zusammenschluß mit Nachdruck hingewirkt werden. Für die Versicherung der Landarbeiter werden Landkrankenkassen vorgesehen, die Ge me i n d e kr a n k e n v e r si ch e r u n g geht ein. Die Beiträge zur Krankenversicherung sollen je zur 5zälfte von den Arbeitgebern und A rbeit- nehmern aufgebracht werden. Den Arbeitnehrnern sollen aber bei der Beschlußfassung über Krankenunterstütz- ' ungeu und Beiträge zwei Drittel, den Arbeitgebern unrein Drittel der Stimmen zustehen. Die- Krankenkasscn- vorstände erhalten einen unparteiischen Vorsitzenden.
Alle Krankenkassen im Bezirk einer unteren Verwaltungsbehörde werden zu einem Verbände zusam- mengeschlossen. Dieser bildet die Lokalinstan z, von der der Staatssekretär des Innern Dr. 'Bethmann-Holl- weg in der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1907 sprach, indem er hiuzufügte: daß vor derselben „der Arbeiter in allen diesen Angelegenheiten hdas heißt Angelegenheiten, der Arbeiterversicherung) Recht suchen und Recht finden kann". Diese Stelle soll die Funktionen eines gemein- lamen Unterbaues der Unfall-, Invaliden- und Hinter- bliebmenversicherung in sich vereinigen und die Aufsichtsbehörde der Krankenkassen sowie die regelmäßige Spruch- und Beschlußbehörde erster Instanz für das gesamte Gebiet der Ar beiterversicherung bilden und endlich alle bisheri-
VetLer Gottlieb.
Ein Charakterkopf aus der guten alten Zeit.
Von Edwin Bormann.
(Nachdruck verboten.)
Angeredet ipurde er von mir als „Onkel", in der ganzen Familie aber hieß er, wenn wir von ihm sprachen, „der Vetter Gottlieb". Mein ganz richtiger Onkel war er ja eigentlich nicht, aber ein besserer als mancher richtige. Er lebte in der alten Thüringer Heimat meiner Großeltern und war ein Neffe meines Groß- . Vaters. Wie' das verwandtschaftliche Verhältnis war, darüber dachte ich als Knabe niesals nach. Mir genügte es vollständig, daß mein Vater des Vetters Frau „Mehme", und daß diese wiederum meinen Vater „Unkel" anredete.
Die Stadt, in der der Vetter Gottlieb lebte, war ein geizendes Thüringer Kleinstüdtchen, in einem friedlichen ^alc am Fuße einer alten Burgruine gelegen. Keine größere« Freude für mich, als wenn ich die Schulferien beim Vetter Gottlieb verleben durfte. In der Hauptstraße, d>c sich durch den ganzen Ort hinzieht, war sein Haus gelegen, acht oder zehn Fenster breit, selbstverständlich "ur ein Stockwerk hoch. Im Erdgeschoß der geräumige -Mrkaussladen, die Hausflur und jenseits dieser das Schlafzimmer des Ehepaares. Im ersten Stock die gute Stube, me Zimmer der Töchter und die Besuchsräume, lieber der'Ladentüre aber prangte das gewichtige Firma mit den Worten:
Gottlieb Wehrhahn,
-luch-, Ausschnitt- und Strumpf-, Material- und Colonial- waaren-, Schnupf-, Rauchtabak- und Cigarren-Handlung.
In diesem Laden ntzn war alles von musterhafter Ordnung und Sauberkeit. Rechts das Tuch- und Stoff- mger und alles, was zu des Menschen Bekleidung gehört,
hnter einem dütcngeschmückten großen Holzbogen er Teil der Ladentasel, auf dem die Wage stand, und
gen Obliegenheiten der unteren Berwaltungs- und sonstigen örtlichen Behörden übernehmen. Diese soll V e r s i ch e r u n g s a m t
heißen und der unteren Verwaltungsbehörde ungegliedert werden. Dem geschäftsführenden Beamten, Versicher- ungsamtmann genannt, für den der Besitz der Fähigkeit zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst nicht gefordert, Wohl aber der Nachweis längerer Betätigung bei einer Landesversicherungsanftalt, Berüfs- genossenschast oder einer der Spruchinstanzen der Arbeiterversicherung verlangt wird, ist der Leiter der unteren Verwaltungsbehörde (Landrat oder in Städten über 10 000 Einwohner der Bürgermeister) übergeordnet. Ter Beamte wird von dem Kommunalverband seines Amtsbezirks ernannt, wobei den Versicherungsträgern eine Mitwirkung bedingt zusteht. Sowohl die geschäftsführenden Beamten wie die nötigen Hilfspcrsonen haben die Eigenschaft kommunaler Beamten.
Zur Besetzung der Spruchausschüsse des Versicherungsamtes wird die g l e i ch e Zahl von Vertretern der Arbeitgeber und Versicherten gewählt. Sowohl auf dem Gebiete der Unfallversicherung als auch auf dem der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung fällt dem Versicherungsamt die Feststellung der gesetzlichen Entschädigungen zu. Ferner soll ihm die Entscheidung auf alle Beschwerden übertragen werden, über die jetzt von den Regierungspräsidenten oder dem Reichsversicherungsamt zu entscheiden ist, also Beschwerden in Sachen' des Genossenschäftskatasters, Beitragsbeschwerden, Gefahrentarifbeschwerden usw. Dem Versicherungsamt wird ferner die Bestimmung darüber übertragen, ob die 'Berufsgenossenschaft zur Uebernahme des Heilverfahrens während der ersten dreizehn Wochen nach dem Unfall oder zur Anwendung der Heilanstaltspflege verpflichtet ist.
Die jetzigen Schiedsgerichte werden zu Ober Versicherungsämtern ausgestaltet, deren Vorsitzender, Direktor des Oberversicherungsamtes, die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst oder Richteramt besitzen muß. Tie Oberversichcr- ungsämter werden an die höheren Verwaltungsbehörden
(Regierungen, Berlin: Polizeipräsident) angelehnt; ihre Bezirke decken sich deshalb mit denjenigen der vorgenannten Behörden. Die Oberversicherungsämter bilden die zweite Instanz hinsichtlich aller Zweige der Arbeiterversicherung für alle Entscheidungen des Versicherungsamtes sowohl bezüglich der Entschädigungsfeststellungen wie auch der Beschwerden.
Gegen "die Entscheidungen des Oberversicherungsamts steht das Rechtsmittel der'Revision an bas Reichs- Vers i che r un g s a m t zu. 'In Streitigkeiten aber, in denen es sich um das Heilverfahren, das Sterbegeld, u« die Frage, ob ein Unfall vorliegt, ob derselbe erwiesen ist, ob der Unfall eine versicherungspslichtige Person betroffen hat, ob der Anspruch verjährt oder der Unfall bei Begehung von Verbrechen 'eingetreten ist, ob der Jahresarbeitsverdienst zutreffend berechnet ist, wird die Revision ausgeschlossen.
Dasselbe aber auch, wenn es sich um die ander- weite Feststellung der Entschädigung nach Eintritt einer Veränderung der Verhältnisse handelt. Es soll also der bei weitem größte Teil aller Streitfälle einer Nachprüfung in einer Höheren Instanz entzogen werden.
Die Pflicht zur Tragung der Kosten soll in der Hauptsache für das Versicherungsamt den Berussgenossen- schaften und den Landesversicherungsanstalten, für das Oberversicherungsamt dem Staate und für das Reichsversicherungsamt dem Reiche (für die Landesversicherungs- ämter den betreffenden Bundesstaaten) verbleiben. Die Krankenkassen sollen zur Tragung der Kosten.des Versicherungsamtes nicht herangezogen werden, vielmehr die Berussgenossensch asten und Versicherungsanstalten auch diejenigen Kosten übernehmen, die die Krankenversicherung den Versicherungsämtern verursacht .
Rundschau.
Der Mißvergnügte „hcyr" Brrhaftets
Fürst Eulenburg, dessen Schicksal schon heute allen Eingeweihten'nicht» wehr zweifelhaft ist, da das Belastungsmaterial gegen ihn ungeheuerliche Dimensionen angenommen hat.
dahinter
die Kästen mit den magenverlockenden Je-
fchnftcn: Zucker, Kaffee, Reis, Graupen, Grütze, und den mr mich noch weit interessauteren: Rosinen, Mandeln, sEiszucker und Backobst. Das die Kolonial und Ma- ..^Ewaren eine unübertreffliche Güte besaßen, verstand ch dsw selbst. Sie wurden cn gros von Leipzig bezogen ^ kommende Messe vom Vetter persönlich be- A ^ Tuch-- und Ausschnitthandel aber wurde in der mbar einfachsten und patriarchalischen Weise betrieben. EWn die vornehmen Einwohner des Städtchens viel
fach nach den größeren Thüringer Plätzen oder gar nach Leipzig nnd Berlin, wenn es galt, ihren edlen Leib neu zu bekleiden, so waren doch die kleinen Leute und besonders die bäuerliche Nachbarschaft der Umgegend der Firma treu geblieben. Betrat nun ein Kunde den Laden und wandte sich nach der Bekleidungsseite hin, so war stets der Onkel selbst zur Hand und fragte: „Was willste?" Hatte der Kunde seinen Wunsch ausgesprochen, so holte der Onkel ein Stück Stoff aus einem der Fächer und sagte: „Hier, das paßt für dich, das nimmste! — Und sieben und eine halbe Elle branchste. " Sofort'wurde abgemessen und abgeschnitten, und dann kam die ständige Frage: „Haste denn was zum Einwickeln mit?" Denn wohl gab es auf der anderen Seite des Ladens spitze und eckige Tüten von verschiedener Größe, aber im Tuch- und Schnittwarengeschäft wurde kein Papier zum Forttransportieren der Einkäufe verabreicht. Und siehe da, der Kunde, mochte es nun ein Männlein oder Weiblein sein, war so gut gezogen, daß er ans die betreffende Frage hin ein Tuch oder einen Lappen aus der Tasche zog und seinen Kauf hineinpackte. Ich bin sicher, daß die Preise nicht allzubillige waren. Von Ueberteuern jedoch konnte nicht die Rede sein, denn die Ware war gut, und die Käufer waren allezeit befriedigt. Immer und immer kamen sie wieder. Denn hier, wußten sie, wurde ihnen die Qual der Wahl erspart; der Vetter Gottlieb wußte besser als sie selbst was sie brauchten und was ihnen z Gesicht stand.
Wer hätte sich aber auch einer solchen Autorität gegenüber nicht gern und willig gebeugt? Tenn er war damals, als ich das Glück hatte, wiederholt unter seinem gastlichen Hause weilen zu dürfen, ein gar stattlicher Fünfziger von nicht unbeträchtlicher Körperlänge, mit einem iinponierenden Leibesumfänge und einem glattrasierten, klugen, energischen Gesicht, aus dem ein Paostr verschmitzte Aeuglein herausleuchteten. Um dem Ueberhand- nehmen der Leibesfülle vorzubeugen, „trainierte" er sich sogar, wie wir heutzutage sagen würden, ganz rationell. Nicht daß er geschwcnningert, gemüllert, gefastet, Marien, bader getrunken, geritten oder geradelt hätte— manche von diesen geistvollen Methoden waren ja damals noch gar nicht erfunden — nein, ergriff zu einem einfacheren, aber wohl sicheren Mittel. Er ließ im Frühjahr eine tüchtige Fuhre derber Wurzelklötze anfahren und zerkleinerte diese im Laufe der Sommermonate eigenhändig. Alle Wochen mindestens einmal stand er dann in bleu dend weißen Hemdsärmeln einige Morgenstunden auf dem Pflaster seines geräumigen Hofes, wennmöglich im glühenden Sonnenscheine und ließ die langgestiegte Holz
hackeraxt auf die widerhaarigen Klötze niedersausen. Je mehr ein solcher Klotz Widerstand leistete, je mehr der Schweißtropfen es kostete, ehe er in kunstgerechte Brennholzstückchen verwandelt war, um so schätzbarer war der Klotz für den Vetter, denn so wurde ja der eigentliche Zweck am besten erreicht. "
Auch im Laden sah man während der heißew Monate den Besitzer der vielseitigen Firma oft, ja meist, in Hemdsärmeln. Er brauchte durchaus nicht zu fürchten, seiner Würde etwas zu vergeben. Dagegen zeigte er sich in vollem Glanze des Abends, wenn die siebente Stunde herannahte. Das Geschäft wurde dann Weib und Kind überantwortet, denn der Hausherr rüstete sich zum Kegelschieben in der „Rose". Er fuhr mit den Armen in den langschössigen brannen Gehrock aus Primatuch, er setzte die schwarzseidene Mütze ans das umfangreiche Haupt, und griff nach dem Stocke, der an Dicke und Länge jeden unserer heutigen Spazierstöckchen um ein Beträchtliches übertraf. Dieser Stock besaß am oberen Ende einen riesigen Elfenbeinknopf und wurde, wie ein Alpenstock, weit unterhalb dieses Knopfes mit der Rechten umspannt, so daß er auf der Straße immer in seiner ganzen Länge und Schönheit zur Geltung kam. Dann aber gehörte zur letzten Vollendung der Toilette noch eines. Ter Vetter ergriff nämlich zum Schlüsse die mächtige Schnupftabaksdose, die tagsüber in einer bestimmten Ecke eines bestimmten Fensters in der Stube hinterm Laden stand, und versenkte sie in die linke der geräumigen Taschen seines Gehrocks, wobei die breite Taschenpatte nach außen hängen M'-Te. War doch diese Tose mit ihrem herzerfreuendeu Jnyalte der schier unentbehrliche Ausgehbegleiter meines Onkels. L ine sie war er außerhalb des Hauses nicht de bar. Während nämlich gemeine Sterbliche durch ein Hut- oder Mützenabziehen, durch einen „Guten Tag!" oder „Wie geht's?" grüßen, pflegte er das alles mit der Dose abzuwarten.' Sowohl den Kegelbrüdern in der Dose abzumachen. Sowohl den Kegelbrüdern in der begegnete und der seine Hochachtung und eine schnupfsälsige Nase besaß, wurde in erster Linie eine Prise «geboten. Daher denn auch die Dimensionen dieses Tabakbehälters von einem Umfange waren, wie ich ihn vorher und nach- ber nicht wieder Feschen habe. Es war eint eleganter Kasten aus seinpoliertem Holze, etwa von der Größe zweier über- eiuandcrstehenden Sardinenbüchsen, auf dem Deckel Raum genug für die in Goldschrift angebrachten Worte: „Gott- lieb Wehrhahn, Tuch-, Ausschnitt- und Strumpf-, Material- und Kolonialwaren-, Schnupf-, Rauchtabak- und Zigarrenhandlung." , ^Schluß folgt.)
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