Amtsblatt
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Saison: Amtliche Fremdenlifle.
Nr. 4- I
Donnerstag, den 10. Januar 1907.
43 Jahrgang.
Stuttgart, 6. Januar. Unter Hinterlassung von ca. 100000 Mark gefälschten Wechseln, die auf bessere Firmen lauteten, hat gestern der Mitinhaber einer hiesigen Engroshandlung das Weite gesucht.
— Auf denjenigen Strecken, aus denen die Bahnsteigsperre eingefühct ist, kommt es vielfach vor, daß Reisende in der Meinung, daß infolge der Bahnsteigsperre in den Zügen selbst keine Kontrolle mehr stattfinde, mit Fahrkarten 4. Klasse in der 3. Klasse Platz nehmen, oder mit Fahrkarten 3. Klasse sich in die 2. Wagenklasse begeben. Es erscheint demgegenüber angebracht, das reisende Publikum darauf aufmerksam zu machen, daß jeder Reisende, der mit einer Fahrkarte für eine niedere Wagenklasse in einer höheren Wagenklasse angetroffen wird, die übliche Strafe von im Mindestsatz 6 Mk. zu zahlen hat, die festgesetzt ist für den Fall, daß ein Reisender nicht im Besitz einer giltigen Fahrkarte ist. Das Platznehmen in einer höheren Wazenklasse ist nur bei Ueber- füllung derjenigen Klassen, für die man die Fahrkarte gelöst hat und bei ausdrücklicher Genehmigung des Zugführers gestattet. Nach der Einführung der Bahnsteigsperre und der 4. Wagenklasse wurden die einschlägigen Bestimmungen zunächst etwas nachsichtig gehand- habt, sie sollen aber nunmehr wiederum voll zur Anwendung gelangen.
Sindelfingen OA. Böblingen, K. Jan. Die bürgerlichen Kollegien beschlossen die Einstellung des Automobiloerkehrs zwischen Sindelfingen und Bahnhof Böblingen nach einjährigem Betrieb auf 1. April 1907, wegeu zu großer Belastung des städtischen Etats, nachdem die Stadtgemeinde im Jahre 1906 aus eigenen Mitteln 7000 bis 8000 Mark zulegen mußte.
Leonberg. 9. Jan. Dem „Leonberger Tagblatt" zufolge hat Rechtsanwalt Roth die ihm von den Konservativen und dem Bund der Landwirte angetragene Kandidatur für den 4. Reichstagswahlkreis angenommen. Es kandidieren also Leo für die Demokratie. Sperka für die Sozialdemokratie und Roth für die Konservativen.
Calw, 9. Jan. Eine Abordnung aus Freudenstadt unter Führung des Landtagsabgeordn. Schmid von Freudenstadt hat im Auftrag des Volksvereins des 8. württ. Reichstagswahlkreises dem Fabrikanten und Gemeinderat Hermann Wagner hier eine Kandidatur angetragen. Wagner hat seine Zusage heute gegeben.
Aus Calw, 6. Januar, schreibt man dem N. T.: In Beziehung auf die Reichstagswahl herrscht bei der Deutschen Partei hier die Ansicht, daß der 7. württ. ReichstagSwahlkreis von dem Abkommen zwischen Deutscher Partei und Volkspartei nicht berührt werde, daß vielmehr die Deutsche Partei freie Hand habe. Soviel wir hören, ist infolge der Vorgänge bei der Laudtugswahl eine direkte Unterstützung der Volkspartei ausgeschlossen, es wird sich nur darum handeln, daß die Deutsche Partei ihren Mitgliedern die Stimmabgabe freigibt; jedenfalls wird sie keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Bauernbuud und Konservative wer
den nunmehr bestimmt den Oekonomierat Adlung vom Sindlinger Hof aus den Schild erheben. —
Baden-Baden, 7, Januar. Die gestern hier eingetroffene Nachricht, daß sich Rechtsanwalt Hau auf dem Transport von London nach Hamburg erhängt habe, hat sich, wie schon mitgeteilt, nicht bestätigt. Die „Bad. Volksztg." glaubt, das Gerücht habe seinen Ursprung darin, daß bei einer hiesigen Familie, die mit Frau Molitor verwandt ist, aus Metz ein Telegramm eintraf, daß Hau sich auf dem Transport von London nach Hamburg erhängt habe, und daß deshalb die badischen Transportbeamten von der Reise dorthin abgehalten werden möchten. Es scheine mit diesem Telegramm eine absichtliche Täuschung der Polizei geplant gewesen zu sein zu dem offenbaren Zweck, Hau in Hamburg zur Flucht zu verhelfen. Es frage sich sogar, ob nicht etwa gar ein Geniestreich geplant war in dem Sinn, daß „falsche" badische Polizeibeamte den Hau in Hamburg in Empfang nehmen sollten, während die „echten" in Baden-Baden zurückgehalten wurden. Der Coup sei aber mißlungen, denn die badischen Transporteure fuhren trotz der AbhaltnngS- depesche, deren Aufgeber bisher unbekannt ist, nach Hamburg ab. Polizeikommissär Ziegler ist gestern in Begleitung des Kriminalwachtmeisters Behringer und des Polizeisergeanten Schuhmacher nach Hamburg gereist, um Hau in Empfang zu nehmen und nach Karlsruhe zu verbringen, wo er am Dienstag vormittag eintreffen wird.
Karlsruhe, 9. Januar. Rechtsanwalt Hau, welcher dringend verdächtig ist, seine Schwiegermutter, Frau Molitor, in Baden- Baden ermordet zu haben, ist gestern abend 10 Uhr 29 Minuten hier eingebracht und mittels Droschke in das Amtsgefängnis II eingeliefert worden. Hau, eine lange, hagere Gestalt, schritt mit gesenktem Blick zwischen seinen polizeilichen Begleitern vom Bahnhofperron zur Droschke. Er sieht sehr angegriffen aus.
Berlin, 5. Januar. Der Kaiser hat sechs preußische Offiziere auf seine Kosten eine Reise nach Amerika machen lassen, um ihnen Gelegenheit zu geben, Land und Leute zu studieren.
Berlin, 8. Jan. In dem alten Wahlkreise Windthorsts, Lingen-Meppen, ist, wie dem Tageblatt gemeldet wird, vom Reichsverein der stellvertretende Kolonialdirektor Dernburg als Kandidat für den Reichstag aufgestellt worden.
Berlin, 5. Januar. Der Reichskanzler Fürst Bülow hat an den Vorstand des Reichs- Verbandes gegen die Sozialdemokratie, zu Händen des Generalleutnants von Siebert ein Schreiben gerichtet, worin es u. a. heißt: Die parlamentarische Lage, die ich bei meinem Amtsantritt vorfand, war nicht wesentlich verschieden von der im letzten Reichstage. Eine andere Möglichkeit, als mit dem Zentrum die Geschäfte zu erledigen, gab es, namentlich seit den Wahlen von 1903 nicht. Der Reichskanzler war auf die Mitarbeit dieser Partei angewiesen und mußte versuchen ihre Zustimmung zu den im Interesse des Landes nötigen wirtschaftliche» Vorlagen zu erlangen. Daß er dem Zentrum
zuliebe staatliche Hoheitsrechte preisgegeben oder sich in religiösen und kulturellen Fragen preisgegeben habe, bestreite ich. Ich habe diesen Zustand der Abhängigkeit der parlamentarischen Ergebnisse von dem guten Willen einer Partei in dem vielgestalteten deutschen Parteigetriebe immer als nicht unbedenklich gefunden. Es zu ändern hatte ich solange keinen Grund, als das Zentrum sich bereit zeigte, mit den verbündeten Regierungen positive Arbeit zu leisten und der Versuchung seine parlamentarische Stärke zu mißbrauchen nicht nachgab. Aber bereits im Frühjahr des abgelaufenen Jahres wurden drei dringende notwendige Forderungen, die Eisenbahn Ketmannshop, die Entschädigung der Farmer und die Errichtung eines Kolonialamtes durch eine vom Zentrum und Sozialdemokratie geführte Oppositions- Mehrheit verworfen. Damals konnte ich von schwerer Krankheit noch nicht erholt, nicht ein- greifen. Aber es reifte in mir der Entschluß, jedem neuen Versuch solcher Machtproben bei ernsten und wichtigen Angelegenheiten des Reiches mit voller Kraft entgegenzutreten. Neben der notwendigen Wahrung der Autorität der Regierung und ihrer Stellung über den Parteien schien mir auch ein gewisser Wanvel in den doktrinären Anschauungen der Vertreter des liberalen Bürgertums und der steigende Widerstand gegen das sozialdemokratische Treiben die Hoffnung zu rechtfertigen, daß eine Aenderung der parlamentarischen Lage durch das deutsche Volk selbst möglich sei. Ich arbeite mit jeder Partei, welche die großen nationalen Gesichtspunkte achtet. Wo diese Gesichtspunkte mißachtet werden, hört die Freundschaft auf. Niemand in Deutschland will ein persönliches Regiment, die große Mehrheit des deutschen Volkes will aber erst recht kein Parteiregiment. Mögen die Verhältnisse in den einzelnen Wahlkreisen noch so große Verschiedenheiten aufweisen: die Parteien, die am 13. Dezember auf der Seite der Regierung standen, werden von vornherein das iin Auge zu behalten haben, was sie einigt im Kampf für Ehr und Gut der Nation gegen Sozialdemokraten, Polen, Welfen und Zentrum. Ich stelle die Sozialdemokraten voran, weil jede Niederlage der Sozialdemokratie eine Warnung für ihren blinden Uebermut, eine Stärkung des Vertrauens in den ruhigen Fortschritt unserer inneren Entwickelung und eine Befestigung unserer Stellung nach außen wäre und weil dadurch zugleich die Möglichkeit erschwert würde, daß eine bürgerliche Partei mit Hilfe der sozialdemokratischen eine dominierende Stellung gegen die andern bürgerlichen Parteien einnimmt.
— Au die natisnalliberale Jugend richtet Ernst Bassermann in den „Jungliberalen Blättern" den folgenden Aufruf: „Zum ernsten Waffengang fft das deutsche Volk berufen. Der Kampf um ein anderes Gesicht des Reichstages hat begonnen, und in dem Ringen, das nun anhebt, wird uns der Sieg nur beschieden sein, wenn wir unsere ganze Kraft einsetzen. Uebc- rall schließen die alten, im Kampfe ergrauten Streiter die Reihen, nochmals schwellt die Hoffnung die Brust, daß es wieder Frühling werden möge, wie einst in den Zeiten nach Grün-