bach erklärt namens der Zentrumspartei, daß diese die Bedenken gegen ßß 60 und 61 in der Fassung der Ersten Kammer „Gewährung des Budgetrechts an die Erste Kammer" nicht für so schwerwiegend erachte, um das Verfassungswerk scheitern zu lassen. Abg. Wilckens erklärt namens der nationalliberalen Partei die Fassung des Entwurfs nach dem Beschluß der Ersten Kammer in mehreren Punkten als unannehmbar. Seine Partei werde gegen die Verfassungsreform stimmen, wenn es nicht gelinge, das Uebergewicht der Zweiten Kammer in Finanzsragen in wesentlichen Punkten zu behaupten. Abg. Venedey erklärt namens der demokratischen Fraktion, daß die Fassung des Gesetzes nach den Beschlüssen der Ersten Kammer für seine Partei unannehmbar sei. Eine ähnliche Erklärung gibt der Vertreter der sozialdemokratischen Partei ab. Ein sozialdemokratischer Antrag auf Zulassung eines Arbeitervertreters in der Ersten Kammer wurde mit allen gegen vier Stimmen abgelehnt. Der Beschluß der Zweiten Kammer, Städtevertreter in der Ersten Kammer aus der Wahl hervorgehen zu lassen und nicht durch Ernennung des Großherzogs, wurde mit allen Stimmen gegen die des Zentrums wiederhergestellt. Das von der Ersten Kammer wieder- hergestellte Stellvertretungsrechts der Standesherren und der beiden Kirchenvertreter (Geisterstimmen) wurde wieder gestrichen gegen die Stimmen des Zentrums. In der Frage des Finanzgesetzes beantragt Abg. Wilckens, den ßtz 60 und 61 eine Fassung zu geben, wonach die Erste Kammer in Bezug aus die Steuergesetze mit der Zweiten Kammer gleichgestellt werde. Dagegen müsse an dem Uebergewicht der Zweiten Kammer in Bezug auf das Finanzgesetz und das Budget festgehalten werden. Bei der Schlußabstimmung wurde das ganze Gesetz in der heutigen neuen Fassung mit allen Stimmen gegen die der Sozialdemokratie angenommen.
Verschiedenes.
Eine heitere Totengeschichte. Auf der
Schwäb. Alb, im Obernmt Geislingen, ist der
kleine aber wegen der herrlichen Fernsicht vielbesuchte Weiler Kuchalb. Daselbst ist eine Wirtschaft, welche auf eigentümliche Weise eine Berühmtheit erlangte — durch die Derbheit der Wirtin. Franzel, so heißt sie, begrüßt und bewirtet nähmlich bei übler Laune oft mit einem Redestrom von Ausdrücken, welche gerade nicht die schmeichelhaftesten sind. Und siehe, niemand nimmt ihr das Schimpfen und Schelten übel, niemand verklagt sie — sie hat die Narrenfreiheit bei hoch und nieder. Je mehr sie lamentiert, desto mehr amüsieren sich die Gäste. Etwa 14 Tage vor Pfingsten verbreitete sich nun die Nachricht, die Kuchalb-Franzel sei nicht mehr. Die Franzel, welche bei allen Touristen und Albvereinlern eine hochberühmte Per« söhnlichkeit ist, wurde in den verschiedensten Tageszeitungen — Geislinger-, Ulmer-, Göppinger-, Neckar-, Remszeitung, Hohen- staufer, Schwarzwälder usw. — durch Nachrufe gedacht. Auch gingen bei den Hinterbliebenen eine Menge Kondelenzkarten- und Briefe ein, welche jedoch die bewußte Franzel selbst in Empfang nahm, da sie sich bis auf den heutigen Tag der besten Gesundheit erfreit. (Zu dieser Zeit starb nämlich in Kuchalb eine andere Frau, mit welcher die Franzel verwechselt wurde.) Nun wurde die scheinbar tote Franzel auch in den Blättern wieder lebendig gemacht unter Anführung des Sprichwortes. „Wer tot gesagt wird lange leben". Diese Auferstehungsnachricht erregte bei den vielen Freunden und Gönnern der Franzel eine solche Freude, daß sie am Pfingstmontag zu Hunderten auf die Kuchalb pilgerten, um eine entsprechende Feier zu veranstalten. Es wurde gezecht, gegessen und getrunken, bis alles aufgezehrt und daß dies nicht wenig war beweist, daß für 6 Mark Wecken, 24 große Laib Brot, viele Hunderte Eier, sämtliche Fleisch- und Wurstwaren, sowie alles Trinkbare aufgebraucht wurde. Dabei zeigte die Auferstandene Franzel ihren Gästen die vielen Trauerbezeigungen und anerkannte diese Ehrung mit den Worten: "Jetzt dös sind amol Sauleut, grobe, lebendig vergrabe tätet se ein!"
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Der anonyme Brief als Mörder.
Wie viel Unheil haben schon die anonyme Briefe
angerichtet. Wieder ist einem solchen tückischen giftigen Briefe eine ehrsame Pariser Jngeneurs- frau zum Ofer gefallen. Der Gatte hatteeinen Brief bekommen, der von der Untreue seiner Frau handelte — ganz zu Unrecht, wie sich später herausstellte —, die arme Frau nahm sich jedoch den Zweifel des Gatten so zu Herzen, daß sie sich zwei Messerstiche ins Herz versetzte und starb.
In Feindesland durch Freudeshand gefallen. Ueber die näheren Umstände, durch die im deutsch-südwestafrikanischen Kriege der Leutnant Guido Haas vom zweiten niederschlesischen Infanterie-Regiment Nr. 47 (Posen) getötet worden ist, gibt die nunmehr erschienene neueste Verlustliste aus Südwestafrika Auskunft. Danach ist Leutnant Haas in Feindesland von Freudeshand gefallen; er wurde infolge Unvorsichtigkeit von einer Ordonnanz erschossen.
Eine gesunde, praktische Gasthaus, reform zur Durchführung zu bringen, hatt der Guttemplerorden als eine seiner Aufgaben von jeher erachtet. Zu den zahlreichen hervorragenden alkoholfreien Restaurants, die er mit seinen Logenhäusern in vielen Orten geschaffen hat, gehört als schönstes das soeben auf dem Moor- ^amp in Hamburg eröffnet« Haus, das als Muster eines Reformgasthauses,und alkoholfreien Hotels angesehen werden kann. Interessant ist die Tatsache, daß die Stadt Hamburg auf dem Grundstücke 40 000 Mark unverzinslich stehen läßt und bei der Eröffnung dieses außerordentlich vornehm eingerichteten Hauses offiziell vertreten war. Das Logenhaus besitzt außer drei großen Sälen, Restaurationsräumen,Kegelbahnen und Fremdenzimmern eine eigene Bäckerei und Konditorei.
Briefkasten.
N. E. in B. Auf Ihre Anfrage erwidern wir Ihnen, daß als zweckmäßigstes Antiseptikum für den Gebrauch im Hause u. E. nur Lyoform in Frage kommen kann; ungefährlich im Gebrauch, selbst bei versehentlich falscher Verwendung eine Vergiftung fast ausschließend, erfreut sich das angenehm riechende Lysoform heute vielseitigster Verwendung seitens der Aerztewelt.
Finstere Mächte.
Novelle von Conrad vom Walde.
3) Nachdruck verboten.
„Pst'" machte Borikow, „die Wände haben Ohren!"
„Ah bah", lachte der General, „Herr Engelbrecht? Der ist treu, Borikow; ich verstehe mich auf Gesichter."
Wladimir fühlte sich tief beschämt. Sann er nicht auf die Vernichtung des Hausherrn?
Borikow ging bis zur Tischzeit in die Bibliothek und gab Wladimir einen geheimen Wink. Langsam folgte er dem angeblichen Baron.
„Bruderherz", flüsterte dieser, „seit unserm gemeinschaftlichen Aufenthalt in Kursk auf der Schule hast Du Dich sehr vervollkommnet. Schickte Dich der Ausschuß hierher?"
„Nein, mir war's um einen stillen Aufenthalt zu tun."
„Verstehe. Nun, Sulkowsky ist für uns halb gewonnen. Hüte Dich vor dem Fräulein, es leitet des Vaters Gesinnungen in das entgegengesetzte Fahrwasser. Bleibe nur der Rolle getreu: wir kennen uns nicht. Fällt etwas Besonderes vor, so unterrichte ich Dich!"
Er ging eilig; Wladimir aber ergriff mechanisch einen Band Shakespeares und sammelte seine Gedanken. Borikow war Nihilist und suchte den General ebenfalls für diese Partei zu gewinnen.
Gedankenvoll begab er sich in sein Zimmer, wo der Diener ihn zur Tafel lud.
Seitdem ich Dich gesehen,
Geh sinnend ich umher WaS ist mit mir geschehen?
Ich kenne mich nicht mehr!
Bei Tisch hatte der General so ziemlich seine Haltung wiedergewonnen. Er ließ jedoch Nadine meistens die Kosten der Unterhaltung tragen. Wladimir hörte ihr voll Erstaunen zu. Er bemerkte sofort, daß er in Bezug auf den spöttischen Borikow sich nicht geirrt, daß dieser
ein Materialist sei, und daß das kluge Fräulein trotz seiner gewandten Redefertigkeit seinen Einfluß auf den Vater abschwächte. Ihm zitterte das Herz bei diesem Bemühen des Mädchens, das äußerlich dabei so kalt schien, als wenn der Gegenstand es gar nicht begeistern könne. Gegen Wladimir blieb sie, wie von Anfang an, höflich, aber ebenfalls kalt. Und doch glaubte der stille Beobachter, daß unter dieser Schneedecke vulkanische Gewalten schlummerten und daß der Mann sich glücklich schätzen müsse, auf welchen die Liebe dieses Weibes falle. Den Kaffee nahmen sie noch gemeinschaftlich, dann setzte sich Borikow mit dem General zu einem Spielchen nieder, Nadine, aber sagte zu Wladimir: „Wenn es Ihnen beliebt, Herr Sekretär, so treten wir in die Bibliothek."
„Wie Sie befehlen."
Sie schritt voran und eilte sofort nach der Abteilung für Sprachen, zog einen Band Shakespeares heraus, deutete auf einen bequemen Armstuhl, zog sich selbst einen Sessel an den nächsten Tisch und sagte: „Die Bibliothek ist sehr in Unordnung; wir werden Ihnen dankbar sein, wenn Sie dieselbe ordnen."
„Es wird geschehen."
„Hier ist der Kaufmann von Venedig. Ich kenne den Inhalt durch Uebersetzung; es ist vieles darin wahrheitsgemäß geschildert, aber die grenzenlose Rachsucht des Shylock finde ich doch unnatürlich."
„Es gibt solche Naturen," erwiderte Wladimir.
„Die bedaure ich. Kann eine geläuterte Seele so vom Sturm erregt werden?"
Wladimir zuckte die Achseln. Hätte er ihr zugestimmt, er hätte sich selbst gerichtet, denn wandelte er nicht auf einem Pfade, der fast zu gleichem Ziele hinstrebte? Tief erregt, doch scheinbar ruhig sagte er: „Gnädiges Fräulein, ich will Ihnen wünschen, daß niemals ein Ereignis Ihr Leben durchkreuzt, welches Sie in
dieser Art aus dem seelischen Gleichgewicht heben könnte."
„Sie sah ihn groß an, erwiderte aber nichts, sondern ließ sich verschiedene schwere Stellen erklären.
„Ich werde den Band für mich lesen", sagte sie, „und Sie später noch einmal bemühe». — Holten Sie mir wohl Racines Athalie?"
„Gewiß, gern."
Er legte den Band vor ihr nieder.
„Sie dürfen mich nicht schelten," fuhr sie nun fort, „wenn Ihnen meine Frage seltsam klingt: Was halten Sie von Ludwig XlV., dem fürstlichen Mäcen des goldenen Jahrhunderts der französischen Litteratur?"
Wladimir entgegnete: „Schelten? Warum? Klarheit ist das Erste, worauf unser Geist Anspruch machen darf. — Ludwig war zu sehr Selbstler und Eigenherrscher, um wahrhaft groß sein zu können."
Sie nickte lebhaft.
„Groß," fuhr er fort, „wird der Mensch erst durch die Unterwerfung unter das Gesetz der Moral."
»Ja, ja, so ist's. Demnach müßte seine Zeit viel mit — Rußlands Gegenwart gemein gehabt haben."
„Allerdings!"
Sie schien sich Gewalt anzutun, als sie entgegnete: „Auch diesen Band werde ich erst lesen, ehe ich Sie damit belästige. Ich danke Ihnen."
Er war entlassen und ging sinnend auf sein Zimmer. Dieses Weib war so entzückend und doch kalt wie Eis. — War Nadine hochmütig?
Er nahm den Malkasten und die zusammenlegbare Staffelei zur Hand und begann den edeln Kopf Nadines als Aquarell zu malen. Ein sonderbares Gefühl überkam ihn. Et hätte sie am liebsten umschlingen und küssen mögen. Wie? die Tochter seines Todfeindes?
(Fortsetzung folgt.)
Druck und Verlag der Beruh. Hosmann'schen Buchdruckerei in Wiltbrd Für die Redaktion verantwortlich: E. Reinhaidt daselbst,